Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 27.03.2020, Az.: 15 B 1968/20

Allgemeinverfügung; Corona; COVID-19; Infektionsschutz; Interessenabwägung; SARS-CoV-2; Versammlungsfreiheit

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
27.03.2020
Aktenzeichen
15 B 1968/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71665
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei offenen Erfolgsaussichten der Klage überwiegt im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung das Schutzgut der menschlichen Gesundheit und des Lebens gegenüber der Versammlungsfreiheit.

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Der Antragsteller bleibt mit seinem sinngemäß gestellten Antrag,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage (15 A 1967/20) anzuordnen,

mit der er beantragt,

die infektionsschutzrechtliche Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 23. März 2020 aufzuheben, soweit darin Zusammenkünfte und Ansammlungen im öffentlichen Raum auf höchstens zwei Personen beschränkt werden,

ohne Erfolg. Der Antrag ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO zulässig, aber unbegründet.

Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO i.V.m § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kann das Gericht in dem vorliegenden Fall des nach § 28 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise anordnen. Die gerichtliche Entscheidung ergeht dabei auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Aufschubinteresse des Antragstellers einerseits und das öffentliche Interesse an der Vollziehung des streitbefangenen Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte, wenn aufgrund der gebotenen summarischen Prüfung Erfolg oder Misserfolg des Rechtsbehelfs offensichtlich erscheinen. Lässt sich bei der summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides ohne weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen, weil an einer sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich nach der genannten Überprüfung der angefochtene Bescheid als offensichtlich rechtmäßig, so führt dies in Fällen des gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges regelmäßig dazu, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen ist.

Lässt sich nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Überprüfung weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, so ergeht die Entscheidung aufgrund einer weiteren Interessenabwägung, in der zum einen die Auswirkungen in Bezug auf das öffentliche Interesse in dem Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren indes erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall der Ablehnung eines Antrags und des erfolgreichen Rechtsbehelfs in der Hauptsache gegenüberzustellen sind. Bei dieser Interessenabwägung ist jeweils die Richtigkeit des Vorbringens desjenigen als wahr zu unterstellen, dessen Position gerade betrachtet wird, soweit das jeweilige Vorbringen ausreichend substantiiert und die Unrichtigkeit nicht ohne weiteres erkennbar ist (vgl. Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 22. März 2020 – 1 B 17/20 –, juris m.w.N.).

Die Kammer kann vorliegend in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit der ergangenen Allgemeinverfügung im Hinblick auf die Beschränkung von Zusammenkünften und Ansammlungen im öffentlichen Raum auf höchstens zwei Personen (Nr. 2 Buchst. b) Satz 2 der Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 23. März 2020 – ) feststellen.

Die Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 23. März 2020 enthält durch die Beschränkung von Zusammenkünften auf zwei Personen faktisch ein Versammlungsverbot, das der von dem Antragsteller für den 28. März 2020 angekündigten Versammlung unter dem Motto „Gegen das totale Versammlungsverbot unter dem Deckmantel der Epidemiebekämpfung“ entgegensteht.

Die Allgemeinverfügung könnte ihre Rechtsgrundlage jedenfalls in § 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 IfSG in der Fassung vom 10.2.2020 finden. Danach trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, die notwendigen Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde insbesondere Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten (§ 28 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 IfSG). Es handelt sich bei § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG somit um eine Generalklausel, welche die zuständigen Behörden zum Handeln verpflichtet (sog. gebundene Entscheidung). Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen ist der Behörde ein Ermessen eingeräumt; zu den möglichen Maßnahmen gehören nach Satz 2 der Norm ausdrücklich auch die Beschränkung bzw. das Verbot größerer Ansammlungen von Personen. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um "notwendige Schutzmaßnahmen" handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-) Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt.

Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der verfügten Beschränkungen ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§ 1 Abs. 1, § 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Es erscheint sachgerecht, einen am Gefährdungsgrad der jeweiligen Erkrankung orientierten, "flexiblen" Maßstab für die hinreichende (einfache) Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (VG Bayreuth, Beschluss vom 11.3.2020 – B 7 S 20.223 –, juris, Rn. 44 - 45; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 22.3.2020 – 1 B 17/20 –, juris, Rn. 5 f.). Sind Schutzmaßnahmen erforderlich, so können diese grundsätzlich nicht nur gegen die in Satz 1 genannten Personen, also gegen Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider getroffen werden, sondern – soweit erforderlich – auch gegenüber anderen Personen (vgl. Bales/Baumann/Schnitzler, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 2. Aufl. § 28 Rn. 3).

Es bestehen keine Zweifel daran, dass es sich bei der Erkrankung COVID-19 um eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG handelt, so dass der Anwendungsbereich des 5. Abschnitts des Infektionsschutzgesetzes, der sich mit der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten befasst, eröffnet ist (vgl. hierzu die Auskünfte des RKI, u.a. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/nCoV.html?cms_box=1&cms_current=COVID-19+%28Coronavirus+SARS-CoV-2%29&cms_lv2=13490882, zuletzt abgerufen am 27.3.2020). Wenn für bestimmte Krankheiten wie Masern oder Lungenpest spezielle Vorschriften in das Infektionsschutzgesetz aufgenommen wurden, so bedeutet das keineswegs, dass eine neuartige bzw. neuerdings auf den Menschen übergegangene Infektionskrankheit von dem bereits im Wortlaut notwendigerweise weit weitgefassten Anwendungsbereich des Gesetzes ausgeschlossen wäre (VG Bayreuth, Beschluss vom 11. März 2020 – B 7 S 20.223 –, Rn. 48, juris; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 22.3.2020 – 1 B 17/20 –, juris, Rn. 7 f.).

Da im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners bereits eine Vielzahl an unter COVID-19 erkrankten Personen festgestellt wurde und mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sich unerkannt eine hohe Dunkelziffer an weiteren Personen infiziert hat, geht die Kammer davon aus, dass die Voraussetzungen der Eingriffsermächtigung voraussichtlich als erfüllt anzusehen sind und der Antragsgegner zum Handeln verpflichtet gewesen ist („trifft … die notwendigen Schutzmaßnahmen“). Ob der Antragsgegner das ihm hinsichtlich der Art und des Umfangs der Maßnahmen eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat, indem er im Rahmen der hier streitgegenständlichen Allgemeinverfügung Zusammenkünfte und Ansammlungen im öffentlichen Raum auf höchstens zwei Personen beschränkt und damit Versammlungen zunächst bis zum 18. April 2020 ausgeschlossen hat, muss im vorliegenden Verfahren um vorläufigen Rechtsschutz hingegen offenbleiben. Eine abschließende Prüfung der dadurch aufgeworfenen Rechtsfragen ist der Kammer in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Es spricht aber Überwiegendes dafür, dass der Anwendungsbereich der Vorschrift im Einzelfall – soweit notwendig – auch die Beschränkung von Zusammenkünften und Ansammlungen im öffentlichen Raum auf höchstens zwei Personen umfassen kann, um das Ausmaß der Folgen einer Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 zu begrenzen, auch wenn damit erheblich in die Rechte der betroffenen Bürger – insbesondere die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG – eingegriffen wird. Die starke Zunahme der Fallzahlen innerhalb weniger Tage und die daraus resultierende hohe Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung machen eine Unterbrechung der Infektionsketten dringend erforderlich. Insoweit erscheint es auch aus Sicht der Kammer als erforderlich und angemessen, Menschenansammlungen so weit wie möglich auszuschließen.

Die Ausführungen des Antragstellers führen voraussichtlich zu keinem anderen Ergebnis. Soweit er zur Begründung seines Antrags auf die Ausführungen der Juristin Anika Klafki aus ihrem Beitrag vom 18. März 2020 „Ausgangssperre bald auch in Deutschland?“ verweist, ist darauf hinzuweisen, dass sich deren Ausarbeitung mit der einschlägigen Rechtsgrundlage für eine Ausgangssperre befasst. Eine solche hat der Antragsgegner jedoch mit seiner im Streit stehenden Allgemeinverfügung vom 23. März 2020 nicht erlassen und ist auch nicht Gegenstand der hier vorzunehmenden Prüfung.

Soweit der Antragsteller – zutreffend – darauf aufmerksam macht, dass die Versammlungsfreiheit durch die Allgemeinverfügungen einiger anderer Bundesländer nicht oder nur in geringerem Umfang eingeschränkt wird, als es die Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 23. März 2020 tut, führt dies für sich genommen nicht zu der Annahme von Ermessensfehlern des Antragsgegners. Diesem steht nach Auffassung der Kammer ein weiter Ermessensspielraum bei der Ergreifung der notwendigen Maßnahmen zu, um die erheblichen Gefahren für Leib und Leben der Bevölkerung zu reduzieren, der durch die Maßnahmen anderer Behörden nicht berührt wird.

Gleichwohl ist es der Kammer in der Kürze der Zeit nicht möglich, eine abschließende Prüfung vorzunehmen; dies gilt insbesondere im Hinblick auf die von dem Antragsteller und auch anderen Gerichten aufgeworfenen Fragen, ob der Antragsgegner statt einer Allgemeinverfügung eine Rechtsverordnung hätte erlassen müssen, ob die Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 IfSG auch für Maßnahmen herangezogen werden kann werden, die für mindestens einen Monat andauern und ob möglicherweise eine mildere Maßnahme ebenso wirksam gewesen wäre. Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der Allgemeinverfügung scheidet jedoch erkennbar aus. Demnach sind in einer weitergehenden Interessenabwägung die Folgen gegenüberzustellen, die im Hinblick auf das öffentliche Interesse in dem Fall einträten, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren indes erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall der Ablehnung seines Antrags.

Gemessen an diesen Maßstäben überwiegt im vorliegenden Fall das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung der sich aus der Allgemeinverfügung ergebenden Beschränkungen.

Eine Aussetzung der angegriffenen Allgemeinverfügung würde durch die sehr wahrscheinliche weitere Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer schwerwiegenden und nicht wieder rückgängig zu machenden, möglicherweise lebensgefährdenden Schädigung der menschlichen Gesundheit führen. Neben dem Schutz von Gesundheit und Leben der Bevölkerung ist auch die Sicherung medizinischer Kapazitäten ein öffentlicher Belang von erheblichem Gewicht. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass derzeit weder in ausreichendem Maß die in absehbarer Zeit notwendig werdenden Intensivbetten noch das ausreichende Pflegepersonal noch die erforderliche Schutzausrüstung flächendeckend zur Verfügung stehen. Die Sicherung der Leistungskapazität medizinischer Versorgung hängt mithin davon ab, dass die Verbreitung des Virus bestmöglich verlangsamt wird. Dies könnte im Falle eine Aussetzung der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung voraussichtlich nicht gewährleistet werden.

Bleibt die Allgemeinverfügung dagegen sofort vollziehbar, wird der Antragsteller in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG beschränkt, da diese die von ihm angekündigte Versammlung unter dem Motto „Gegen das totale Versammlungsverbot unter dem Deckmantel der Epidemiebekämpfung“ verbietet. Die Kammer berücksichtigt hierbei insbesondere, dass der Antragsteller bei der Versammlung mit einer verhältnismäßig geringen Teilnehmerzahl rechnet (zwischen fünf und fünfzehn) und hierbei ein Mindestabstand von zwei bis drei Metern zwischen den Beteiligten gewahrt werden soll. Zwar dürfte die Ansteckungsgefahr in diesem Fall als geringer anzusehen sein, als bei Versammlungen mit deutlich mehr und dicht gedrängteren Teilnehmern. Da aber auch bei derartigen Zusammentreffen eine weitere Verbreitung der Erkrankung COVID-19 soweit ersichtlich nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann und eine Aussetzung der Allgemeinverfügung nicht nur die Versammlung des Antragstellers ermöglichen, sondern alle diesbezüglich am 23. März 2020 getroffenen Maßnahmen des Antragsgegners bis auf weiteres außer Kraft setzen würde, muss das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der Allgemeinverfügung überwiegen. Das überragende Schutzgut der menschlichen Gesundheit und des Lebens ist gegenüber der temporären Aussetzung des Versammlungsrechts des Antragstellers ohne Zweifel als höherrangig einzustufen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Von einer Reduzierung des Betrags im Eilverfahren (vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs der Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NordÖR 2014, 11)) ist abzusehen, weil aufgrund der begehrten Vorwegnahme der Hauptsache die Bedeutung des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens dem Hauptsacheverfahren entspricht.