Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 05.03.2020, Az.: 12 A 1921/18
Asylantragsstellung; Erfolgloses Asylverfahren; maßgeblicher Zeitpunkt; sicherer Drittstaat; Zuständigkeitsübergang; Zweitantrag
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 05.03.2020
- Aktenzeichen
- 12 A 1921/18
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2020, 71996
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs 1 Nr 5 AsylVfG 1992
- § 71a Abs 1 AsylVfG 1992
- § 77 Abs 1 AsylVfG 1992
- Art 18 Abs 1 Buchst d EUV 604/2013
- Art 18 Abs 2 EUV 604/2013
- Art 29 EUV 604/2013
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Ablehnung eines Asylantrags als unzulässiger Zweitantrag ist rechtswidrig, wenn die Ablehnung des Asylantrags im sicheren Drittstaat weder im Zeitpunkt der Asylantragsstellung in Deutschland noch im Zeitpunkt des Übergangs der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf die Bundesrepublik Deutschland unanfechtbar gewesen ist. Entgegen der Auffassung des Bundesamtes reicht es für die Annahme eines Zweitantrags nicht aus, dass das Asylverfahren im sicheren Drittstaat zu einem späteren Zeitpunkt endgültig erfolglos abgeschlossen worden ist.
Die Entscheidung ist durch Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 24.04.2020, Az. 12 A 1921/18, berichtigt worden.
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 1. März 2018 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand:
Der Kläger, ein aus dem Distrikt Sindjar stammender irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und yezidischer Glaubenszugehörigkeit, reiste am 28. Februar 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 9. März 2017 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.
Im Rahmen seiner Ermittlungen stellte das Bundesamt fest, dass der Kläger bereits in Norwegen einen Asylantrag gestellt hatte. Die norwegischen Behörden teilten mit Schreiben vom 28. März 2017 auf das Übernahmeersuchen des Bundesamtes mit, dass der Kläger am 18. September 2015 in Norwegen einen Asylantrag gestellt habe und die Überstellung des Klägers nach Norwegen akzeptiert werde.
Mit Bescheid vom 28. März 2017 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers unter Verweis auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Norwegen an.
Nachdem eine Überstellung des Klägers innerhalb der folgenden sechs Monate nicht durchgeführt werden konnte, hob die Beklagte am 29. September 2017 den Bescheid vom 28. März 2017 wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf und kündigte eine Entscheidung im nationalen Verfahren an.
Auf eine weitere Anfrage der Beklagten teilten die norwegischen Behörden mit, dass der Kläger am 12. März 2016 angehört worden sei und sein Asylantrag mit Bescheid vom 28. Januar 2017 abgelehnt worden sei. Am 4. Februar 2017 sei der Kläger untergetaucht („absconded“). Der „Norwegian Court of Appeal of Immigration“ habe die negative Entscheidung über den Asylantrag am 18. Oktober 2017 bestätigt.
Mit Bescheid vom 1. März 2018 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers als unzulässig ab, stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, forderte ihn zur Ausreise innerhalb von einer Woche auf, drohte ihm für den Fall der nicht rechtzeitigen Ausreise die Abschiebung in den Irak an und befristete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen an, dass von einem Zweitantrag auszugehen sei. Das Vorbringen des Klägers, insbesondere die geltend gemachte Furcht vor Verfolgung durch den IS, erfülle nicht die Anforderungen an das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG.
Der Kläger hat am 9. März 2018 Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Er trägt vor, er leide an einer psychischen Erkrankung, so dass ihm Abschiebungsschutz zu gewähren sei. Im Übrigen sei sein Asylverfahren in Norwegen erst im Oktober 2017 endgültig abgeschlossen worden, so dass kein Zweitantrag vorliege. Das Gericht hat mit Beschluss vom 14. Mai 2018 (Az.: 12 B 1922/18) die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 1. März 2018 aufzuheben,
hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, das Asylverfahren fortzuführen,
weiter hilfsweise, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
weiter hilfsweise, ihm subsidiären Schutz zu gewähren,
weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf ihren Bescheid,
die Klage abzuweisen.
Die Kammer hat den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der nach § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung berufene Einzelrichter entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klage hat mit dem Hauptantrag Erfolg.
Sie ist als Anfechtungsklage zulässig. Die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bei Zweitanträgen, die als Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ergeht, ist mit der Anfechtungsklage anzugreifen (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4/16 –, juris Rn. 14).
Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1, Hs. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Rechtsgrundlage der Unzulässigkeitsentscheidung des Bescheides vom 1. März 2018 sind die § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a Abs. 1 AsylG. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Nach § 71a Abs. 1 AsylG ist nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Fall eines Asylantrags im Bundesgebiet (Zweitantrag) ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG (Wiederaufgreifen des Verfahrens) vorliegen.
Ein erfolgloser Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist. Eine Einstellung ist nicht in diesem Sinne endgültig, wenn das (Erst-)Verfahren noch wiedereröffnet werden kann, was nach der Rechtslage des Staates zu beurteilen ist, in dem das Asylverfahren durchgeführt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4.16 -, juris Rn. 29).
Die Voraussetzungen für die Behandlung des Asylantrags des Klägers als Zweitantrag im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG liegen nicht vor. Zwar ist Norwegen in der Anlage I zu § 26a AsylG genannt und damit sicherer Drittstaat (§ 26a Abs. 2 AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten. Die die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren regelnde Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 31, sog. Dublin III-Verordnung) gilt auch für Norwegen. Dies soll sich aus dem Übereinkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft, der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Kriterien und Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat, in Island oder in Norwegen gestellten Asylantrags vom 19. Januar 2001 (ABl. L 93, S. 40), und/oder dem Protokoll zu diesem Übereinkommen und/oder entsprechenden Notifikationserklärungen ergeben und ist gelebte Verwaltungspraxis (vgl. VG Minden, Beschluss vom 9. Juli 2019 – 10 L 431/19.A –, juris Rn. 14-22 mit zahlreichen Nachweisen). Das Asylverfahren des Klägers in Norwegen ist auch seit dem 18. Oktober 2017 endgültig erfolglos abgeschlossen.
Ein erfolgloser Verfahrensabschluss – hier eine unanfechtbare Ablehnung des Asylantrags – lag allerdings zu dem insoweit für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt nicht vor.
Nach dem Wortlaut des § 71a Abs. 1 AsylG liegt ein Zweitantrag lediglich dann vor, wenn der Ausländer seinen Asylantrag im Bundesgebiet nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26 AsylG) gestellt hat. Danach müsste das Asylverfahren im sicheren Drittstaat bereits im Zeitpunkt der Asylantragsstellung in Deutschland endgültig abgeschlossen sein (so VG Regensburg, Urteil vom 9. April 2019 – RN 13 K 18.31580 –, juris Rn. 31, und Urteil vom 8. August 2018 – RN 12 K 18.31824 –, juris Rn. 21; VG Augsburg, Beschluss vom 9. Juli 2018 – Au 4 S 18.31170 –, juris Rn. 10, und Beschluss vom 23. Mai 2018 – Au 3 S 18.30682 –, juris Rn. 32; VG Hamburg, Beschluss vom 20. Juli 2018 – 8 AE 3383/18 –, juris Rn. 10; VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 13. Juli 2017 – 6 L 665/17.A –, juris Rn. 6; VG Cottbus, Beschluss vom 19. Mai 2017 – 1 L 680/16.A –, juris Rn. 9-10, und Beschluss vom 16. September 2016 – 1 L 326/14.A –, juris Rn. 7; VG Potsdam, Urteil vom 9. Dezember 2015 – VG 6 K 2153/14.A –, juris Rn. 18; in diese Richtung auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Januar 2015 – A 11 S 2508/14 –, juris Rn. 8; offen gelassen von VG Hannover, Urteil vom 5. Februar 2018 – 11 A 11248/17 –, juris Rn. 19-22).
Der Kläger hat seinen Asylantrag in Deutschland am 9. März 2017 gestellt und damit zu einem Zeitpunkt, als sein Asylantrag in Norwegen unstreitig noch nicht unanfechtbar abgelehnt worden war.
Nach einer ebenfalls stark vertretenen Ansicht ist dagegen nicht auf den Zeitpunkt der Asylantragsstellung in Deutschland, sondern auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland abzustellen (vgl. VG Gera, Urteil vom 23. Juli 2019 – 4 K 2212/18 Ge – UA S. 5 ff.; VG Hannover, Beschluss vom 7. Februar 2019 – 3 B 217/19 –, juris Rn. 29-33; Schleswig-Holsteinisches VG, Beschluss vom 27. November 2017 – 1 B 190/17 –, juris Rn. 31-38; VG Augsburg, Beschluss vom 1. März 2017 – Au 2 S 17.30752 –, juris Rn. 33; vgl. auch VG Magdeburg, Beschluss vom 24. Juli 2019 – 2 B 219/19 –, juris Rn. 24-26; in diese Richtung auch Bay. VGH, Urteil vom 3. Dezember 2015 – 13a B 15.50069 –, juris Rn. 25; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. April 2015 – A 11 S 121/15 –, juris Rn. 36).
Auch wenn man dem folgte, wäre der Anwendungsbereich des § 71a AsylG nicht eröffnet. Denn das Asylverfahren des Klägers in Norwegen ist auch zu dem Zeitpunkt, in dem die Bundesrepublik Deutschland anstelle Norwegens für das Asylverfahren des Klägers zuständig geworden ist, (noch) nicht erfolglos abgeschlossen gewesen.
Die Beklagte ist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO bereits am 29. September 2017 für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig geworden. Nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über und ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet, wenn die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durchgeführt wird. Vorliegend begann die sechsmonatige Überstellungsfrist mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch die norwegischen Behörden am 28. März 2017 und endete somit am 28. September 2017.
Zu diesem Zeitpunkt ist das Asylverfahren des Klägers in Norwegen ebenfalls unstreitig noch nicht endgültig abgeschlossen gewesen.
Angesichts dessen kann das Gericht offenlassen, welcher dieser beiden Ansichten es folgt, wobei für beide Auffassungen beachtliche Argumente sprechen (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 9. April 2019 – RN 13 K 18.31580 –, juris Rn. 31 einerseits, und VG Hannover, Beschluss vom 7. Februar 2019 – 3 B 217/19 –, juris Rn. 29-33 andererseits). Für die erstgenannte Ansicht spricht dabei insbesondere der Wortlaut des § 71a Abs. 1 AsylG, für die zweitgenannte Auffassung dagegen die Überlegung, dass grundsätzlich keine Bedenken dagegen bestehen dürften, einen Asylantrag auch dann als Zweitantrag zu behandeln, wenn das Asylverfahren im sicheren Drittstaat erst nach Asylantragsstellung in Deutschland, aber vor Zuständigkeitsübergang auf die Bundesrepublik Deutschland endgültig erfolglos abgeschlossen worden ist. Nach der erstgenannten Ansicht dürfte ein Antragsteller in einem solchen Fall nach einem späteren Zuständigkeitsübergang auf die Bundesrepublik Deutschland ein weiteres Asylverfahren in Deutschland durchführen, obwohl er bereits in einem sicheren, nach der Dublin III-VO zuständigen Drittstaat ein Asylverfahren erfolglos durchlaufen hat.
Entgegen der Auffassung des Bundesamtes ist es allerdings nicht sachgerecht, auf einen noch späteren Zeitpunkt – nach Übergang der Zuständigkeit auf die Bundesrepublik Deutschland – abzustellen und es für die Annahme eines Zweitantrags ausreichen zu lassen, dass im Zeitpunkt der Entscheidung in Deutschland eine unanfechtbare Ablehnung im sicheren Drittstaat vorliegt. Ist der sichere Drittstaat nicht mehr für das Asylverfahren des Klägers zuständig, kann es dem Kläger nicht zum Nachteil gereichen, wenn in diesem Staat – trotz fehlender internationaler Zuständigkeit – eine negative Entscheidung über sein Begehren getroffen wird, mit der sein Asylverfahren endgültig abgeschlossen wird. Der Europäische Gerichtshof hat für die Zuständigkeitsvorschriften der Dublin III-VO verschiedentlich dahin erkannt, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt, im gerichtlichen Verfahren auf die Einhaltung dieser Regelungen berufen kann (vgl. nur EuGH, Urteile vom 26. Juli 2017 - C-670/16 [ECLI:EU:C:2017:587], Mengesteab - Rn. 62 und vom 25. Oktober 2017 - C-201/16 [ECLI:EU:C:2017:805], Shiri - Rn. 44). Dies muss nicht nur für den Fall gelten, in dem ein Antragsteller eine Überstellung in einen unzuständigen Staat verhindern will, sondern auch in Fällen, in denen ihm – wie hier – die Durchführung eines Asylverfahrens unter Verweis auf eine von einem unzuständigen Staat getroffene Entscheidung verwehrt wird. Die Zuständigkeitsregelungen in der Dublin III-VO sehen von Rechts wegen einen Übergang der Zuständigkeit vor, ohne dies von irgendeiner Reaktion des zuvor zuständigen Mitgliedstaats abhängig zu machen (vgl. EuGH, Urteile vom 26. Juli 2017 - C-670/16 [ECLI:EU:C:2017:587], Mengesteab - Rn. 61 und vom 25. Oktober 2017 - C-201/16 [ECLI:EU:C:2017:805], Shiri - Rn. 30). Eine gleichwohl ergehende ablehnende Entscheidung in einem unzuständigen Mitgliedsstaat ist aus diesem Grund rechtswidrig und verletzt den von ihr Betroffenen in seinen subjektiven Rechten.
Nach Art. 18 Abs. 2 Unterabsatz 3 Dublin III-VO stellt der zuständige Mitgliedstaat in den in den Anwendungsbereich des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe d Dublin III-VO fallenden Fällen, in denen der Antrag nur in erster Instanz abgelehnt worden ist, sicher, dass die betreffende Person die Möglichkeit hat oder hatte, einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Artikel 46 der Richtlinie 2013/32/EU einzulegen. Gerade hierfür war ab dem Zuständigkeitsübergang nicht mehr die Republik Finnland, sondern die Bundesrepublik Deutschland zuständig. Es ist dem unionsrechtlichen Zuständigkeitsübergang immanent, dass der zuständig gewordene Mitgliedstaat das Verfahren in dem Stadium übernimmt, den es zum Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs erreicht hatte (Bay. VGH, Urteil vom 3. Dezember 2015 – 13a B 15.50069 –, juris Rn. 25; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. April 2015 – A 11 S 121/15 –, juris Rn. 36). Das Bundesamt muss einen Antragsteller, dessen Ablehnungsbescheid zum Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland noch nicht unanfechtbar ist, also als „Erstantragssteller“ behandeln, und darf einen Erfolg seines Asylantrags gerade nicht von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG abhängig machen (vgl. zu den Fällen einer Antragsrücknahme auch Art. 18 Abs. 1 Buchstabe c, Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO). Vielmehr muss das Bundesamt dem Antragsteller in Deutschland jedenfalls die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der ablehnenden Entscheidung eröffnen, wobei die vorgebrachten Gründe – wie auch in allen anderen Fällen der gerichtlichen Überprüfung der Ablehnung eines Erstantrags – vollumfänglich zu prüfen sind.
Soweit das Verwaltungsgericht Osnabrück unter Verweis auf § 77 AsylG einen erfolglosen Abschluss des Asylverfahrens im sicheren Drittstaat zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. gerichtlichen Entscheidung ausreichen lässt (vgl. VG Osnabrück, Urteil vom 27. Februar 2018 – 5 A 79/17 –, juris Rn. 46), überzeugt dies angesichts der vorangegangenen Ausführungen nicht. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat diesen Zeitpunkt als Anknüpfungspunkt nicht in Betracht gezogen, sondern hat ausgeführt, dass in erster Linie der Zeitpunkt der Asylantragsstellung in Deutschland oder der Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs in Betracht kämen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4.16 -, juris Rn. 40). Im Übrigen schließt es § 77 Abs. 1 AsylG gerade nicht aus, dass nach dem materiellen Recht Tatbestandsmerkmale zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit vorliegen mussten (vgl. VG Berlin, Urteil vom 11. Oktober 2019 – 8 K 43.19 A –, juris Rn. 23; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. Januar 2019 – 15a K 5551/18.A –, juris Rn. 25; VG Karlsruhe, Urteil vom 8. Februar 2018 – A 2 K 7425/16 –, juris Rn. 21; VG Hamburg, Urteil vom 5. Februar 2014 – 8 A 1236/12 –, juris Rn. 17), z.B. der Bestand der Ehe im Heimatstaat (§ 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG) oder die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Asylantragsstellung (§ 26 Abs. 2 AsylG). Auch § 71a Abs. 1 AsylG setzt einen dem Asylantrag in Deutschland zeitlich vorgelagerten erfolglosen Abschluss des Asylverfahrens im sicheren Drittstaat voraus. Ein ausschließliches Abstellen darauf, ob zu dem nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt ein Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat abgeschlossen ist, wäre dagegen weder mit den oben genannten Vorschriften der Dublin III-VO noch mit dem Wortlaut des § 71a Abs. 1 AsylG in Einklang zu bringen.
Demnach war das Asylverfahren des Klägers in Norwegen zu den insoweit allein in Betracht kommenden Zeitpunkten der Asylantragsstellung in Deutschland und des Zuständigkeitsübergangs noch nicht erfolglos abgeschlossen im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG.
Liegen damit die Voraussetzungen der § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a Abs. 1 AsylG für die Behandlung des Asylantrags des Klägers als Zweitantrag nicht vor und war die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig in Ziffer 1) somit rechtswidrig, werden die unter Ziffer 2) bis 4) des Bescheides getroffenen Entscheidungen des Bundesamtes als Folgeentscheidungen zu der unter Ziffer 1) getroffenen Regelung von deren Rechtswidrigkeit mit erfasst (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4/16 –, juris Rn. 21).
Vor diesem Hintergrund kann offenbleiben, ob die Anwendung der § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a Abs. 1 AsylG auf Staaten, die nicht der Europäischen Union angehören, überhaupt mit Unionsrecht in Einklang steht (vgl. hierzu VG Köln, Beschluss vom 30. Januar 2020 – 8 L 130/20.A –, juris; Schleswig-Holsteinisches VG, Beschluss vom 30. Dezember 2019 – 13 A 392/19 –, juris; VG Minden, Beschluss vom 9. Juli 2019 – 10 L 431/19.A –, juris).
Der Kläger ist durch den rechtswidrigen Bescheid auch in seinen Rechten verletzt. Sein aus dem Unionsrecht folgender Anspruch auf inhaltliche Prüfung seines Schutzbegehrens durch einen Mitgliedstaat der EU wird verletzt, wenn das Bundesamt seinen Asylantrag zu Unrecht als Zweitantrag behandelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4/16 –, juris Rn. 43).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.