Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 03.03.2020, Az.: 7 A 1787/20

Afghanistan; Flüchtlingseigenschaft; Trennung; Zwangsheirat

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
03.03.2020
Aktenzeichen
7 A 1787/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 72130
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1.Die Verheiratung einer 12- bis 13-Jährigen verstößt bereits gegen afghanisches Recht; die Eheschließung ist unwirksam.
2. Die Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe der in Afghanistan rechtswidrig zwangsverheirateten Frauen, die sich im Fluchtland von ihrem Ehemann dauerhaft getrennt haben, begründet die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (wie VG Würzburg, Urteil vom 14.3.2019 - W 9 K 17.31742 - juris und VG Gießen, Urteil vom 2.9.2019 - 1 K 7171/17.GI.A - juris).

Tenor:

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. April 2017 wird hinsichtlich der Ziffern 1) und 3) bis 6) der Entscheidungsformel aufgehoben, soweit er die im Rubrum bezeichneten Kläger betrifft.

Die Beklagte wird verpflichtet, den beiden im Rubrum dieses Urteils bezeichneten Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, dem minderjährigen Kläger zu 2) zum Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit der Zuerkennung gegenüber der Klägerin zu 1).

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des festgesetzten Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand:

Die Kläger legen keinerlei Identifikationspapiere vor. Die Klägerin zu 1) trägt vor, am 17. Dezember 1996 in H., Destrikt I., Provinz J. /Afghanistan geboren (Bl. 94 BA 001) und afghanische Staatsangehörige tadschikischen Volkstums sunnitischen Glaubens zu sein. Im Alter von 12 oder 13 Jahren sei sie 2009 von einem Mullah im Familienkreis mit dem am (richtig:) 5. Februar 1993 ebendort geborenen K. A. – im Folgenden: Kindesvater - verheiratet worden (Bl. 94 BA 001). Die Ehe hätten ihre Eltern arrangiert. Sie sei jedoch einverstanden gewesen (Bl. 101 BA 001). In der mündlichen Verhandlung hat sie von einer Zwangsverheiratung gesprochen. Man habe sie nicht nach ihrem Einverständnis gefragt. Dieses Heiratsdatum („2009 oder 2010“) hat auch der Kindesvater bestätigt. Der am (richtig:) 10. Oktober 2011 in J. geborene Kläger zu 2) ist ihr gemeinsamer Sohn. Die Kläger und der Kindesvater verließen Afghanistan am 6. Oktober 2015 und gelangten über Pakistan, den Iran und die Türkei nach Griechenland. Im Dezember 2015 reisten sie zusammen mit der Mutter des Kindesvaters, Frau L. A. auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein. Ebenso reisten der Bruder des Kindesvaters, Herr M. A. mit seiner Ehefrau N. A. ein. Am 1. November 2016 beantragten der Kindesvater und die Kläger ihre Anerkennung als Asylberechtigte.

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem E. – Bundesamt – am 23. Februar 2017 äußerte der K. A.: Sein Vater sei vor sechs Jahren von den Taliban umgebracht worden. Daraufhin sei er aus seinem Dorf in die Stadt J. gezogen. Dort habe er ein Auto gekauft, das er auch in Besitz genommen habe. Jedoch habe er nicht die Fahrzeugpapiere erhalten. Deshalb habe er nur einen Teil des Kaufpreises gezahlt. Nach einem Verkehrsunfall habe er die Polizei nach den Fahrzeugpapieren gefragt. Er sei daraufhin täglich zu dem Autoverkäufer gegangen, um die Fahrzeugpapiere zu erhalten. Dann hätten ihn am 20. oder 28. Juli 2015 Brüder und Cousins des Verkäufers aufgesucht und ihm vorgeworfen, den Verkäufer getötet zu haben. Mit dem Kolben einer mitgeführten Kalashnikov hätten sie auf seinen Kopf eingeschlagen. Auch seine Mutter sei geschlagen worden. Erst hinzugerufene Nachbarn hätten die Angreifer vertrieben. Die Mutter sei ins Krankenhaus gekommen. Er habe bei der Polizei Anzeige erstattet. Während eines Besuchs bei seiner Mutter im Krankenhaus, seien zwei Brüder des Verkäufers zu der Klägerin zu 1) gekommen und hätten ihr Rache angedroht. Nach einem Zwischenaufenthalt bei einem Freund seien sie dann ausgereist. Die Verwandten des Verkäufers hätten zuvor wiederholt seine verlassene Wohnung aufgesucht. Bei Rückkehr nach Afghanistan würde er umgebracht werden. Die Klägerin zu 1) erklärte, sie sei von einem Verwandten des Getöteten im Zusammenhang mit ihrer Bedrohung vergewaltigt worden. Sie habe Angst vor ihrem Ehemann. Dieser solle von der Vergewaltigung nichts erfahren.

Die Asylanträge des K. A. und der Kläger lehnte das Bundesamt mit einem Bescheid vom 5. April 2017 ebenso ab (Ziffer 2] der Entscheidungsformel) wie den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1}] der Entscheidungsformel). Außerdem wurde der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Ziffer 3] der Entscheidungsformel]). Ebenso stelle das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG – nicht vorliegen (Ziffer 4] der Entscheidungsformel). Außerdem drohte das Bundesamt dem K. A. und den Klägern die Abschiebung nach Afghanistan oder einen anderen Staat an, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, sofern sie nicht innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens ausgereist seien (Ziffer 5] der Entscheidungsformel). Schließlich wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6] der Entscheidungsformel). Zur Begründung wird ausgeführt, dass der K. A. lediglich von den Verwandten eines Getöteten verfolgt werde. Ihm sei es zuzumuten, sich in einem sicheren Landesteil aufzuhalten. Außerdem könne er die wirtschaftliche Existenz der Familie sichern.

Mit ihrer am 18. April 2017 beim Verwaltungsgericht Hannover zunächst gemeinsam erhobenen Klage verfolgten der K. A. und die Kläger ihr Ziel weiter – 7 A 3293/17 -. Es wurde nunmehr geltend gemacht, dass der Kläger zu 2) von der Familie des Getöteten bei Rückkehr nach Afghanistan umgebracht werde.

Im April 2018 trennten sich der K. A. und die Klägerin 1). Die Klägerin zu 1) verzog mit dem Sohn in das Frauenhaus A-Stadt und lebt seither dort. Sie teilt mit, das alleinige Sorgerecht für den Kläger zu 2) zu besitzen. Der K. A. hält das Sorgerecht für ungeklärt und besitzt offensichtlich ein Besuchsrecht. Die Klägerin zu 1) teilt mit, dass andauernde häusliche Gewalt durch den Kindesvater der Trennungsgrund sei. Sie sei mit 13 Jahren zwangsverheiratet worden. Bei Rückkehr nach Afghanistan drohten ihr erneut Zwangsehe, körperliche und seelische Misshandlung. Bei ihr bestehe eine geschlechtsspezifische Verfolgung.

Mit einem Beschluss vom 3. März 2020 hat das Gericht das Verfahren der Kläger von dem des K. A. abgetrennt. Mit Urteil vom gleichen Tage hat der Einzelrichter die Klage des Kindesvaters auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie der Hilfsanträge abgewiesen – 7 A 3293/17 -.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. April 2017 aufzuheben, soweit er sie betrifft, sowie die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise

ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

hilfsweise

ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5, Absatz 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der zusammen mit den Klägern eingereisten Mutter des K. A., Frau L. A., wurde vom Bundesamt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen fehlender Möglichkeit der Existenzsicherung in Afghanistan zuerkannt –O. -. Der Bruder des K. A., Herr M. A., nahm seinen Asylantrag zurück und reiste 2016 nach Afghanistan aus –P. -, wo er sich nach Angaben seiner ebenfalls nach religiösem Ritus angetrauten Ehefrau eine Zweitfrau nahm. Nach Angaben des K. A. halte er sich zwischenzeitlich wieder in Griechenland auf. Seiner Ehefrau Q. A. – der Schwägerin des K. A. – und deren Kindern erkannte das Bundesamt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen fehlender Möglichkeit der Existenzsicherung zu, nachdem sich die Ehefrau von ihrem Ehemann getrennt hatte –P. -. Dem Bruder der Klägerin zu 2), Herrn R., wurde nach Konversion zum Christentum die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt –S. -.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der vorbezeichneten Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage hat mit dem Hauptantrag Erfolg. Einer Entscheidung über die Hilfsanträge bedarf es deshalb nicht.

Der ablehnende Bescheid des Bundesamtes vom 5. April 2017 ist im angefochtenen Umfang im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 des Asylgesetzes – AsylG - maßgeblichen Zeitpunkt am Schluss der mündlichen Verhandlung rechtswidrig und verletzt die beiden Kläger in ihren Rechten. Die Kläger können in der tenorierten Reihenfolge beanspruchen, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt zu erhalten. Die Ablehnung des Asylantrages (Ziffer 2] der Entscheidungsformel des Bescheides vom 5. April 2017) ist von den Klägern nicht angefochten und damit bestandskräftig.

I. Die Klägerin zu 1) hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Die Klägerin zu 1) kann gemäß § 3 Abs. 1 AsylG die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen, weil sie sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe der in Afghanistan rechtswidrig zwangsverheirateten Frauen, die sich im Fluchtland von ihrem Ehemann getrennt haben, außerhalb ihres Herkunftslandes befinden. Herkunftsland ist Afghanistan. Der Einzelrichter ist trotz fehlender Identifikationspapiere davon überzeugt, dass es sich bei der Klägerin zu 1) um eine afghanische Staatsangehörige handelt.

1. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Ausschlussvoraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) -, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG zum einen Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist. Nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG sind zum anderen solche Handlungen erfasst, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beschriebenen Weise betroffen ist. Verfolgt ist dabei nur, wer persönlich Ziel der Verfolgungsmaßnahme war bzw. im Falle seiner Rückkehr sein wird. Die fragliche Maßnahme muss dem Betroffenen gezielt Rechtsverletzungen zufügen. Daran fehlt es bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat zu erleiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen (BVerfG, Beschluss vom 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 - juris Rdnr. 43; Thiedemann, Flüchtlingsrecht, Berlin 2015, Kap. 3 Rdnr. 52).

Zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Dabei ist unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse, oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreicht, wenn der Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Unerheblich ist dabei, ob der Betreffende aufgrund der ihm zugeschriebenen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung (überhaupt) tätig geworden ist (BVerfG, Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - juris Rdnr. 5). Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52/07 - juris Rdnr. 22; Nds.OVG, Urteil vom 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - juris Rdnr. 31; VG Hannover, Urteil vom 25.9.2018 - 15 A 532/17 - juris Rdnr. 18). Ebenfalls ausreichend ist, dass eine Verfolgungshandlung auf dem Verdacht einer bestimmten Gesinnung beruht oder sie erst der Ermittlung einer oppositionellen Gesinnung dient (vgl. Hess.VGH, Urteil vom 6.6.2017 - 3 A 3040/16.A - juris Rdnr. 71; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - juris Rdnr. 6; VG Köln, Urteil vom 9.8.2017 - 26 K 6740/16.A - juris Rdnr. 19).

Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt - auch bei einer erlittenen Vorverfolgung - der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtung im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzustellen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.4.2018 - 1 C 29/17 - juris Rdnr. 14; Urteil vom 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rdnr. 32). Zu bewerten ist letztlich, ob aus Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint; insoweit geht es um die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 19.4.2018 - 1 C 29/17 - juris Rdnr. 14; Urteil vom 6.3.1990 - 9 C 14/89 - juris Rdnr. 13; Nds.OVG, Urteil vom 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - juris Rdnr. 32). Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist zwischen der Frage, ob dem Ausländer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung im Sinne der §§ 3 Abs. 1, 3a AsylG droht, und der Frage einer ebenfalls beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund zu unterscheiden (Nds.OVG, Urteil vom 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - juris Rdnr. 33).

Soweit eine Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 QRL festzustellen ist, kommt dem Ausländer die Beweiserleichterung aus dieser Vorschrift zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24/08 - juris Rdnr. 18).

Das Eingreifen der Beweiserleichterung setzt voraus, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem früher erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden und dem befürchteten künftigen Schaden besteht. Denn die der Vorschrift zu Grunde liegende Vermutung, erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht zu sein, beruht wesentlich auch auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungs- oder Schadenswiederholung - bei gleichbleibender Ausgangssituation - aus tatsächlichen Gründen naheliegt. Es ist deshalb im Einzelfall zu prüfen und festzustellen, auf welche tatsächlichen Schadensumstände sich die Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie erstreckt (BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 - 10 C 4/09 - juris Rdnr. 31).

Ist der Schutzsuchende nicht „vorverfolgt“ ausgereist, muss er glaubhaft machen, dass ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt.

Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind gemäß § 3c AsylG der Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), sowie nichtstaatliche Akteure (Nr. 3), sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten - unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Nichtstaatlicher Akteure kann jede Person und jede Organisation sein, die in der Lage ist, hinreichend Macht auszuüben (vgl. Kluth, in: BeckOK Ausländerrecht, 19. Edition, Stand: 1.8.2018, § 3c AsylG Rdnr. 6; Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3c AsylG Rdnr. 7).

Eine interne Schutzmöglichkeit ist nach § 3e Abs. 1 AsylG gegeben, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat, er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Zudem dürfen dem Ausländer in dem betreffenden Gebiet auch keine anderen Nachteile und Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.11.1989 - 2 BvR 403/84 - juris Rdnr. 22; VG Lüneburg, Urteil vom 20.2.2018 - 3 A 17/17 - juris Rdnr. 26). Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Abs. 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände gemäß Art. 4 QRL zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen (§ 3e Abs. 2 AsylG). Schutz vor Verfolgung kann nach § 3d Abs. 1 AsylG nur geboten werden vom Staat (Nr. 1) oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten (Nr. 2). Nach § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG muss der Schutz vor Verfolgung wirksam und von nicht nur vorübergehender Art sein.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss auch in Asylstreitigkeiten das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit - des behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem die Furcht vor politischer Verfolgung hergeleitet wird. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Tatsachenvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann. Wenn wegen Fehlens anderer Beweismittel nicht anderes möglich, muss die richterliche Überzeugungsbildung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Asylsuchenden glaubt (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239/89 - juris Rdnr. 3). An der Glaubhaftmachung fehlt es regelmäßig, wenn der Schutz vor Verfolgung Suchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn die Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheinen oder er sein Vorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (Nds.OVG, Urteil vom 7.7.2008 - 9 LB 52/06 -, juris Rdnr. 47 mwN).

2. Gemessen an diesen Kriterien ist der Klägern zu 1) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Klägerin zu 1) befindet sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der in Afghanistan rechtswidrig zwangsverheirateten Frauen, die sich im Fluchtland von ihrem Ehemann getrennt haben und sich außerhalb des Staates Afghanistan befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen und dessen Schutz sie nicht in Anspruch nehmen können.

a) Die Verheiratung der Klägerin zu 1) im Jahre 2009 im Alter von 12 oder 13 Jahren oder auch den einmal im Verwaltungsverfahren bezeichneten 14 Jahren mit dem nur drei Jahre älteren K. A. war bereits nach afghanischem Familienrecht rechtswidrig und unwirksam. Das nahezu unverändert seit 1977 für sunnitische Religionszugehörige geltende afghanische Zivilgesetzbuch setzt das Ehefähigkeitsalter für Männer auf die Vollendung des 18. und für Frauen grundsätzlich auf die Vollendung des 16. Lebensjahres fest (Art. 70 afghZGB). Allerdings kann ein Mädchen, welches das 15. Lebensjahr vollendet hat, bereits durch seinen Vater – und wenn dieser nicht Inhaber der väterlichen Gewalt ist – durch den Richter verheiratet werden (Art. 71 und 78 afghZGB; vgl. Bergmann/Ferid, Internationales Ehe und Kindschaftsrecht, Stand 229. EL 2018, Afghanistan, S. 16; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, 29.6.2018, S. 293). Die nach eigenen Angaben am 17. Dezember 1996 geborene Klägerin zu 1) hatte im Zeitpunkt der Eheschließung erst das 12. oder 13. Lebensjahr vollendet, sodass es ihr an der Ehefähigkeit fehlte. Die Angabe ihres Geburtsjahres 1996 wurde während ihres Aufenthalts in Deutschland von ihr nicht verändert. Die unter Beteiligung einer unter 16-Jährigen geschlossene Ehe ist deshalb unwirksam (Kriewald in: BeckOGK BGB, Stand 1.12.2018, § 1303 Rdnr. 20), ohne dass es zur Feststellung der Unwirksamkeit der Eheschließung eines Rückgriffs auf den ordre public bedarf.

Der Einzelrichter wertet die von den Eltern arrangierte Eheschließung einer 12- bis 13-Jährigen, die bereits gegen nationales Recht des Herkunftsstaates verstößt, als Zwangsverheiratung, weil sie eine Missachtung des nationalen Rechts Afghanistans darstellt und der jungen Frau die spätere Eheschließungsfreiheit nimmt. Deshalb kommt es nicht auf den Widerspruch in den Ausführungen der Klägerin zu 1) an, sie sei mit der arrangierten Ehe zunächst einverstanden gewesen, während sie in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, man habe sie damals gar nicht gefragt, ob sie die Ehe eingehen wolle. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass der Meinung eines 12- bis 13-jährigen Mädchens kulturell bedingt in Afghanistan wenig Gehör geschenkt wird. Denn Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind nach Mitteilung des Auswärtigen Amtes in Afghanistan noch weit verbreitet. Eine Erhebung des zuständigen Ministeriums von 2006 zeigt, dass über 50% der Mädchen unter 16 Jahren verheiratet wurden und dass 60-80% aller Ehen in Afghanistan unter Zwang zustande kamen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.9.2019 – 508-516.80/3 AFG – S. 17).

b) Eine (in Afghanistan erfolgte) Zwangsheirat stellt eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar. Danach gelten auch Handlungen als Verfolgung, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen. Infolge einer Zwangsheirat wird für eine Frau die individuelle und selbstbestimmte Lebensführung aufgehoben und ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellt. Die Frau wird als reines Wirtschaftsobjekt und als "verkaufbare" Sache be- und gehandelt. Eine Zwangsheirat ist eine schwerwiegende Verletzung von Menschenrechten, die in Deutschland nach § 237 StGB bestraft wird und gegen internationale Konventionen verstößt. Die Freiheit der Eheschließung ist in Art. 12 EMRK, Art. 9 GR-Charta und Art. 16 Abs. 2 UN-Menschenrechtserklärung garantiert. Zudem droht einer von einer Zwangsheirat betroffenen Frau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sexuelle Gewalt und im Falle der Verweigerung der Zwangsheirat oder der Flucht aus dieser physische Gewalt (vgl. VG Würzburg, Urteil vom 14.3.2019 – W 9 K 17.31742 – juris; VG Gießen, Urteil vom 2.9.2019 – 1 K 7171/17.GI.A - juris). Viele Gewaltfälle gelangen in Afghanistan nicht vor Gericht, sondern werden der traditionellen Streitbeilegung zugeführt, im Rahmen derer die verletzten Frauen oft darauf verwiesen werden, durch Rückkehr zu ihrem Ehemann den Familienfrieden wiederherzustellen (vgl. Auswärtiges Amt, aaO, S. 16).

Der Verfolgungsgrund ist im vorliegenden Fall die Zugehörigkeit der Klägerin zu 1) zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Dies ist hier wegen der erfolgten Zwangsverheiratung der Klägerin zu 1) der Fall.

Hinzu tritt, dass sich die Klägerin in Deutschland von dem K. A. getrennt hat und sich mit ihrem minderjährigen Sohn – dem Kläger zu 2) - in ein Frauenhaus geflüchtet hat, in dem sie zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits seit nahezu zwei Jahren lebt. Sie hat in der mündlichen Verhandlung Vorwürfe der häuslichen Gewalt gegen den Kindesvater erhoben. Der bereits fast zweijährige Aufenthalt im Frauenhaus bestätigt die Ernsthaftigkeit der Trennung.

Da sich eine Frau in Afghanistan nicht folgenlos aus einer Zwangsverheiratung lösen kann und es sich – trotz Verbesserung der Lage der Frauen – als immer noch sehr schwer darstellt, dass eine Frau ihre Rechte auch durchsetzen kann (vgl. Auswärtiges Amt, aaO, S. 14), gehört die Klägerin zu 1) zu der in Afghanistan traditionell gebrandmarkten sozialen Gruppe der Frauen, die sich einer von der Familie arrangierten Zwangsehe durch Trennung entzogen und ihrer Familie damit Schande eingebracht haben.

Die geschlechtsspezifische Verfolgung der Klägerin geht von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG aus. Zu diesen nichtstaatlichen Akteuren zählen auch Einzelpersonen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.7.2006, BVerwGE 126, S. 243).

Die Gefahr würde der Klägerin zu 1) bei Rückkehr nach Afghanistan drohen, weil der Einzelrichter die Asylklage des Kindesvaters mit Urteil vom gleichen Tage abgewiesen hat – 7 A 3293/17 – und der Kindesvater nach Rechtskraft des Urteils ausreisepflichtig wird.Auch hat ihr Schwager M. A. – der Bruder des Kindesvaters - seinen Asylantrag zurückgenommen und ist – zumindest zunächst – nach Afghanistan zurückgekehrt.Bei Rückkehr nach Afghanistan droht der Klägerin zu 1) deshalb die Aufrechterhaltung einer „Zwangsehe“ oder zumindest aufgrund der hier in Deutschland erfolgten Trennung eine geschlechtsspezifische Verfolgung gerade wegen der ("unerlaubten") Trennung von ihrem „Ehemann“ und somit wegen der versuchten Flucht aus einer Zwangsehe. Als unmittelbare Folge einer Zwangsheirat ist die von der Klägerin zu 1) zu erwartende "Strafe" ebenfalls eine geschlechtsspezifische Verfolgung (VG Gießen, aaO).

c) Die Klägerin zu 1) hat auch keine Möglichkeit, internen Schutz im Sinne von § 3d AsylG oder § 3e AsylG zu erlangen. Effektiver Schutz vor den Folgen einer Flucht aus der Zwangsehe durch Trennung durch Handlungen nichtstaatlicher Akteure steht der Klägerin zu 1) in Afghanistan weder durch den Staat noch durch sonstige Stellen im Sinne der § 3d Absatz 1 Nummer 2 AsylG zur Verfügung. Dies ergibt sich bereits aus der oben dargelegten Erkenntnismittellage, wonach es in Afghanistan keine wirksamen Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Bestrafung der Handlungen, die die Verfolgung darstellen, gibt (vgl. VG Würzburg, aaO; VG Gießen, aaO). Hinzu kommt, dass das Verhalten der Klägerin zu 1) in Deutschland nach der Erkenntnismittellage in Afghanistan als schwerwiegende Ehrverletzung ihres Ehemanns oder der eigenen Familie gewertet werden kann. Das „Weglaufen“ von Zuhause durch Frauen wird in Afghanistan oft als versuchte „Zina“ oder als Absicht, „Zina“ zu begehen, gewertet. Dies gilt auch für den Fall, dass die Frauen vor häuslicher Gewalt fliehen. „Unzucht“, auch bezeichnet als „Zina“, ist ein sogenanntes „Hudud“-Delikt. Dies sind nach islamischem Recht die schwersten Straftaten und gelten als Verfehlungen gegen Gott; diese Delikte und Strafen werden im Koran ausdrücklich genannt. „Zina“ kann in Afghanistan unterschiedliche „moralische“ Straftaten bezeichnen, wie beispielsweise außerehelichen Geschlechtsverkehr oder Ehebruch. Gemäß der Scharia reicht die Bestrafung für „Zina“ von Auspeitschungen bis hin zur Steinigung. Frauen, die weglaufen, sind in den Augen ihrer Familien „beschmutzt“, weil sie sich nicht in männlicher Obhut befinden und Schande über ihre Familien gebracht oder die Familienordnung verletzt haben. Darum riskieren Frauen, die weglaufen, dass ihre Ehemänner oder andere Verwandte Gewalt gegen sie anwenden oder sie töten. Frauen, die beschließen wegzulaufen, werden häufig aufgespürt und von ihren Eltern, Brüdern, Verlobten oder Ehemännern der „Zina“ beschuldigt (VG Würzburg, aaO, mit Verweis auf EASO, Country of Origin Information Report: Afghanistan Individuals targeted under societal and legal norms, December 2017, S. 16 f., 43 ff. und 58; UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 87 ff.; s. auch Auswärtiges Amt, aaO, S. 16f.). Das Auswärtige Amt bezeichnet das Schicksal von Frauen, die in Afghanistan auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, „als ohne Perspektive“ (Auswärtiges Amt, aaO, S. 17). Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben in Afghanistan außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (Auswärtiges Amt, aaO, S. 17f.).

Für die Klägerin zu 1) besteht in Afghanistan auch keine Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes nach § 3e AsylG. Zur Frage, wann von einem Asylbewerber "vernünftigerweise erwartet werden kann", dass er sich in einem verfolgungsfreien Landesteil niederlässt, wird vorausgesetzt, dass der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, d. h. dort das Existenzminimum gewährleistet ist. Dieser Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Absatz 7 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.1.2013 – 10 C 15.12 – Rdnr. 19f.; Beschluss vom 14.11.2012 – 10 B 22.12 – Rdnr. 9, jeweils zitiert nach juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 6.3.2012 – A 11 S 3177/11 –; VG Köln, Urteil vom 25.2.2014 – 14 K 2512/12.A -).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine alleinstehende Frau mit Kind in Afghanistan so gut wie keine Möglichkeit hat, Arbeit zu finden und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen (vgl. auch VG München, Urteil vom 7.12.2011 – M 23 K 11.30139 – juris; VG Würzburg, aaO; VG Gießen, aaO). Dies gilt erst Recht für die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung 23jährige Klägerin, die über keine Ausbildung verfügt. Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan ist so schlecht und die Teuerungsrate so immens, dass für eine alleinstehende Frau, selbst wenn sie gelegentlich Almosen oder finanzielle Unterstützung von eventuell noch existierenden Verwandten bekäme, jedenfalls nicht das Existenzminimum gewährleistet ist. Da die Klägerin keine Familie mehr hat, die sie unterstützen könnte – ihre Eltern leben nach ihrem Vortrag im Iran und hatten die Zwangsverheiratung arrangiert -, wäre sie als 23jährige Frau auf ein eigenes Einkommen angewiesen. Das Gericht kann nicht erkennen, wie sie dies noch erwirtschaften können soll.

II. Die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG liegen in der Person des minderjährigen Klägers zu 2) selbst nicht vor.

Die Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger zu 2) gleichwohl die Flüchtlingseigenschaft (erst) zu dem Zeitpunkt zuzuerkennen, in dem die Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft seiner Mutter bestands- oder rechtskräftig geworden ist, nachvollzieht die Regelung des Familienflüchtlingsschutzes in § 26 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 5 Sätze 1 und 2, 1. Alt. AsylG.

III. Über den Hilfsantrag der Kläger, ihnen den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen, sowie - weiter hilfsweise - zu ihren Gunsten ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen, ist nicht mehr zu entscheiden. Die Verpflichtung der Beklagten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, lässt angesichts des Eventualverhältnisses (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.4.1997 - 9 C 19/96 - juris Rdnr. 13) die jeweils negative Feststellung des Bundesamtes zur Zuerkennung subsidiären Schutzes und zum Vorliegen von Abschiebungsverboten gegenstandslos werden (BVerwG, Urteil vom 26.6.2002 - 1 C 17.01 - juris Rdnr. 11 zu § 53 AuslG), sodass der ablehnende Bescheid auch insoweit (Ziffern 3] und 4] der Entscheidungsformel) aufzuheben ist.

Die in Ziffer 5) der Entscheidungsformel des Bescheides ausgesprochene Abschiebungsandrohung ist aufgrund der Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ebenfalls rechtswidrig. Das Gleiche gilt für die in Ziffer 6) der Entscheidungsformel des Bescheides enthaltene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes.

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.

Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.