Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 05.12.1989, Az.: 2 OVG A 141/86

Rücknahme der Anerkennung eines Dienstunfalles eines Polizeioberwachtmeisters beim Bundesgrenzschutz; Anerkennung als Dienstunfall im Falle der Verletzung aufgrund eines Verstoßes gegen dienstliche Gepflogenheiten und pflichtwidriger Überschreitung dienstlicher Befugnisse

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
05.12.1989
Aktenzeichen
2 OVG A 141/86
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1989, 20677
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1989:1205.2OVG.A141.86.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 23.07.1986 - AZ: 7 VG A 68/84

Verfahrensgegenstand

Dienstunfall

Der 2. Senat des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein hat
auf die Mündliche Verhandlung vom 5. Dezember 1989 am selben Tage
durch
den Vorsitzenden Richter an Oberverwaltungsgericht Zeller,
die Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Große und Dehnbostel sowie
die ehrenamtliche Richterin XXX und
den ehrenamtlichen Richter XXX
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid der 7. Kammer des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 23. Juli 1986 geändert.

Der Bescheid der Beklagten vom 14. Dezember 1983 und der Widerspruchsbescheid vom 20. März 1984 werden aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme der Anerkennung eines Dienstunfalles.

2

Der Kläger war am 2. Juni 1977 von 18.00 bis 20.00 Uhr als Polizeioberwachtmeister im Bundesgrenzschutz - BGS - in Karlsruhe zur Absicherung der Polizeiunterkunft des BGS Dorlacher Allee mit dem Polizeiwachtmeister XXX als Streife eingesetzt. Dem Kläger und XXX war der Wachdienst, den sie seit Mitte Mai 1977 verrichten mußten, manchmal langweilig, so daß sie hin und wieder blödelten und Späße trieben. Als sie an diesem Abend sahen, wie junge Frauen die Turnhalle der Polizeiunterkunft verließen, kamen sie auf Frauen zu sprechen. XXX nahm während dieses Gesprächs seine Mütze vom Kopf, zerknüllte sie, biß in die Mütze hinein und setzte sie wieder auf und ging einige Schritte weiter. Der Kläger nahm nun XXX die Mütze vom Kopf und lief mit der Mütze etwa 3 Meter weiter und lachte XXX zu. Aus Spaß und auf die Neckerei eingehend nahm XXX seine Maschinenpistole von der Schulter, brachte sie in Anschlag und wollte vom Kläger die Mütze zurückverlangen. Dabei löste sich ein Schuß, der den Kläger von hinten unterhalb des rechten Schulterblattes traf. Die Kugel durchbohrte den rechten Lungenlappen und die Leber und verletzte den Kläger an der rechten Hand. Bei dem Kläger besteht infolge der Schußverletzung eine Pleuraschwarte und es ist mit Verwachsungen im Oberbauch zu rechnen, daneben hat er belastungsabhängige Beschwerden im Bereich des rechten Unterarms. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrug im Juni 1979 50%.

3

Der Leiter der Grenzschutzverwaltung XXX Dez. II - II c - vermerkte unter dem 15. September 1977 zu den Akten:

"Die Anerkennung des vorbezeichneten Unfalls als Dienstunfall kann GSV Nord nur unter Zurückstellung erheblicher Bedenken mitzeichnen, da PW XXX die Verletzungen anläßlich einer Alberei während des Streifenganges mit PW XXX erlitten hat und daher Zweifel bestehen, ob sich der Unfall noch "in Ausübung" oder lediglich "bei Gelegenheit" des Dienstes ereignet hat.

Nach Auffassung der GSV Nord sollte dieser Schießunfall Anlaß geben, die Beamten in allen Abteilungen über die Angelegenheit zu unterrichten und sie in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß die Anerkennung eines Unfalls als Dienstunfall nur dann in Betracht kommen kann, wenn die Verletzung während der pflichtgemäßen Erledigung der ihnen als Beamte obliegenden dienstlichen Verrichtungen erfolgt ist, somit ein Dienstunfall nicht vorliegt, wenn der Körperschaden zwar während der Dienstzeit eingetreten, aber darauf zurückzuführen ist, daß der Beamte sich aus eigenem Entschluß entgegen Gepflogenheit oder Notwendigkeit verhielt, insbesondere pflichtwidrig handelte oder seine Befugnisse überschritt."

4

Der Kommandeur der Grenzschutzverwaltung Nord erkannte durch Verfügung vom 16. September 1977 den Unfall als Dienstunfall an; dem Kläger wurde Dienstunfallausgleich gewährt.

5

Durch Verfügung vom 14. Dezember 1983 wurde die Anerkennung des Unfalls als Dienstunfall gemäß § 48 VwVfG mit folgender Begründung zurückgenommen: Der Unfall habe sich zwar innerhalb der Dienstzeit ereignet, die gegenseitige Neckerei habe jedoch in keinem Zusammenhang mehr mit dienstlichen Verrichtungen gestanden und sei daher nicht mehr in die dienstunfallrechtlich geschützte Sphäre einbezogen gewesen. Die dennoch anerkennende Verfügung des GSK Nord stelle daher einen rechtswidrigen Verwaltungsakt dar. Dieser könne gemäß § 48 Abs. 1 und 2 VwVfG zurückgenommen werden. Das Vertrauen des Klägers in den Fortbestand dieses ihn begünstigenden Verwaltungsaktes sei nicht schutzwürdig. Da der rechtswidrige Verwaltungsakt aufgrund einer fehlerhaften Rechtsanwendung durch das Kommando ergangen sei, sei die Rücknahme nur Wirkung für die Zukunft verfügt worden. Da die Rücknahme des Verwaltungsaktes allein wegen zutreffender Anwendung von Rechtsvorschriften erfolgt sei, greife die zeitliche Begrenzung des § 48 Abs. 4 VwVfG nicht ein.

6

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und führte u.a. aus, das Grenzschutzkommando Nord und die Beklagte hätten von den Tatsachen, die den Verwaltungsakt angeblich rechtswidrig erscheinen ließen, spätestens seit September/Oktober 1977 Kenntnis gehabt. Damit sei die Jahresfrist verstrichen. Im übrigen sei die gegenseitige Neckerei längst beendet gewesen, als er von dem Schuß in den Rücken getroffen worden sei.

7

Der Widerspruch wurde durch Bescheid vom 20. März 1984 zurückgewiesen. Nach den Zeugenaussagen habe sich der Kläger aktiv an der Alberei beteiligt und sei damit nicht lediglich Opfer des schwerwiegenden Fehlverhaltens seines Kameraden gewesen. Wenn, wie im vorliegenden Falle, die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes nicht auf fehlende Tatsachenkenntnis, sondern allein auf einer fehlerhaften Rechtsanwendung beruhe, unterliege die Rücknahmemöglichkeit nicht der Ausschlußfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG. Selbst wenn man die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit dem Bekanntwerden neuer Tatsachen gleichstellte, begegne die Rücknahmeentscheidung keinen rechtlichen Bedenken, da der Anerkennungsbescheid innerhalb der einjährigen Ausschlußfrist zurückgewiesen worden sei.

8

Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen: Nicht er habe dem Kameraden XXX die Mütze vom Kopf gerissen, sondern dieser habe sich die Mütze selbst vom Kopf gerissen gehabt und sie auf den Boden geworfen und darauf herumgetrampelt. Um die Beschädigung der Dienstmütze mit weiteren disziplinarrechtlichen Folgen zu verhindern, habe er sie XXX weggenommen, für kurze Zeit an sich genommen und sie dann dem XXX zurückgegeben. Als er sich einige Schritte entfernt hatte, um das vor ihm liegende Gelände zu beobachten, habe ihn plötzlich der Schuß in den Rücken getroffen. Selbst wenn es sich bei der Anerkennung des Dienstunfalles um einen fehlerhaften Verwaltungsakt handele, habe die Rücknahmefrist von einem Jahr mit dem Erlaß des Verwaltungsaktes begonnen und sei am 16. September 1978 geendet.

9

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid des Grenzschutzkommandos Nord vom 14. Dezember 1983 und den Widerspruchsbescheid des Bundesministers des Innern vom 20. März 1984 aufzuheben.

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Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

11

Sie hat vorgetragen, das nach dem Ausscheiden des Klägers im BGS für die Gewährung von Dienstunfallfürsorgeleistungen zuständige Bundesverwaltungsamt habe Anfang 1983 Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dieses Dienstunfallanerkenntnisses erhoben. Diese Bedenken hätten sich bei der daraufhin durchgeführten Überprüfung bestätigt. Die Rücknahme sei daher binnen der Jahresfrist erfolgt.

12

Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 23. Juli 1986 zurückgewiesen und zur Begründung auf den Widerspruchsbescheid Bezug genommen. Zum Unfallhergang folge es den rechtskräftigen Feststellungen in dem Urteil des Jugendschöffengerichts vom 13. September 1977. Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG stehe der Rücknahme nicht entgegen. Die Kenntnis auch der Rechtswidrigkeit der Anerkennung als Dienstunfall sei erst aufgrund der Zweifel des Bundesverwaltungsamtes im Jahre 1983 aufgetreten.

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Gegen diesen ihm am 8. August 1986 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 5. September 1986 Berufung eingelegt, zu deren Begründung er ausführt: Das Verwaltungsgericht lege seiner Entscheidung einen falschen Sachverhalt zugrunde. Aus Entrüstung über eine zu erwartende Verlängerung des Einsatzes habe der Kamerad XXX sich die Dienstmütze vom Kopf gezogen und auf ihr herumgetrampelt und ausgerufen, er wolle nicht mehr. Er - der Kläger - habe XXX die Mütze abgenommen und ihn gebeten, den Unsinn zu lassen. Nachdem XXX sich beruhigt hatte, habe er XXX die Mütze zurückgegeben. Er habe sich sodann an eine Hausecke begeben, um das Vorfeld des Gebäudes zu überblicken. Dort habe ihn der Schuß in den Rücken getroffen. Im übrigen habe seine Dienststelle von vornherein Zweifel daran geäußert, ob es sich bei dem Unfall vom 2. Juni 1977 um einen Dienstunfall gehandelt habe oder nicht.

14

Der Kläger beantragt,

unter Änderung des angefochtenen Gerichtsbescheides nach dem Klageantrag zu erkennen.

15

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

16

Sie trägt vor, das Grenzschutzkommando Nord habe frühestens im Anschluß an den Eingang der Erlasse vom 26. Mai 1983 und 28. Oktober 1983 Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides erhalten und damit innerhalb der Jahresfrist das Dienstunfallanerkenntnis rechtzeitig zurückgenommen.

17

Ergänzend wird auf das Vorbringen der Parteien in den von ihnen überreichten Schriftsätzen und Schriftstücken Bezug genommen. Dem Senat lagen die Verwaltungsvorgänge, die Personalakten des Klägers und die Strafakten der Staatsanwaltschaft Kassel (Beiakten A, B und C) vor.

18

II.

Die Berufung ist zulässig und begründet.

19

Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig. Die Beklagte hat unter Verletzung des § 48 Abs. 4 VwVfG den den Kläger begünstigenden Bescheid vom 16. September 1977 aufgehoben, durch den der Unfall vom 2. Juni 1977 als Dienstunfall anerkannt worden ist.

20

§ 48 VwVfG regelt die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte. Die Anwendung dieser Vorschrift setzt voraus, daß der zurückgenommene Bescheid vom 16. September 1977 rechtswidrig gewesen ist. Das ist der Fall.

21

Der Bescheid ist gemäß § 45 Abs. 3 BeamtVG ergangen. Formelle Bedenken gegen den Erlaß dieses Bescheides sind nicht ersichtlich.

22

Nach § 31 Abs. 1 BeamtVG ist ein Dienstunfall ein auf äußere Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist. Es handelte sich um einen Unfall für den Kläger, als er von dem Schuß getroffen und verletzt wurde. Der Unfall ist jedoch nicht in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten. Die äußeren Umstände deuten zwar darauf hin, daß der Unfall in Ausübung des Dienstes eingetreten ist. Der Kläger befand sich auf einem dienstlich angeordneten Streifengang, als er verletzt wurde. Die Bewachung von öffentlichen Einrichtungen, hier der Bundesgrenzschutz-Unterkunft, gehörte zu den dienstlichen Obliegenheiten des Klägers als Beamter im Bundesgrenzschutz. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind trotz vorhandener räumlicher und zeitlicher Beziehungen zum Dienst Verhaltensweisen des Beamten denkbar, in denen auch bei lebensgemäßer Betrachtungsweise wegen fehlenden Zusammenhangs des Unfalls mit dem Beamtendienst nicht mehr von einer Dienstausübung in dem hier maßgeblichen Sinn gesprochen werden kann. Dabei ist insbesondere an Verhaltensweisen zu denken, die dem wohlverstandenen Interesse des Dienstherrn zuwiderlaufen oder von diesem sogar ausdrücklich verboten worden sind (BVerwG, Beschl. v. 17.5.1974, Buchholz 232 Nr. 53 zu § 135 BBG). Hierunter fallen Unfälle, die durch tätliche Neckereien unter Beamten im Dienst verursacht wurden, wobei auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen ist. Dabei kann bedeutsam sein, daß den Beteiligten klar sein mußte, daß sie durch ihr Verhalten von Ihren Aufgaben und Pflichten sich erheblich entfernt und etwas getan haben, das alle Anzeichen dienstpflichtwidriger Tätigkeit getragen hat. Ebenso kann von Bedeutung sein, daß der unfallgeschädigte Beamte eine Reaktion provoziert hat, mit der er hat rechnen müssen. Der Kläger wendet sich im vorliegenden Verfahren dagegen, daß es sich um eine gemeinschaftliche Neckerei gehandelt habe. Er habe aus kameradschaftlichen Motiven den Kameraden Berg aufgefordert, den Unsinn zu lassen. Nachdem XXX sich beruhigt hatte, habe er diesem die Mütze zurückgegeben und sich sodann an eine Hausecke begeben, um das Vorfeld des Gebäudes in Erfüllung des Steifenauftrages zu überblicken. Dort sei er von dem Schuß in den Rücken getroffen worden. Aus dem fachärztlichen Gutachten des Dr. XXX vom 19. Juni 1979 ergibt sich, daß der Schuß den Kläger von hinten getroffen hat, unterhalb des rechten Schulterblattes eingetreten und am Bauch wieder ausgetreten ist. Nach den Unfallfotos (Bl. 39 R der Strafakten) trifft es jedoch nicht zu, daß der Kläger sich an eine Hausecke begeben hatte, als ihn der Schuß traf. Der Kläger hat im Strafverfahren sowohl vor der Polizei als auch als Zeuge vor dem Strafrichter angegeben, daß er die Erinnerung an das, was vor dem Schuß gewesen sei, verloren habe. Hingegen haben die unbeteiligten Zeugen XXX und XXX im Ermittlungsverfahren ausgesagt, daß der Kläger, dem PW XXX die Mütze vom Kopf genommen, sie zerknüllt und mitgenommen habe, als der PW XXX den Kläger aufgefordert habe, er solle ihm die Mütze zurückgeben. Bei diesen Worten habe XXX seine Maschinenpistole in Anschlag gebracht und der Schuß habe sich gelöst. Diese Darstellung entspricht den Angaben des PW XXX die dieser als Beschuldigter bzw. Angeklagter im Strafverfahren gemacht hat. Von diesem Sachverhalt ist die Beklagte nach der Unfallmeldung des PHK XXX vom 5. Juni 1977 auch ausgegangen. Nach Blatt 87 der Strafakten hat die Beklagte die Strafakten im November/-Dezember 1977 eingesehen. Der Senat ist aufgrund dieser Beweismittel aus den Strafakten, entsprechend der strafrichterlichen Beweiswürdigung, zu der Überzeugung gelangt, daß der Kläger sich an den tätlichen Neckereien beteiligt hat, indem er seinem an der Doppelstreife beteiligten Kameraden XXX die Mütze vom Kopf gerissen und sich mit der Mütze entfernt hat. Damit hat der Kläger gewisse Reaktionen des PW XXX provoziert. Es erscheint jedoch unwahrscheinlich, daß der Kläger damit rechnen konnte, daß der PW XXX seine Maschinenpistole auf ihn in Anschlag bringen würde. Zwar hat der Kläger bei seiner polizeilichen Vernehmung vom 2. August 1977 angegeben, sein Kollege XXX habe des öfteren mit seiner Waffe herumgealbert, indem er mit dem Finger am Abzug gespielt habe. Er habe ihn wiederholt aufgefordert, das zu unterlassen. Ebenso hat der Kläger in der Sitzung des Jugendschöffengerichts vom 13. September 1977 erklärt, XXX habe öfters am Abzug der Waffe herumgespielt. Aus diesen Angaben ist jedoch nicht zu entnehmen, daß XXX zuvor schon dann, wenn er mit der Waffe gespielt hatte, diese auf Menschen gerichtet hatte. Der Kläger und PW XXX haben sich durch diese Neckereien von ihrem eigentlichen Auftrag, die Unterkunft zu bewachen, ablenken lassen. Denn während dieser Neckereien waren sie nicht in der Lage, Auffälligkeiten optisch und akustisch wahrzunehmen, weil sie zu sehr abgelenkt waren. Die beiden Beamten haben sich mithin von ihren eigentlichen Dienstaufgaben gelöst, so daß für den Kläger ein Dienstunfall nicht mehr vorlag.

23

Die Beklagte hatte den Sachverhalt bereits 1977 richtig ermittelt und auch rechtlich richtig eingeordnet. Denn der Dezernent des Leiters der Grenzschutzverwaltung Nord - XXX - in seiner Übersendungsverfügung an das Grenzschutzkommando Nord vom 15. September 1979 mitgeteilt, daß er die Anerkennung des Unfalls des Klägers als Dienstunfall nur unter Zurückstellung erheblicher Bedenken mitzeichnen könne, da der Kläger die Verletzungen anläßlich einer Alberei während des Streifenganges mit PW XXX erlitten habe und daher Zweifel bestünden, ob sich der Unfall noch "in Ausübung" oder lediglich "bei Gelegenheit" des Dienstes ereignet habe. Diese Übersendungsverfügung ist zur Überzeugung des Senats dem Kommandeur vor Unterzeichnung der Anerkennung vom 16. September 1977 auch bekannt gewesen. Es sind in der Folgezeit auch den Verwaltungsvorgängen keine Tatsachen zu entnehmen, die den Sachverhalt und seine rechtliche Einordnung gegenüber der Übersendungsverfügung vom 15. September 1977 hätten einschränken oder abändern können.

24

Nach dem Beschluß des Großen Senates des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Dezember 1984 (E. 70, 356), findet § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG auch Anwendung, wenn die Behörde nachträglich erkennt, daß sie den beim Erlaß eines begünstigenden Verwaltungsakts vollständig bekannten Sachverhalt unzureichend berücksichtigt oder unrichtig gewürdigt und deswegen rechtswidrig entschieden hat. Die Frist beginnt zu laufen, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes erkannt und ihr die für die Rücknahmeentscheidung außerdem erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind.

25

Der Sachbearbeiter XXX, der die Übersendungsverfügung vom 15. September 1977 verfaßt hat, hat den Sachvorgang auch nach Erlaß des Bescheides vom 16. September 1977 weiter bearbeitet, wie sich aus seinem Schreiben vom 20. November 1978 (Bl. 12 BA B) ergibt. Ihm war angesichts des geringen Aktenumfangs zu diesem Zeitpunkt sein Vermerk vom 15. September 1977 auf Blatt 3 zur Überzeugung des Senates noch bekannt, ebenso wie bei Abfassung der Übersendungsverfügung vom 18. Mai 1979 (Bl. 29 BA B). Damit war der für eine Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes zuständigen Behörde auch zu diesem Zeitpunkt bekannt, daß der Bescheid vom 16. September rechtswidrig war, zumal der Dezernent darüber hinaus eine Belehrung der Beamten in allen Abteilungen anläßlich dieses Unfalles wegen der exemplarischen Bedeutung vorgeschlagen hatte. Daß rechtswidrige Verwaltungsakte unter den Voraussetzungen des § 48 VwVfG zurückgenommen werden können, war allgemein bekannt, die BGS-Verwaltung befand sich Insoweit weder in einem Rechtsirrtum dergestalt, daß sie den Bescheid vom 16. September 1977 irrtümlich für rechtmäßig hielt, noch hat sich nachträglich der Kenntnisstand über den Unfallhergang wesentlich geändert. Die BGS Verwaltung hat die Strafakten in der Zelt vom 18. November 1977 bis 6. Dezember 1977 eingesehen (Bl. 86 R, 87 BA C). Die in den Strafakten befindlichen Zeugenaussagen, Skizzen und Fotos konnten den Inhalt des Vermerkes vom 15. September 1977 nur bekräftigen, so daß in Verbindung mit dem Vermerk vom 15. September 1977 auch dieser Zeitpunkt die Frist des § 48 Abs. 4 VwVfG in Lauf gesetzt hat.

26

Im übrigen dürfte bereits der Schutzzweck des § 48 VwVfG, der in Absatz 2 den Vertrauensschutz des Begünstigten des Verwaltungsaktes regelt und in Absatz 4 auch im Interesse des Begünstigten der Rechtssicherheit dient, dafür sprechen, daß im vorliegenden Fall die Frist des Absatz 4 bereits durch Zustellung des Bescheides vom 16. September 1977 ab 27. September 1977 in Lauf gesetzt worden ist. Verwaltungsakte, in denen, wie vorliegend, durch die Anerkennung des Dienstunfalls, bewußt eine Fehlentscheidung getroffen wird, dürften äußerst selten sein, hier wahrscheinlich bewirkt durch die sehr schwere Schußverletzung des Klägers und ein verständliches Mitleid. Es kann daher nicht angenommen werden, daß die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG zur Regel bei von Anfang an rechtswidrigen Verwaltungsakten wird, sie wird vielmehr die Ausnahme bleiben.

27

Der Bescheid vom 16. September 1977 konnte daher durch die Verfügung vom 14. Dezember 1983 nicht mehr wirksam zurückgenommen werden.

28

Hiernach mußte die Berufung des Klägers Erfolg haben mit der Nebenfolge, daß die Beklagte als unterliegende Partei die Kosten des Verfahrens trägt (§ 154 Abs. 1 VwGO). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, § 708 Nr. 11 ZPO.

29

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 127 BBG, § 132 Abs. 2 VwGO).

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Rechtsmittelbelehrung

31

Die Nichtzulassung der Revision kann ... angefochten werden (§ 132 VwGO).

32

...

Zeller
Dr. Große
Dehnbostel