Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 11.01.2010, Az.: 4 AR 3/10
Umfang der Ermittlungspflicht des Insolvenzgerichts hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 11.01.2010
- Aktenzeichen
- 4 AR 3/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 10050
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2010:0111.4AR3.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Hannover - AZ: 906 IN 463/09
Rechtsgrundlagen
- § 3 InsO
- § 281 ZPO
Fundstellen
- BB 2010, 322
- DB 2010, 334-335
- GmbHR 2010, 262-263
- NZI 2010, 194-195
- NZI 2010, 4
- ZIP 2010, 489-491
Amtlicher Leitsatz
Hat das Insolvenzgericht am alten Sitz der Insolvenzschuldnerin vor einer Verweisung des Verfahrens Anhaltspunkte dafür, dass diese an ihrem gerade durch Verlegung neu begründeten Sitz keine Geschäftstätigkeit entfaltet hat, hat es alle Umstände von Amts wegen zu ermitteln, die seine örtliche Zuständigkeit begründen könnten. Die bloße Nachfrage bei der Insolvenzschuldnerin über den Umfang einer etwaigen wirtschaftlichen Tätigkeit im eigenen Bezirk ist hierfür unzureichend.
Tenor:
Das Amtsgericht Hannover ist zuständig.
Das Verfahren ist gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Der Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin stellte unter dem 14. Mai 2009 einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens beim Amtsgericht Hannover. Unter dem 8. Juni 2009, dem Amtsgericht Hannover per Fax am 22. Juni 2009 zugegangen, teilte der Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin mit, dass die Insolvenzschuldnerin Anfang des Jahres ihren Firmensitz nach N. verlegt habe, sie dort wider Erwarten keine Geschäftstätigkeit aufgenommen hätte und beim Amtsgericht Potsdam die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt hätten. Dort sei ihnen nahe gelegt worden, das Insolvenzverfahren am früheren Firmensitz zu beantragen, da das Unternehmen in N. nicht hätte tätig werden können. Nachdem das Amtsgericht Hannover mit Schreiben vom 22. Juni 2009 auf seine Bedenken gegen die eigene örtliche Zuständigkeit hingewiesen hat, da die Insolvenzschuldnerin (seit März 2009) mit dem Firmensitz in N. (Amtsgericht Potsdam) eingetragen sei und für das Vorhandensein des Mittelpunkts einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Hannover keine Anhaltspunkte vorlägen, hat sich das Amtsgericht Hannover auf Antrag der Insolvenzschuldnerin mit Beschluss vom 3. Juli 2009 ohne weitere Begründung für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das Amtsgericht Potsdam verwiesen. Das Amtsgericht Potsdam hat sich nach Durchführung von Ermittlungen mit Beschluss vom 10. November 2009 gleichfalls für örtlich unzuständig erklärt und zur Begründung vorgetragen, die Insolvenzschuldnerin sei dort zu keinem Zeitpunkt wirtschaftlich tätig gewesen, obwohl sie ihren satzungsgemäßen Sitz im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Potsdam gehabt habe. Hinweise für eine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit der Schuldnerin im dortigen Zuständigkeitsbereich seien nicht erkennbar. Unter der im Insolvenzantrag und bei der Sitzverlegung angegebenen Anschrift befinde sich lediglich eine Briefkastenanschrift. die einzigen Vermögenswerte des Unternehmens befänden sich nach den Feststellungen des Sachverständigen am Wohnsitz des Geschäftsführers in W.
Das Amtsgericht Potsdam hat das Verfahren dem Oberlandesgericht Celle zur Bestimmung der Zuständigkeit vorgelegt.
II.
1. Das Oberlandesgericht Celle ist gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zur Entscheidung dieses negativen Kompetenzkonflikts zuständig, da sowohl das Amtsgericht Hannover als auch das Amtsgericht Potsdam sich rechtskräftig für örtlich unzuständig erklärt haben und das Amtsgericht Hannover das zuerst mit der Sache befasste, im hiesigen Zuständigkeitsbereich gelegene Gericht ist.
2. Der Senat hat das Amtsgericht Hannover als zuständiges Gericht bestimmt.
a) Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses gemäß § 4 InsO, § 281 ZPO entfällt, wenn die Verweisung willkürlich ist oder unter schweren Verfahrensfehlern leidet. Dabei kommt Willkür in einer Verweisung im Insolvenzverfahren in Betracht, wenn sie auf einer offensichtlich unzureichenden Erfassung des Sachverhaltes beruht. hiervon ist insbesondere auszugehen, wenn das Insolvenzgericht unter Verstoß gegen seine Amtsermittlungspflicht aus § 5 InsO dem nahe liegenden Verdacht auf eine gewerbsmäßige "Firmenbestattung" nicht nachgegangen ist und sich ohne Umschweife auf pauschale und substanzlose Angaben des Geschäftsführers verlassen hat (MüKo/InsO Ganter, 2. Aufl., § 3 Rn. 28 a. OLGR Celle 2004, 45 ff.. BGH NJW 2006, 847, 848). Bestehen Anhaltspunkte für einen vom allgemeinen Gerichtsstand des Insolvenzschuldners abweichenden Mittelpunkt einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit, hat das Insolvenzgericht vor einer etwaigen Verweisung den für die Zuständigkeit maßgeblichen Sachverhalt aufzuklären (OLGR München 2009, 637). Insbesondere muss das angegangene Gericht zur Zeit der Verweisung örtlich unzuständig sein (MusielakFoerste, ZPO, 7. Aufl., § 281 Rn 6. vgl.a. BGH NJW 1993, 1273).
b) Nach diesen Maßstäben, die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt, entfaltet der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Hannover vom 3. Juli 2009 keine Bindungswirkung. Gem. § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO ist das Insolvenzgericht ausschließlich zuständig, in dessen Bezirk der Mittelpunkt einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit liegt. Die örtliche Zuständigkeit nach § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO ist demnach nachrangig. Die erforderlichen Ermittlungen für die örtliche Zuständigkeit hat das Amtsgericht nicht durchgeführt.
Dem Amtsgericht Hannover war zum Zeitpunkt der Verweisung aufgrund der eigenen Angaben des Gesamtschuldners der Insolvenzschuldnerin bekannt, dass diese im Bezirk des Amtsgerichts Potsdam überhaupt gar keine Geschäftstätigkeit aufgenommen hatte, dort bereits die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt und diesen Antrag offenbar zurückgenommen hatte, jedenfalls nicht weiter verfolgte. Bei dieser Sachlage hätte es nahe gelegen, nicht nur mit dem Schreiben vom 22. Juni 2009 die Insolvenzschuldnerin darauf hinzuweisen, dass nicht näher dargelegt sei, im Bezirk des Amtsgerichts Hannover werde offenbar keine wirtschaftlich selbständige Tätigkeit mehr entfaltet. Vielmehr hätte das Amtsgericht Hannover im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht über die eigene örtliche Zuständigkeit weiter aufklären müssen, ob die Insolvenzschuldnerin zum einen tatsächlich im Bezirk des Amtsgerichts Potsdam keine Geschäftstätigkeiten entfaltet hatte und ob im Bezirk des Amtsgerichts Hannover eine wirtschaftliche Tätigkeit seitens der Insolvenzschuldnerin erfolgte oder Anhaltspunkte für eine Abwicklung vorlagen. Dieser Pflicht ist das Amtsgericht nicht nachgekommen. Hätte es insoweit eigene Ermittlungen angestellt, wäre das Ergebnis dasjenige gewesen, das der Entscheidung des Amtsgerichts Potsdam über die eigene örtliche Unzuständigkeit zugrunde liegt.
Der vom Amtsgericht Potsdam beauftragte Insolvenzverwalter hat ausgeführt: Die am 16. Januar 2009 beschlossene Sitzverlegung der Insolvenzschuldnerin ist am 10. März 2009 beim Amtsgericht Potsdam im Handelsregister eingetragen worden. Der erste Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens wurde unter dem 9. März 2009 gestellt und ist am 16. März 2009 beim Amtsgericht Potsdam eingegangen. Die Gläubiger des Unternehmens sitzen überwiegend im Raum H., L., W. und Umgebung. lediglich drei Gläubiger stammten aus Ha., Q. und F. Der VW Transporter, der einzige Vermögenswert der Gesellschaft, ist noch immer in H. polizeilich zugelassen. Geschäftsräume der Insolvenzschuldnerin waren nicht aufzufinden. Weder war ein Firmenschild vorhanden noch konnten Befragte Auskunft zu einem Sitz oder einer geschäftlichen Tätigkeit der Insolvenzschuldnerin erteilen. Der Geschäftsführer hat in einem persönlichen Gespräch bereits am 28. April 2009 eingeräumt, er habe lediglich ein nach außen nicht ausgewiesenes Untermietverhältnis zu einem unter der Postanschrift befindlichen Tonstudio begründet, eine Geschäftstätigkeit in N. aber nicht aufgenommen. Im Übrigen sind Vollstreckungsaufträge des zuständigen Obergerichtsvollziehers erfolglos geblieben, da die Insolvenzschuldnerin vor dem ersten Vollstreckungsversuch unbekannt verzogen war.
Diese Informationen legen den Verdacht (wohlgemerkt keinen Beweis) einer Firmenbestattung nahe. Hat aber das angegangene Insolvenzgericht bereits Kenntnis davon, dass die Insolvenzschuldnerin an ihrem eigentlichen Sitz keine Geschäftstätigkeit entfaltet hat und nach außen hin auch nicht in Erscheinung getreten ist, liegt der Gedanke der Zuständigkeitserschleichung nahe, damit viele Gläubiger aus dem ursprünglichen Geschäftsbereich nichts oder verspätet von der Einleitung des Insolvenzverfahrens erfahren (vgl. MüKo/InsOGanter, aaO., § 3 Rn. 40). Diesem ist dadurch Einhalt zu begegnen, dass die angerufenen Insolvenzgerichte vor einer Entscheidung über ihre eigene örtliche Unzuständigkeit Ermittlungen darüber aufzunehmen haben, ob eine solche Firmensitzverlagerung nur eine scheinbare ist oder das insolvente Unternehmen dort tatsächlich eine Geschäftstätigkeit aufgenommen und ernsthaft betrieben hat, sofern hierfür Anhaltspunkte bestehen. Das war hier aufgrund der Information des Geschäftsführers der Insolvenzschuldnerin über die Nichtaufnahme der Geschäfte am neuen Betriebssitz der Fall. Für eine wirtschaftliche Tätigkeit im Bezirk des Amtsgerichts Hannover sprechen die Existenz des einzigen Vermögenswerts der Insolvenzschuldnerin sowie des Wohnsitzes des Geschäftsführers am alten Sitz der Insolvenzschuldnerin im Bezirk des Amtsgerichts Hannover.
c) Der Verweisung fehlt die Willkür nicht deshalb, weil sie auf Antrag der Insolvenzschuldnerin ergangen ist. Dies kann zwar bei bestimmten Konstellationen der Fall sein, nicht aber, wenn - wie hier - ein zuständiges Gericht die Partei auf die angebliche Möglichkeit der Verweisung hinweist und sich diese Partei zuvor nicht zur Verweisung geäußert hatte (BGH NJW 2002, 3634, 3636), zumal das Amtsgericht Hannover seiner Amtsermittlungspflicht nicht nachgekommen ist.
Es bedarf deshalb keiner Entscheidung, ob der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Hannover schon deswegen keine Bindungswirkung entfaltet, weil er nicht begründet worden ist oder das Anschreiben des Amtsgerichts vom 22. Juni 2009 ausreicht, um zu erkennen, auf welche Gründe sich der Verweisungsbeschluss stützt.