Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 19.12.2002, Az.: 8 L 1823/99

Anschriftenfeld; Auslegung; Bekanntgabeadressat; Empfänger; Inhaltsadressat; Verwaltungsakt

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
19.12.2002
Aktenzeichen
8 L 1823/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 43396
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 13.01.1999 - AZ: 5 A 18/98

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Im Zweifel ist durch Auslegung zu ermitteln, ob derjenige, der im Anschriftenfeld des Verwaltungsakts aufgeführt ist, nicht nur der Bekanntgabe-, sondern auch der Inhaltsadressat des Verwaltungsakts ist. Dabei ist die Sicht eines verständigen Empfängers maßgebend. Außerdem sind die Begleitumstände, z.B. vorangegangene Erklärungen, zu berücksichtigen.

Tatbestand:

1

Die Klägerin wendet sich gegen einen Beitragsbescheid der Beklagten.

2

Die im Handelsregister des Amtsgerichts Groß-Gerau unter der Nr. D. eingetragene Klägerin ist die Organträgerin (Muttergesellschaft) der E. GmbH, die unter derselben Adresse wie sie in F. ansässig ist.

3

Da die E. GmbH seit dem 1. Januar 1988 in G. eine Niederlassung unterhält, zog die Beklagte sie durch Bescheid vom 17. April 1991 zu Kammerbeiträgen für 1988 bis 1991 heran. Gegen diesen Bescheid erhob die E. GmbH unter dem 27. Mai 1991 Widerspruch, den sie damit begründete, dass sie als Organgesellschaft der Klägerin nicht zur Gewerbesteuer veranlagt werde und daher kein Mitglied der Beklagten sei. Daraufhin teilte ihr die Beklagte mit, dass keine Veranlassung bestehe, den Beitragsbescheid aufzuheben, da Organgesellschaften Mitglieder der Industrie- und Handelskammern seien, in deren Bezirk sie Betriebsstätten unterhielten.

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Danach zog die Beklagte die E. GmbH durch Bescheid vom 12. Juli 1991 zu einem weiteren Kammerbeitrag für 1991 in Höhe von 914,80 DM heran. Diesen Bescheid sandte die Klägerin mit Schreiben vom 29. Juli 1991 an die Beklagte mit der Bitte zurück, den Bescheid an sie – die Klägerin – mit dem Vermerk “Depot G.“ zu richten; in dem zurückgesandten Bescheid hatte die Klägerin die Anschrift “ E. GmbH, H.“ durchgestrichen und das Anschriftenfeld mit ihrem Firmenstempel versehen. Daraufhin adressierte die Beklagte den Beitragsbescheid für 1991 an die “ A. GmbH für E. GmbH, G., I.“.

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Anschließend setzte sie den Kammerbeitrag für 1992 durch Bescheide vom 15. April 1992, 2. Juli 1992 und 11. Februar 1993, ebenfalls adressiert an die “ A. GmbH für E. GmbH, G., I.“, auf 12.754,16 DM fest.

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In der Folgezeit führte das Finanzamt J. eine Betriebsprüfung bei der E. GmbH durch. Danach setzte es den Gewerbesteuermessbetrag für 1990 durch Bescheid vom 20. Juni 1997 auf 277.307,52 DM fest.

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In Anschluss daran setzte die Beklagte durch Bescheid vom 22. Dezember 1997, den sie an die “ A. GmbH für E. GmbH, G., I.“ adressierte, die Kammerbeiträge für 1992, 1993 und 1994 auf 20.354,80 DM, 12.090.55 DM und 9.456,99 DM fest. Zugleich verlangte sie die Zahlung der rückständigen Beiträge von 7.600,64 DM für 1992, 1.515,12 DM für 1993 und 1.318,96 DM für 1994.

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Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin unter dem 12. Januar 1998 Widerspruch, mit dem sie geltend machte, dass die Beitragsnachforderung für 1992 verjährt sei. Die Festsetzungsfrist, die nach § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO vier Jahre betrage, sei am 31. Dezember 1996 abgelaufen. Die steuerliche Betriebsprüfung bei der E. GmbH habe die Verjährung nicht gehemmt, da § 171 Abs. 4 AO nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juni 1986 (1 C 8.86) für Beitragsansprüche nicht gelte.  

9

Diesen Widerspruch wies die Beklagte durch Bescheid vom 12. März 1998 mit der Begründung zurück, dass sie den Kammerbeitrag für 1992 vor Ablauf der Festsetzungsfrist festgesetzt habe. Die Festsetzungsfrist werde nach § 171 Abs. 10 AO erst ein Jahr nach Erlass des Gewerbesteuermessbescheides vom 20. Juni 1997 enden. Dem könne die Klägerin das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juni 1986 nicht entgegen halten, weil dieses Urteil seit Inkrafttreten des § 171 Abs. 10 AO überholt sei.

10

Die Klägerin hat daraufhin am 26. März 1998 Klage erhoben und erneut geltend gemacht, dass der Beitragsbescheid, soweit er das Jahr 1992 betreffe, wegen Festsetzungsverjährung rechtswidrig sei. Die Betriebsprüfung habe den Ablauf der Festsetzungsfrist nicht gehemmt. Das Bundesverwaltungsgericht habe entschieden, dass die in § 146 a Abs. 3 RAO vorgesehene Ablaufhemmung Beitragsansprüche nicht betreffe. Für § 171 Abs. 4 AO, der an die Stelle des § 146 a Abs. 3 RAO getreten sei, gelte nichts anderes. Daher sei § 171 Abs. 10 AO nicht anwendbar.

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Die Klägerin hat sinngemäß beantragt,

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den Bescheid der Beklagten vom 22. Dezember 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 12. März 1998 aufzuheben, soweit er den Kammerbeitrag für 1992 betrifft.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen,

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und erwidert, dass der Beitragsanspruch für 1992 nach § 171 Abs. 10 AO nicht verjährt sei.

16

Das Verwaltungsgericht hat der Klage durch Urteil vom 13. Januar 1999 mit der Begründung stattgegeben, dass der angefochtene Bescheid mangels Beitragspflicht der Klägerin rechtswidrig sei. Der Beitragsbescheid richte sich nicht an die E. GmbH, sondern die Klägerin, weil die Beklagte die Klägerin für ihre Tochtergesellschaft zu Kammerbeiträgen herangezogen habe. Die Klägerin sei der Beklagten jedoch nicht beitragspflichtig, da sie nach § 2 IHKG nicht deren Mitglied sei. Die Klägerin unterhalte im Kammerbezirk der Beklagten keine Betriebstätte, weil die Niederlassung in G. der E. GmbH gehöre. Dass nicht die Klägerin, sondern die E. GmbH Mitglied der Beklagten sei, ergebe sich auch aus § 3 Abs. 1 der Beitragsordnung der Beklagten. Im Übrigen sei klarzustellen, dass der Kammerbeitrag für 1992 rechtzeitig festgesetzt worden sei. Entgegen der Annahme der Klägerin sei keine Festsetzungsverjährung eingetreten, weil die Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 10 AO, der sinngemäß anwendbar sei, erst ein Jahr nach Bekanntgabe des Gewerbesteuermessbescheides des Finanzamts J. vom 20. Juni 1997 geendet habe. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juni 1986 stehe dem nicht entgegen, weil es zu der vor Inkrafttreten des § 171 Abs. 10 AO geltenden Rechtslage ergangen sei.

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Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten, die der Senat durch Beschluss vom 21. April 1999 (8 L 891/99) zugelassen hat.

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Die Beklagte trägt zur Begründung ihrer Berufung vor, dass sie den angefochtenen Bescheid nicht an die Klägerin, sondern die E. GmbH gerichtet habe, die mit ihrer Betriebsstätte in G. kammerzugehörig und damit beitragspflichtig sei. Sie habe 1991 mit der Klägerin und der E. GmbH einen Schriftwechsel darüber geführt, an wen die die Niederlassung in G. betreffenden Beitragsbescheide zu richten seien. Im Rahmen dieses Schriftwechsels habe die Klägerin den Beitragsbescheid vom 12. Juli 1991, der an die E. GmbH adressiert gewesen sei, mit der Bitte zurückgesandt, diesen an die Klägerin mit dem Vermerk “Depot G.“ zu richten. Diesem Wunsch habe sie  – die Beklagte – entsprochen, indem sie die die E. GmbH betreffenden Beitragsbescheide der Klägerin mit dem Hinweis “ A. GmbH für E. GmbH“ zugeleitet habe. 

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Die Beklagte beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg – 5. Kammer – vom 13. Januar 1999 zu ändern und die Klage abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen,

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und erwidert, dass der angefochtene Beitragsbescheid rechtswidrig sei, weil die Beklagte sie zu Kammerbeiträgen herangezogen habe, obwohl sie nicht beitragspflichtig sei. Die Beklagte könne nicht mit Erfolg geltend machen, dass sie sich über die Adressierung des Beitragsbescheides verständigt hätten, da ihnen die Rechtslage nicht bekannt gewesen sei. Im Übrigen sei der Beitragsbescheid rechtswidrig, weil die Zwangsmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer und die zwangsweise Erhebung von Kammerbeiträgen verfassungswidrig sei. Außerdem sei der Beitragsanspruch für 1992 aus den im erstinstanzlichen Verfahren angeführten Gründen verjährt. 

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Beiakte A bis C) Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.

26

Der Zulässigkeit der Berufung steht nicht entgegen, dass der Schriftsatz vom 20. Mai 1999, mit dem die Beklagte ihre Berufung begründet hat, keinen ausdrücklichen Antrag enthält. Der Schriftsatz schließt nämlich mit der Feststellung, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage abzuweisen seien. Damit hat die Beklagte unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie das erstinstanzliche Urteil in vollem Umfang angreift und die Abweisung der Klage begehrt. Daher genügt die Berufungsbegründung den Maßgaben des § 124 a Abs. 3 Satz 4 VwGO a. F., der in diesem Verfahren nach § 194 Abs. 1 Nr. 1 VwGO n. F. zur Anwendung gelangt (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 7. Auflage, § 124 a, RdNr. 19; Schoch/Schmidt-Assmann/Pietzner, VwGO, Kommentar, § 124 a, RdNr. 105, m.w.N.).

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Die Berufung ist auch begründet.

28

Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben, weil die Klage nach § 42 Abs. 2 VwGO nicht zulässig ist. Denn die Klägerin kann nicht geltend machen, durch den angefochtenen Beitragsbescheid in ihren Rechten verletzt zu sein, da dieser Bescheid nicht an sie gerichtet ist und sie daher nicht beschwert.

29

Die Beklagte hat den Beitragsbescheid vom 22. Dezember 1997 an die “ A. GmbH für E. GmbH, G., K.“ adressiert. Damit hat sie entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht die Klägerin, sondern die E. GmbH, die im Kammerbezirk der Beklagten eine Niederlassung hat, zu Kammerbeiträgen herangezogen.

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Der materielle Adressat (Inhaltsadressat) eines Verwaltungsakts ist derjenige, der durch die hoheitliche Regelung verpflichtet oder berechtigt werden soll (Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, Kommentar, 6. Aufl., § 37, Rn. 15). Dieser ist in der Regel auch der Bekanntgabeadressat, d. h. derjenige, dem der Verwaltungsakt bekannt gegeben wird (Stelkens/Bonk/Sachs, § 37, Rn. 15 a; Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 7. Aufl., § 41, Rn. 27). Inhalts- und Bekanntgabeadressat können aber auch auseinanderfallen, da die Behörde befugt ist, Verwaltungsakte auch gegenüber Vertretern, Bevollmächtigten, Empfangsbevollmächtigten oder Empfangsboten bekannt zu geben (Stelkens/Bonk/Sachs, § 37 Rn. 15 a; Kopp/Ramsauer, § 41, Rn. 8, 51). Im Zweifel ist durch Auslegung zu ermitteln, ob der im Anschriftenfeld des Verwaltungsakts Genannte nicht nur der Bekanntgabe-, sondern auch der Inhaltsadressat des Verwaltungsakts ist (Stelkens/Bonk/Sachs, § 37, Rn. 15, 15 f., m.w.N.). Dabei ist die Sicht eines verständigen Empfängers maßgebend. Außerdem sind – was das Verwaltungsgericht übersehen hat - die Begleitumstände, z. B. vorangegangene Erklärungen, zu berücksichtigen (Stelkens/Bonk/Sachs, § 37, Rn. 15, 15 i; Kopp/Ramsauer, § 37, Rn. 10; BFH, Urt. v. 17.7.1986 – VR 96/85 - BFHE 147, 211, 214 [BFH 17.07.1986 - V R 96/85]).

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Die Auslegung des angefochtenen Bescheides unter Berücksichtigung der ihm vorausgegangenen Korrespondenz zwischen der Beklagten, der Klägerin und der E. GmbH ergibt, dass die Beklagte nicht die Klägerin, sondern die E. GmbH zur Zahlung der Kammerbeiträge für 1992 bis 1994 herangezogen hat.

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Die Beklagte hat die E. GmbH durch Bescheid vom 14. April 1991 zu Kammerbeiträgen für 1988 bis 1991 veranlagt. Außerdem hat sie den Beitragsbescheid vom 12. Juli 1991 an die E. GmbH gerichtet. Diesen Bescheid hat die Klägerin der Beklagten mit der Bitte zurückgesandt, ihn an sie  - die Klägerin - mit dem Vermerk “Depot G.“ zu richten; in dem zurückgesandten Bescheid war die Anschrift “ E. GmbH, H.“ durchgestrichen und das Anschriftenfeld mit dem Firmenstempel der Klägerin versehen worden.

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Daraufhin konnte die Beklagte ohne weiteres davon ausgehen, dass es dem Wunsch der E. GmbH und der Klägerin entsprach, den die E. GmbH betreffenden Beitragsbescheid für 1991 an die Klägerin als Empfangsbevollmächtigte ihrer Tochtergesellschaft zu senden. Ferner durfte die Beklagte mangels gegenteiliger Anhaltspunkte annehmen, dass sie auch in den Folgejahren in dieser Weise verfahren sollte. Andererseits musste die Klägerin bei sachgerechter Würdigung der Umstände damit rechnen, dass die Beklagte sie von nun an als Empfangsbevollmächtigte der E. GmbH betrachten würde. Daher musste sie davon ausgehen, dass die Beklagte die ihre Tochtergesellschaft betreffenden Beitragsbescheide in Zukunft nicht mehr der E. GmbH, sondern ihr zusenden würde, zumal Verwaltungsakte auch gegenüber Empfangsbevollmächtigten bekannt gegeben werden dürfen. 

34

Angesichts dessen ist für einen verständigen Empfänger des angefochtenen Bescheides, den die Beklagte ausdrücklich mit dem Hinweis “für E. GmbH“ versehen hat, offensichtlich, dass die E. GmbH und nicht die Klägerin zur Zahlung der Kammerbeiträge herangezogen worden ist. Das gilt umso mehr, als die Beklagte der Klägerin und der E. GmbH schon 1991 mitgeteilt hatte, dass die E. GmbH beitragspflichtig sei, und diesen Rechtsstandpunkt auch in der Folgezeit nicht aufgegeben hat. Daher bestand für die Klägerin kein Anlass zu der Annahme, die Beklagte fordere die Kammerbeiträge nicht mehr von der E. GmbH, sondern von ihr. Infolgedessen ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin für die Tätigkeit der E. GmbH zu Kammerbeiträgen herangezogen worden sei, nicht zutreffend.

35

Da die Klage mangels Beschwer der Klägerin unzulässig ist, kann dahinstehen, ob der Beitragsbescheid im angefochtenen Umfang rechtmäßig ist. Begründete Zweifel daran bestehen aber nicht. Zum einen ist die E. GmbH mit ihrer Niederlassung in G. aus den vom Verwaltungsgericht dargelegten Gründen Mitglied der Beklagten und damit beitragspflichtig; entgegen der Annahme der Klägerin ist die Zwangsmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer und die damit verknüpfte Beitragslast insbesondere verfassungsgemäß (BVerfG, Beschl. v. 7.12.2001 – 1 BvR 1806/98 – VBlBW 2002, S. 407). Zum anderen ist der Beitragsbescheid vor dem Ablauf der Festsetzungsfrist und damit rechtzeitig erlassen worden. Die diesbezüglichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts geben die Rechtslage zutreffend wider.