Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 15.03.2004, Az.: 7 B 1061/04

Apothekenrecht; Filialapotheke; Notstand der Arzneimittelversorgung; Rezeptsammelstelle; Zweigapotheke

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
15.03.2004
Aktenzeichen
7 B 1061/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 50537
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG Niedersachsen - 03.11.2004 - AZ: 8 ME 80/04

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein "Notstand in der Arzneimittelversorgung", welcher nach § 16 Abs. 1 ApoG Voraussetzung für die Erteilung einer Erlaubnis zum Betrieb einer Zweigapotheke ist, liegt nur in Ausnahmesituationen vor. Voraussetzung dafür ist, dass in einem Gebiet ohne die Zweigapotheke Arzneimittel auch in Notfällen nur unter ganz ungewöhnlichen Schwierigkeiten beschafft werden können, so dass latente Gefahren für Leib und Leben einer nicht unerheblichen Zahl betroffener Personen bestehen.

Diese Voraussetzungen sind nicht schon deshalb erfüllt, weil ein Anspruch auf Einrichtung einer Rezeptsammelstelle (§ 24 ApBetrO) besteht.

Gründe

1

Der Antragsteller ist Inhaber der K. -Apotheke in N., Ortsteil A.. Er betreibt zudem auf Grund einer erstmals 1984 erteilten und seither mehrfach verlängerten Erlaubnis der Antragsgegnerin die etwa 7 km entfernte Apotheke im Ortsteil S. der Gemeinde B. als Zweigapotheke. Sein Antrag vom 28. Januar 2004 auf Verlängerung dieser Erlaubnis um weitere fünf Jahre ist mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. Februar 2004 abgelehnt worden. Über den hiergegen vom Antragsteller erhobenen Widerspruch ist noch nicht entschieden.

2

Der Antragsteller hat um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und beantragt, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm bis zur unanfechtbaren Entscheidung über seinen Antrag vom 28. Januar 2004 zu gestatten, die Apotheke S. als Zweigapotheke der Kiebitz-Apotheke zu betreiben.

3

Dieses nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu beurteilende Begehren ist unbegründet. Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung fehlt ein sog. Anordnungsanspruch, d.h. ein materielles Recht des Antragstellers auf die von ihm erstrebte Erlaubnis.

4

Nach § 16 Abs. 1 des Apothekengesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Oktober 1980 (BGBl. I S. 1993), zuletzt geändert durch Gesetz vom 14. November 2003 (BGBl. I S. 2190) - ApoG - kann die zuständige Behörde dem Inhaber einer nahegelegenen Apotheke auf Antrag die Erlaubnis zum Betrieb einer Zweigapotheke erteilen, wenn infolge Fehlens einer Apotheke ein Notstand in der Arzneimittelversorgung eintritt und der Apotheker die für den Betrieb einer Zweigapotheke vorgeschriebenen Räume nachweist.

5

Der Begriff „N o t s t a n d in der Arzneimittelversorgung“ kennzeichnet entgegen der Rechtsauffassung des Antragstellers Ausnahmesituationen. Er ist nur dann erfüllt, wenn in einem Gebiet ohne die Zweigapotheke Arzneimittel auch in Notfällen nur unter ganz ungewöhnlichen Schwierigkeiten beschafft werden können, so dass latente Gefahren für Leib und Leben einer nicht unerheblichen Zahl betroffener Personen bestehen (vgl. auch VGH Mannheim, Beschluss vom 1. April 2003 - 9 S 2149/02 - NVwZ-RR 2003, 644 [VGH Baden-Württemberg 01.04.2003 - 9 S 2149/02] <645>; VG Greifswald, Urteil vom 12. Dezember 1994 - 2 A 924/93 - LKV 1995, 261 <263>). Angesichts der in der Bundesrepublik Deutschland derzeit vorhandenen verkehrlichen Infrastruktur und modernen Kommunikationsmöglichkeiten, sowie der im Allgemeinen hohen Apothekendichte werden diese Voraussetzungen nur extrem selten erfüllt sein. Hierfür spricht indirekt der Vortrag des Antragstellers, dass selbst in den neuen Bundesländern in den Jahren 2001 bis 2003 lediglich in vier Fällen eine Erlaubnis zum Betrieb einer Zweigapotheke erteilt worden ist.

6

§ 16 Abs. 1 ApoG bedarf nicht deshalb einer weitergehenden Auslegung, weil seit dem 1. Januar 2004 - abweichend vom bisherigen Recht - neben der Hauptapotheke der Betrieb von bis zu drei Filialapotheken zulässig sein kann (§ 1 Abs. 2, § 2 Abs. 4 ApoG). Der Gesetzgeber hat trotz dieser grundlegenden Änderung des Apothekenrechts die Vorschrift des § 16 ApoG über Zweigapotheken unverändert gelassen. Dies findet - auch im Hinblick auf die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG) - seine Rechtfertigung darin, dass für Zweigapotheken - im Vergleich zu anderen Apotheken, insbesondere auch Filialapotheken - nach § 4 Abs. 3 der Apothekenbetriebsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. September 1995 (BGBl. I S. 1195), zuletzt geändert durch Gesetz vom 14. November 2003 (BGBl I. S. 2190) - ApBetrO - weniger strenge Anforderungen an Beschaffenheit, Größe und Einrichtung der Betriebsräume gelten. So besteht nicht die Verpflichtung, ein Laboratorium vorzuhalten. Auch eine Mindestgröße der Räumlichkeiten ist nicht vorgeschrieben (vgl. auch Cyran/Rotta, ApBetrO, Stand: 1. März 1990, Rn. 116 zu § 4). Eine zu großzügige Zulassung von Zweigapotheken würde mithin zu einer Umgehung der Regelungen für (Filial-) Apotheken führen und dem Inhaber der Zweigapotheke einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil verschaffen.

7

Die Voraussetzungen des § 16 Abs. 1 ApoG sind nicht schon dann erfüllt, wenn ein Anspruch auf Errichtung einer Rezeptsammelstelle besteht (vgl. auch VG Greifswald a.a.O. <S. 262>). Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 ApBetrO ist eine Erlaubnis hierfür zu erteilen, wenn diese zur ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung von abgelegenen Orten oder Ortsteilen ohne Apotheke erforderlich ist. Diese Voraussetzungen sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfüllt, wenn der Weg zur nächstgelegenen oder -erreichbaren Apotheke und zurück mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mindestens einmal vormittags und nachmittags mit einem Zeitaufwand von nicht mehr als einer Stunde möglich ist. Als grobes Richtmaß für die hinnehmbare Entfernung sind 6 km angenommen worden (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juli 1974 - I C 24.73 - BVerwGE 45, 331 <338 f.>).

8

§ 16 Abs. 1 ApoG ist schon nach seinem Wortlaut strenger als § 24 Abs. 1 Satz 2 ApBetrO. Denn eine Zweigapotheke muss für die Arzneimittelversorgung nicht nur „erforderlich“ sein, sondern ihre Zulassung setzt einen diesbezüglichen „Notstand“ voraus. Darüber hinaus ist die Erteilung der Erlaubnis für den Betrieb einer Zweigapotheke selbst bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen in das pflichtgemäße Ermessen der zuständigen Behörde gestellt („kann“), während auf eine Erlaubnis zum Betrieb einer Rezeptsammelstelle dann ein Rechtsanspruch besteht („ist“). Die Rezeptsammelstelle ist ein verschlossenes Behältnis, in dem Verschreibungen gesammelt werden (§ 24 Abs. 3 ApBetrO). Sie ist damit weniger als eine Zweigapotheke geeignet, zu einer Umgehung der für (Filial-) Apotheken geltenden Regelungen zu führen. Rezeptsammelstellen sollen nicht die Funktionen von Notfall- oder Bereitschaftsapotheken erfüllen, sondern den Aufwand für die Beschaffung eines Medikaments auf ein zumutbares Maß reduzieren (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 1978 - 1 C 35.76 - BVerwGE 56, 186 <193>).

9

Ob, wie die Antragsgegnerin erwogen hat, § 24 Abs. 1 Satz 2 ApBetrO im Hinblick auf die seit dem 1. Januar 2004 bestehenden weitergehenden Möglichkeiten, Medikamente zu versenden (§ 11 a ApoG) einschränkender als bisher zu interpretieren ist, bedarf deshalb aus Anlass des vorliegenden Falles keiner Beurteilung.

10

Bei Anwendung der vorstehenden Grundsätze besteht in der Ortschaft S. kein Notstand in der Arzneimittelversorgung im Sinne des § 16 Abs. 1 ApoG.

11

Die etwa 7 km entfernte Apotheke des Antragstellers kann von S. über eine Landesstraße mit einem Kraftfahrzeug in wenigen Minuten erreicht werden. Weitere acht Apotheken befinden sich nach den Angaben des Antragstellers in einer Entfernung von 8,0 bis 10,6 km. Nach dem bereits zitierten Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 12. Dezember 1994 (a.a.O. , <S. 263>) liegt selbst bei einer Entfernung von 16 km zu der nächsten Apotheke noch kein Notstand vor.

12

Zwar verfügt offenbar eine erhebliche Anzahl der Einwohner von S. auf Grund ihres Alters nicht über Kraftfahrzeuge, so dass sie zum Erreichen einer anderen Apotheke das unzureichende öffentliche Nahverkehrsnetz nutzen müssen. Dies kann - anders als bei Rezeptsammelstellen - für die Beurteilung eines Notstandes im Sinne des § 16 Abs. 1 ApoG aber nicht von ausschlaggebender Bedeutung sein (vgl. auch VG Greifswald a.a.O.). In Notsituationen ist ein schnelles Handeln erforderlich. Hierfür ist die Benutzung des öffentlichen Nahverkehrssystems von vornherein ungeeignet. Darüber hinaus können die Betroffenen sich in solchen Notlagen regelmäßig auch dann nicht selbst helfen, wenn in der Nähe eine Apotheke betrieben wird, sind also auf die Mitwirkung Anderer angewiesen. In diesen Fällen Hilfe zu leisten ist ggfs. Rechtspflicht (§ 323 c StGB). Zutreffend hat die Antragsgegnerin auch darauf hingewiesen, dass nach den Angaben des Antragstellers 55 % der Einwohner der Ortschaft S. in Streusiedlungen außerhalb des Ortskerns wohnen. Die dort lebenden Personen sind somit auch bei einem Aufsuchen der Apotheke S. auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen.

13

Soweit der Antragsteller auf einen angeblich besonders losen sozialen Verbund in der Ortschaft S. und von einem „gleichsam städtischen Gepräge im Kleinen“ berichtet, ändert dies nach dem Vorstehenden an der rechtlichen Beurteilung nichts.

14

Auch mit Rücksicht auf das in S. betriebene Pflegeheim ist eine andere Beurteilung nicht gerechtfertigt. Denn in diesem ist Personal vorhanden, welches sich um die Beschaffung der für die Bewohner notwendigen Medikamente kümmern kann. Außerdem besteht die Möglichkeit, mit dem Antragsteller oder einem anderen Apotheker einen Vertrag über die Versorgung mit Arzneimitteln und apothekenpflichtigen Medizinprodukten zu schließen (§ 12 a ApoG).

15

Hinzu kommt, worauf die Antragsgegnerin mit Recht hinweist, dass § 11 a ApoG nunmehr auf Grund telefonischer oder elektronischer Bestellung eine Versendung von Medikamenten ermöglicht. Dies soll auch dazu dienen, chronisch Kranken, immobilen Patienten, älteren Bürgern, Berufstätigen oder Kunden mit größeren Entfernungen zur nächsten Apotheke entgegenzukommen (vgl. BT-Drs. 15/1170, S. 134 f.). Nach dem offiziellen Gesundheitsportal der deutschen Apotheker (www.aponet.de) nehmen an dem elektronischen Bestellsystem vier Apotheken aus Nordenham teil.

16

Aus dem Umstand, dass dem Antragsteller der Betrieb einer Zweigapotheke in S. etwa 20 Jahre lang erlaubt worden ist, ergibt sich keine andere Beurteilung. Denn er ist bereits mit Schreiben der Antragsgegnerin vom 15. Juni 1999 darauf hingewiesen worden, dass nach dortiger Auffassung die Voraussetzungen für die erneute Erteilung der Erlaubnis nicht vorlägen und mit deren weiterer über den 14. März 2004 hinausgehender Verlängerung nicht zu rechnen sei. Der Antragsteller konnte sich mithin fast fünf Jahre darauf einrichten, dass der Betrieb der Zweigapotheke in S. nicht wieder zugelassen wird. Ein etwaiger Vertrauensschutz ist hierdurch angemessenen berücksichtigt worden.

17

Da aus den früheren befristeten Erlaubnissen darüber hinaus kein Anspruch auf eine erneute Zulassung abgeleitet werden kann, bedürfen diese Entscheidungen der Antragsgegnerin hier keiner gerichtlichen Beurteilung.

18

Auch dass es sich bei der Apotheke S. um die frühere aus Familienbesitz herrührende Stammapotheke des Antragstellers handelt und die Apotheke in S. schon ein lange Tradition hat, vermag die Voraussetzungen des § 16 Abs. 1 ApoG nicht außer Kraft zu setzen. Wenn es dem Antragsteller ein besonderes persönliches Anliegen ist, die Einwohner von S. mit Medikamenten zu versorgen, steht ihm nach der seit dem 1. Januar 2004 geltenden Rechtslage die Möglichkeit offen, die dortige Apotheke als Filialapotheke entsprechend den Regelungen der ApBetrO zu betreiben.