Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 15.07.2024, Az.: 4 A 1697/20

Baugrenze; Baulinie; Bebauung im rückwärtigen Bereich; Fluchtlinienplan; Zur Zulässigkeit der Bebauung im rückwärtigen Bereich; Zur Auslegung einer Baufluchtlinie nach § 1 Abs. 4 Pr. FluchtlinienG als Baulinie oder Baugrenze

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
15.07.2024
Aktenzeichen
4 A 1697/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 18954
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2024:0715.4A1697.20.00

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 21.01.2019 sowie des Widerspruchsbescheides vom 30.01.2020 verpflichtet, den Klägern auf ihren Bauantrag einen Bauvorbescheid über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens (mit Ausnahme der Garage) zu erteilen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Vollstreckungsschuldnerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

Die Kläger begehren die Erteilung einer Baugenehmigung/eines Bauvorbescheides für ein Einfamilienhaus.

Sie sind Eigentümer des Grundstücks mit der Flurstücksbezeichnung H.. Das Grundstück mit einer Größe von 1.226 m2 liegt im Geltungsbereich des Fluchtlinienplanes Nr. I., der am 31.05.1935 in Kraft getreten ist. Der Fluchtlinienplan wurde durch seine 1. Änderung im Jahr 1969 geändert. Die Änderung betrifft allerdings nicht das streitbefangene Grundstück. Der Fluchtlinienplan setzt zur J. eine Straßenfluchtlinie und davon abgesetzt eine Baufluchtlinie fest. Der Bereich zwischen der Straßenfluchtlinie und der Baufluchtlinie wird als "Vorgarten" bezeichnet. Die an der Straße J. gelegenen Grundstücke weisen mit Ausnahme des (benachbarten) Grundstücks K. keine Wohnbebauung im rückwärtigen Bereich auf. Die weiter südlich gelegenen, von der Straße L. erschlossenen Grundstücke weisen Wohnbebauung im rückwärtigen Bereich auf.

Am 25.09.2018 beantragten die Kläger die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung eines Einfamilienhauses mit Garage im rückwärtigen Bereich des Grundstücks.

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Mit Bescheid vom 21.01.2019 lehnte die Beklagte die Erteilung der Baugenehmigung ab. Der Fluchtlinienplan bestimme die überbaubare Grundstücksfläche durch Baufluchtlinien. Diese seien als Baulinien im Sinne von § 23 BauNVO zu verstehen und setzten eine straßenseitige Bebauung fest, so dass die geplante Hinterliegerbebauung planungsrechtlich unzulässig sei. Die Erteilung einer Befreiung komme nicht in Betracht, da die Grundzüge der Planung berührt seien.

Den Widerspruch der Kläger, der im Wesentlichen die Wirksamkeit der Festsetzungen des Fluchtlinienplanes in Frage stellte mit der Folge, dass das Vorhaben nach § 34 BauGB zu beurteilen sei und sich einfüge, wies die Beklagte mit Bescheid vom 30.01.2020 - zugestellt am 07.02.2020 - zurück. Der Fluchtlinienplan Nr. I. sei wirksam übergeleitet und auch nicht funktionslos geworden. Im Übrigen sei das Vorhaben auch bei einer Beurteilung auf der Grundlage von § 34 BauGB nicht zulässig, da es sich nicht einfüge. Die Baukörper auf den Grundstücken J. 2 bis 20 (gerade) präsentierten sich einheitlich. Die Grundstücke seien straßenseitig bebaut und frei von Hinterlandbebauung. Lediglich am westlichen und am östlichen Ende finde sich "Kopfbebauung". Die südlich angrenzende Bebauung könne diesem Bereich nicht zugerechnet werden und scheide als Referenz aus. Bei der Bebauung (in zweiter Reihe) auf dem Grundstück K. handele es sich um einen "Ausreißer", der nicht maßstabsbildend sei.

Am 06.03.2020 haben die Kläger Klage erhoben. Im Hinblick auf die Erklärung der Beklagten in der mündlichen Verhandlung, dass noch nicht geprüft worden sei, ob die Garage wegen der langen Zufahrt an der Grundstücksgrenze gegen das Rücksichtnahmegebot verstoße, und auch die Untere Bodenschutzbehörde noch nicht beteiligt worden sei, haben die Kläger ihre Klage umgestellt auf die Erteilung eines bauplanungsrechtlichen Bauvorbescheides unter Ausklammerung der Garage.

Sie hätten einen Anspruch auf Erteilung des begehrten Bauvorbescheides.

Der Fluchtlinienplan sei bereits deswegen unwirksam, weil er nicht dem bei seinem Inkrafttreten geltenden Recht entsprochen habe. Gemäß § 4 des Preußischen Fluchtliniengesetzes vom 02.07.1875 (Pr. FluchtlinienG) müsse jede Festsetzung von Fluchtlinien im Sinne von § 1 des Gesetzes eine genaue Bezeichnung der davon betroffenen Grundstücke und Grundstücksteile und eine Bestimmung der Höhenlage sowie der beabsichtigten Entwässerung der betreffenden Straßen und Pläne enthalten. Daran fehle es.

Es sei nicht nachvollziehbar, ob der Fluchtlinienplan Nr. I. wirksam (gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 übergeleitet worden) sei. Die Beklagte habe Unterlagen dazu trotz Aufforderung nicht vorlegen können. Es spreche Überwiegendes dafür, dass sich die rechtliche Beurteilung der bauplanungsrechtlichen Situation allein oder über § 30 Abs. 3 BauGB nur nach § 34 BauGB zu richten habe.

Im Übrigen stehe der Fluchtlinienplan der Erteilung der Baugenehmigung nicht entgegen, weil eine Hinterlandbebauung nicht ausgeschlossen werde. Die Baufluchtlinie sei nicht vergleichbar einer Baulinie, sondern entspreche einer Baugrenze. Jedenfalls aber mit der 1. Änderung habe der Plangeber die Baufluchtlinie (konkludent) aufgegeben.

Bei einer Beurteilung gemäß § 34 BauGB müsse das Gebiet betrachtet werden, das im Norden durch die Straße J., im Westen durch die Straße M., im Süden durch die Straße L. und im Osten entweder durch die N. oder durch die Straße O. begrenzt werde. Für das Kriterium "Grundstücksfläche, die überbaut werden soll" komme es auf die Gebäudestandorte innerhalb der Grenzen dieser Umgebung an. Danach füge sich das Vorhaben ein.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid der Beklagten vom 21.01.2019 und den Widerspruchsbescheid vom 30.01.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihnen einen bauplanungsrechtlichen Vorbescheid für das zur Genehmigung gestellte Vorhaben mit Ausnahme der Garage zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Verfahrensakten zu dem Fluchtlinienplan Nr. I. seien nicht mehr im Archiv des Bauamtes vorhanden. Grund dafür sei wahrscheinlich der Verlust des Bauamt-Archivs gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Fluchtlinienplan Nr. I., 1. Änderung, sei am 17.09.1969 bekanntgemacht worden. Auch von ihm ließen sich keine Verfahrensakten auffinden.

Unter Vertiefung des Vorbringens aus der Begründung der angefochtenen Bescheide vertritt die Beklagte die Auffassung, die Kläger hätten keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Baugenehmigung. Der Fluchtlinienplan sei gemäß § 173 Abs. 3 BBauG erfolgreich übergeleitet, da er verbindliche Festsetzungen im Sinne des § 9 BBauG enthalte. Es gebe keine Anhaltspunkte, dass er aufgehoben worden sein könnte, und er sei auch nicht funktionslos geworden.

Zu den Wohnhäusern auf den Grundstücken P. und Q., die nicht auf der Baulinie errichtet worden seien, sei anzumerken, dass für die Bebauung auf dem Grundstück P. im Jahr 1960 eine Befreiung erteilt worden sei. Für die Bebauung Q., die im Jahr 1982 baugenehmigt worden sei, sei anhand des Verwaltungsvorgangs nicht nachvollziehbar, auf welcher Grundlage die Baugenehmigung erteilt worden sei.

Im Übrigen sei das Bauvorhaben aus den im Widerspruchsbescheid genannten Gründen auch gemäß § 34 BauGB planungsrechtlich unzulässig.

Das Gericht hat das Baugrundstück und die nähere Umgebung in Augenschein genommen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift und die gefertigten Lichtbildaufnahmen verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig. Mit der Umstellung der Klage von der Verpflichtung zur Erteilung einer Baugenehmigung auf Verpflichtung zur Erteilung eines bauplanungsrechtlichen Vorbescheides tragen die Kläger dem Umstand Rechnung, dass der ursprüngliche Streitgegenstand zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht entscheidungsreif war, weil die Beklagte noch nicht alle für die Erteilung einer Baugenehmigung maßgeblichen Punkte geprüft hat. Das Gericht erachtet die Klageänderung als sachdienlich, § 91 Abs. 1 Alt. 2 VwGO).

Die Klage ist auch begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten. Die Kläger haben einen Anspruch auf Erteilung des begehrten Bauvorbescheides nach § 73 Abs. 1 Satz 1 NBauO (§ 113 Abs. 5 VwGO). Das Bauvorhaben ist gem. § 70 Abs. 1 Satz 1 NBauO i.V.m. §§ 30 ff. BauGB mit dem allein zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens gemachten Bauplanungsrecht vereinbar.

Die Festsetzungen des Fluchtlinienplans Nr. I. stehen dem Vorhaben nicht entgegen. Dieser setzt keine Baulinie im Sinne von § 23 Abs. 2 BauNVO fest.

Der Fluchtlinienplan Nr. 705 aus dem Jahr 1935 setzt für die Grundstücke südlich der Straße Laher Heide eine Straßenfluchtlinie und davon abgesetzt eine Baufluchtlinie fest. Der Bereich zwischen den beiden Fluchtlinien trägt die Bezeichnung "Vorgarten". Rechtgrundlage für diese Festsetzung ist § 1 Abs. 4 Pr. FluchtlinienG. Danach bilden die Straßenfluchtlinien regelmäßig zugleich die Baufluchtlinien, das heißt die Grenzen, über welche hinaus die Bebauung ausgeschlossen ist (§ 1 Abs. 4 Satz 1). Aus besonderen Gründen kann aber eine von der Straßenfluchtlinie verschiedene, jedoch in der Regel höchstens 3 Meter von dieser zurückweichende Baufluchtlinie festgesetzt werden (§ 1 Abs. 4 Satz 2).

Für Fluchtlinienpläne sah § 173 Abs. 3 BBauG 1960 eine Überleitung vor. Sie gelten, sofern die Voraussetzungen für eine Überleitung vorliegen, gemäß § 233 Abs. 3 BauGB (als einfache Bebauungspläne) fort. Gemäß § 173 Abs. 3 BBauG galten die bei Inkrafttreten des Bundebaugesetzes bestehenden baurechtliche Vorschriften und festgestellten städtebaulichen Pläne als Bebauungspläne fort, soweit sie verbindliche Regelungen der in § 9 BBauG bezeichneten Art enthielten (zu den Voraussetzungen einer wirksamen Überleitung vgl. BVerwG, Urt. v. 01.09.2016 - 4 C 2.15 -, juris). Das Gericht unterstellt zugunsten der Beklagten, dass der Fluchtlinienplan Nr. 705 gemäß § 173 Abs. 3 BBauG wirksam übergeleitet wurde. Bei der Festsetzung der Baufluchtlinie handelt es sich aber um eine Baugrenze im Sinne von § 23 Abs. 3 BauNVO und entgegen der Ansicht der Beklagten nicht um eine Baulinie im Sinne von § 23 Abs. 2 BauNVO.

Es ist nicht möglich, den Vorgängen über die Planaufstellung zu entnehmen, was der Plangeber gewollt hat, weil diese Vorgänge während der Kriegswirren verloren gegangen sind. Den Festsetzungen selbst ist aber hinreichend deutlich das Gewollte zu entnehmen. Mit der Festsetzung "Vorgarten" für den Bereich zwischen der Straßenfluchtlinie und der Baufluchtlinie wird deutlich, dass mit der Baufluchtlinie (lediglich) die Anlage von Vorgärten bezweckt war (vgl. auch OVG Hamburg, Beschl. v. 14.06.2013 - 2 Bs 126/13 -, juris, Rn. 9; OVG Münster, Urt. v. 26.08.2004 - 7 A 4005/03 -, juris, Rn. 36). Auch das Niedersächsische OVG ging in einer Entscheidung zu einem Fluchtlinienplan der Beklagten aus dem Jahr 1934/1935, in dem ein Vorgartenbereich festgesetzt wird, davon aus, dass es sich um eine (vordere) Baugrenze handelt (Beschl. v. 15.11.2006 - 1 ME 194/06 -, juris, Rn. 7).

Die Beklagte beruft sich für ihre Auffassung, dass es sich nicht um eine Baulinie handelt, auf § 6 Abs. 3 der Bauordnung für den Bezirk der Hauptstadt A-Stadt vom 31.03.1930. Dort heißt es:

"Wo Baufluchtlinien nach Maßgabe dieses Gesetzes bestehen, müssen alle Gebäude in der Baufluchtlinie errichtet werden. Ein Zurücktreten der Gebäude hinter die Baufluchtlinie oder sonstige Abweichungen dürfen von der Ortspolizeibehörde gestattet werden, wenn sichergestellt ist, dass eine Verunstaltung des Straßen-, Orts- oder Landschaftsbildes vermieden wird."

Bei der Bauordnung für die Hauptstadt A-Stadt handelt es sich um eine Polizeiverordnung, die der Oberbürgermeister als Ortspolizeibehörde erlassen hat, unter anderem auf der Grundlage des Artikels 4 des Preußischen Wohnungsgesetzes vom 28.03.1918. Art. 4 des Preußischen Wohnungsgesetzes enthielt die Ermächtigung zur Regelung baupolizeilicher Vorschriften.

Es erscheint daher zunächst einmal fernliegend, diese baupolizeiliche Vorschrift für die Auslegung einer planerischen Festsetzung heranzuziehen. Fluchtlinienplänen kam (vor allem) die Funktion zu, die räumliche Ausdehnung der Straßen festzustellen. Die Frage, wo gebaut werden soll, richtete sich nach den sonstigen baupolizeilichen Vorschriften (OVG Hamburg, a.a.O.). Hinzu kommt: § 6 Abs. 3 Satz 2 Bauordnung enthält eine deutlich weitergehende Ausnahmeregelung als § 23 Abs. 2 Satz 2 BauNVO, wonach ein Vor- und Zurücktreten von Gebäudeteilen (nur) in geringfügigem Ausmaß zugelassen werden kann. Die Annahme einer Baulinie würde zu einer deutlichen Veränderung der planungsrechtlichen Situation führen, ohne dass erkennbar wäre, dass der Plangeber die Festsetzung einer Baulinie mit den Wirkungen des § 23 Abs. 2 BauNVO gewollt hätte.

Im konkreten Fall kommt das Gericht daher zu dem Ergebnis, dass es sich bei der festgesetzten Baufluchtlinie um eine Baugrenze und nicht um eine Baulinie handelt.

Diese Baugrenze hält das Vorhaben ein. Es ist auch im Übrigen bauplanungsrechtlich zulässig. Ob es sich bei einem Bebauungsplan, der hinsichtlich der Festsetzung der überbaubaren Grundstücksfläche nur eine Baugrenze festsetzt, um einen Bebauungsplan im Sinne des § 30 Abs. 1 BauGB oder um einen einfachen Bebauungsplan handelt, hängt davon ab, ob damit eine abschließende Regelung getroffen werden sollte oder nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.01.1968 - IV C 167.65 -, juris).

Die Kammer unterstellt zugunsten der Beklagten, dass insofern die Festsetzung nicht als erschöpfend gedacht war und es sich bei dem Fluchtlinienplan Nr. 705 (lediglich) um einen einfachen Bebauungsplan im Sinne von § 30 Abs. 3 BauGB handelt mit der Folge, dass sich die Zulässigkeit des Vorhabens im Übrigen nach § 34 BauGB richtet.

Das Bauvorhaben der Kläger fügt sich aber auch im Übrigen in die nähere Umgebung ein und ist daher nach § 34 BauGB planungsrechtlich zulässig.

In Frage steht, ob sich das Vorhaben hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche im rückwärtigen Bereich des Grundstücks ca. 35 Meter von der Straße entfernt in die nähere Umgebung einfügt. Dies ist der Fall. Dabei gelten die folgenden in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze:

Maßstabsbildend im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist die Umgebung, insoweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf sie auswirken kann und insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst. Dabei ist die nähere Umgebung für die in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB bezeichneten Kriterien jeweils gesondert abzugrenzen. Denn die Merkmale, nach denen sich ein Vorhaben im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in die Eigenart dieser näheren Umgebung einfügen muss, sind jeweils unabhängig voneinander zu prüfen. Bei der Bestimmung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung eines Grundstücks ist der Umkreis der zu beachtenden vorhandenen Bebauung in der Regel enger zu begrenzen als bei der Ermittlung des Gebietscharakters (BVerwG, Beschl. v. 13.05.2014 - 4 B 38/13 -, Rn. 7, juris). Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile zulässig, wenn es sich auch nach der "Grundstücksfläche, die überbaut werden soll", in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Insoweit kommt es auf die konkrete Größe der Grundfläche des in Frage stehenden Vorhabens und auch auf seine räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung, also auf den Standort des Vorhabens an. Ob eine rückwärtige Bebauung eines Grundstücks zulässig ist, hängt im Wesentlichen davon ab, in welchem Umfang die den Maßstab bildenden umliegenden Grundstücke eine rückwärtige Bebauung aufweisen. Zur näheren Konkretisierung kann insofern auf die Begriffsbestimmungen in § 23 BauNVO zur "überbaubaren Grundstücksfläche", die wiederum gemäß § 23 Abs. 4 BauNVO auch durch Festsetzung der Bautiefe bestimmt werden kann, zurückgegriffen werden. Nach § 23 Abs. 4 Satz 2 BauNVO ist die Bebauungstiefe von der tatsächlichen Straßengrenze aus zu ermitteln. "Tatsächliche Straßengrenze" ist die Grenze der als Erschließungsanlage gewählten öffentlichen Straße (BVerwG, Beschl. v. 12.08.2019 - 4 B 1/19 -, Rn. 6, juris).

Maßstabsbildende Wirkung muss dabei nicht allein der Bebauung zukommen, die an derselben Erschließungsanlage liegt (anders etwa bei der Bestimmung einer faktischen rückwärtigen Baugrenze, wo dies im Regelfall so sein wird). Das kann etwa dann der Fall sei, wenn entlang einer Erschließungsanlage eine klare rückwärtige Bauflucht nicht zu erkennen ist und eine weitere Erschließungsanlage so nahe verläuft, dass der Blockinnenbereich bei einer von Grundstücksgrenzen gelösten Betrachtung nicht ohne weiteres der einen oder anderen Bebauungsseite zugerechnet werden kann. Bei der in der näheren Umgebung vorgefundenen Bebauung ist zwischen Gebäuden, in denen eine Hauptnutzung stattfindet, und Nebengebäuden zu differenzieren. Für die bei ersteren maßstabsbildende Bautiefe ist unerheblich, ob Nebengebäude sich in größerer Bautiefe finden (OVG Lüneburg, Urt. v. 01.09.2022 - 1 LB 4/21 -, Rn. 18 - 19, juris).

Für die Annahme einer faktischen Baugrenze müssen wegen der einschränkenden Wirkung auf das Grundeigentum hinreichende Anhaltspunkte für eine städtebaulich verfestigte Situation bestehen und die tatsächlich vorhandene Bebauung darf kein bloßes "Zufallsprodukt" ohne eigenen städtebaulichen Aussagewert sein darf. Bei einer höchst unterschiedlichen Bebauung ohne gemeinsame hintere Gebäudeflucht kann von einer faktischen rückwärtigen Baugrenze nicht gesprochen werden kann (BayVGH, Beschl. v. 03.03.2016 - 15 ZB 14.1542 -, Rn. 12, juris).

Daraus folgt für den zugrundeliegenden Sachverhalt:

Eine faktische rückwärtige Baugrenze gibt es nicht. Die Beklagte macht dies auch nicht geltend. Die Bebauung südlich der Straße R. stellt sich im rückwärtigen Bereich als höchst unterschiedlich ohne gemeinsame hintere Gebäudeflucht dar. Die Grundstücke weisen eine sehr unterschiedliche Bebauungstiefe auf.

Eine rückwärtige Bebauung fügt sich in die nach den obigen Kriterien zu definierende nähere Umgebung ein. In die Betrachtung, ob sich eine Bebauung im rückwärtigen Bereich in die nähere Umgebung einfügt, ist nicht nur die Bebauung auf den Grundstücken einzubeziehen, die in südlicher Richtung an die Straße J. angrenzen, sondern zudem die sich weiter südlich anschließende Bebauung, weil sich das Vorhaben auch auf diesen Bereich auswirken kann und umgekehrt die Umgebung den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt. Das gilt jedenfalls für die unmittelbar an das Vorhabengrundstück angrenzende Bebauung auf den Grundstücken S. und T.. Dass sich diese Bebauung schon wegen ihrer räumlichen Nähe auf das Vorhabengrundstück auswirkt, wurde bei der Inaugenscheinnahme des Grundstücks und der näheren Umgebung deutlich. Diese Grundstücke werden auch nicht durch eine öffentliche Straße erschlossen, sondern verfügen (nur) über eine private Zufahrt, so dass die Situation der auf dem klägerischen Grundstück vergleichbar ist.

In die Betrachtung einzubeziehen ist zudem die vergleichbare Bebauung auf dem Grundstück K.. Auf das klägerische Grundstück wirkt diese Situation wegen der unmittelbaren Nachbarschaft und der Größe des Vorhabens besonders prägend. Das Grundstück K. erstreckt sich auf den rückwärtigen Bereich zweier Grundstücke, nämlich des Grundstücks U. und des Grundstücks V.. Die Kammer teilt auch nicht die Einschätzung der Beklagten, dass es sich bei dieser Bebauung um einen Fremdkörper handelt, der bei der Betrachtung außer Acht zu lassen ist. Bauliche Anlagen haben als Fremdkörper außer Betracht zu bleiben, wenn sie von ihrem quantitativen Erscheinungsbild oder nach ihrer Qualität völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden Bebauung herausfallen (vgl. Söfker/Hellriegel in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 153. EL, § 34 Rn. 37). Das kann der Fall sein, wenn eine Anlage nicht die Kraft hat, die Eigenart der näheren Umgebung zu prägen, oder sie als singuläre Anlage in einem auffälligen Kontrast zur übrigen Bebauung steht, sie also wegen ihrer Einzigartigkeit den Charakter ihrer Umgebung letztlich nicht beeinflussen kann (Söfker/Hellriegel, a.a.O.). Beides trifft auf die Bebauung des Grundstücks K. nicht zu. Die Beklagte gelangt zu einer anderen Einschätzung, weil sie die südlich angrenzende Bebauung ausblendet. Es mag dahinstehen, ob ein solcher Schluss in diesem Fall gerechtfertigt wäre. Nach Auffassung der Kammer sind im vorliegenden Fall bei der Beurteilung, ob die Anlage in einem auffälligen Kontrast zur übrigen Bebauung steht, jedenfalls auch die unmittelbar angrenzenden Grundstücke (W.) einzubeziehen, die in vergleichbarer Weise bebaut sind (rückwärtige Bebauung und Erschließung durch eine private Zuwegung). Mit der Genehmigung dieser Vorhaben hat sich die möglichweise bis dahin bestehende Trennung eines nördlichen und eines südlichen Teils des Blockinnenbereichs verändert. Gegen eine Einordnung als Fremdkörper spricht schließlich, dass die Beklagte das Vorhaben im Jahr 1989 baugenehmigt hat, zu diesem Zeitpunkt also offenbar selbst davon ausging, dass es bauplanungsrechtlich zulässig ist.

Damit finden sich vom Baugrundstück aus betrachtet unmittelbar zumindest drei Vorhaben mit einer vergleichbaren Bebauung im rückwärtigen Bereich. Nicht weit davon entfernt findet sich noch die Bebauung auf den Grundstücken X. und Y., die ebenfalls eine Bebauung im rückwärtigen Bereich und eine private Erschließung aufweisen. Betrachtet man nur den östlichen Bereich zwischen den Straßen J. und L., so ist bis zum Grundstück S. eine rückwärtige Bebauung bei privater Erschließung prägend. Das klägerische Grundstück ist in diesem Bereich bisher das einzige Grundstück, das keine rückwärtige Bebauung aufweist. Es erschließt sich der Kammer daher nicht, warum nur der nordwestliche Bereich (Grundstücke Z.) für die Beurteilung einer prägenden Wirkung heranzuziehen sein sollte.

Da der Rahmen eingehalten wird, kommt es nicht auf die Frage an, ob durch das Vorhaben bodenrechtlich beachtliche, ausgleichsbedürftige Spannungen entstehen oder bereits vorhandene Spannungen dieser Art erhöht werden. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass dem streitbefangenen Vorhaben Vorbildwirkung für eine rückwärtige Bebauung auf den Nachbargrundstücken AA. zukommen könnte. Das hat seine Ursache vor allem darin, dass die Beklagte in der Vergangenheit Vorhaben wie etwa auf dem Grundstück K. bauaufsichtlich zugelassen hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO. Gründe, die Berufung zuzulassen, sind nicht ersichtlich.