Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 15.07.2024, Az.: 3 B 2578/24

Eingliederungshilfe; Beschulung; Fernschule; Privatunterricht; Fernunterrichtung; Schulpräsenzpflicht; Ruhen; Teilhabe an Bildung; Web-Schule; Eingliederungshilfe; Kostenübernahme für Fernunterricht an einer Online-Schule Antrag gemäß § 123 VwGO (abgelehnt)

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
15.07.2024
Aktenzeichen
3 B 2578/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 18791
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2024:0715.3B2578.24.00

Amtlicher Leitsatz

Eine jugendhilferechtliche Kostenübernahme für eine Fernunterrichtung an einer Online-Schule setzt eine vorherige schulbehördliche Feststellung des Ruhens der Schulpräsenzpflicht voraus.

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der wörtliche Antrag des Antragstellers,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm - dem Antragsteller - vorläufig Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der Fernbeschulung durch den Anbieter F. zu gewähren,

hat keinen Erfolg.

Gemäß § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 ff. ZPO ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Sowohl ein Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) als auch ein Anordnungsanspruch (überwiegende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) sind hierzu glaubhaft zu machen.

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall jedenfalls nicht vollständig erfüllt. Der Antragsteller hat bereits dem Grunde nach einen Anordnungsanspruch in Bezug auf die begehrte einstweilige Anordnung nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Es kann deshalb offenbleiben, ob der formulierte Antrag hinsichtlich seiner zeitlichen Reichweite überhaupt bestimmt genug ist. Ebenfalls nicht entscheidungsbedürftig ist, ob mit dem formulierten Antrag eine sog. "Vorwegnahme der Hauptsache" begehrt wird, für die nach der Rechtsschutzsystematik der VwGO grundsätzlich noch höhere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens in einem Hauptsacheverfahren zu stellen sind (vgl. dazu VG Bayreuth, Beschl. vom 15.06.2023 - B 10 E 23.356 -, juris Rn. 45).

Dem Antragsteller steht nämlich unabhängig von den zuvor angesprochenen Fragen ein Anspruch aus § 35a Abs. 1, 2 und 3 SGB VIII in Verbindung mit §§ 90 Abs. 4, 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IX auf Eingliederungshilfe zur Teilhabe an Bildung in Form der Kostenübernahme für eine online Fernbeschulung seitens der F. beginnend ab September 2024 nach dem derzeit erreichten Sach- und Streitstand bereits deshalb nicht zu, weil eine solche Fernbeschulung in Konflikt geriete mit der Schulpflicht des Antragstellers aus §§ 63 Abs. 1 Satz 1, 66 NSchG, die ihm grundsätzlich die Teilnahme am Präsenzunterricht in einer öffentlichen Schule oder einer staatlich anerkannten Ersatzschule abverlangt.

Eine Unterrichtung an einer Online-Schule, mit welcher eine bestehende Schulpflicht nicht erfüllt wird, kann schon im Grundsatz keine geeignete Eingliederungshilfemaßnahme nach § 35a SGB VIII darstellen (vgl. OVG NW, Beschl. vom 17.12.2021 - 12 A 3275/19 -, juris Rn. 22, m. w. N.). Denn in Ansehung des § 10 Abs. 1 SGB VIII haben Jugendhilfeleistungen zur Ermöglichung einer Teilhabe an Bildung grundsätzlich lediglich unterstützenden, nicht aber einen die Vermittlung von Schulbildung im staatlichen Schulsystem ersetzenden Charakter. Von diesem Grundsatz ist eine Ausnahme nur für den Fall anzuerkennen, dass das staatliche Schulsystem objektiv nicht in der Lage ist, dem Hilfebedürftigen auch bei Bereitstellung ergänzender, ggf. auch jugendhilferechtlicher Hilfemaßnahmen eine angemessene Schulbildung zu vermitteln. Formale Voraussetzung für die ausnahmsweise Bewilligung einer Jugendhilfeleistung, mit der die Bildungsvermittlung insgesamt außerhalb des staatlichen Schulsystems bzw. des staatlich anerkannten Ersatzschulsystems erfolgen soll, ist allerdings, dass zuvor schulbehördlich eine Befreiung von bzw. ein Ruhen der Schulpräsenzpflicht festgestellt worden ist (vgl. auch Fuerst, Die Teilnahme autistischer Kinder an Fernschulen als Rehabilitationsmaßnahme: jugendhilfe- und schulrechtlicher Rahmen, DVfR Forum A, A9-2018, https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-a9-2018/, abgerufen am 15.07.2024). Auf eine solche Befreiung kann in Niedersachsen ein - verwaltungsgerichtlich gegen die zuständige Schulbehörde durchsetzbarer - Anspruch aus § 69 Abs. 3 NSchG bestehen (vgl. Nds. OVG, Beschl. vom 10.06.2024 - 2 ME 20/24 -, juris Rn. 53 f.).

Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller zwar unter Berufung auf seine psychischen Beeinträchtigungen insbesondere im Zusammenhang mit dem Erfordernis des Schulbesuchs bei der zuständigen Schulbehörde am 16.04.2024 einen Antrag auf Befreiung von der Schulpräsenzpflicht gestellt. Über diesen Antrag hat die zuständige Schulbehörde, wie eine telefonische Nachfrage des Berichterstatters dort am heutige Tage ergeben hat, allerdings bisher nicht entschieden, so dass derzeit eine Befreiung des Antragstellers von der Schulpräsenzpflicht nicht vorliegt. Obwohl das erkennende Gericht die Antragstellerseite zudem bereits mit der Eingangsverfügung vom 24.06.2024 darauf hingewiesen hatte, dass eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der Kosten einer Unterrichtung an der Online-Fernschule eine Befreiung des Antragstellers von der Schulpräsenzpflicht voraussetzt, und obwohl die Antragstellerseite selbst mitgeteilt hat, dass die G. den Platz für den Antragsteller nur bis zum heutigen Tage für diesen freizuhalten bereit ist, ist bisher ein Antrag auf vorläufigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen die zuständige Schulbehörde nicht gestellt worden. Angesichts dessen ist aktuell schon eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die zuständige Schulbehörde den Antragsteller zeitnah von seiner Schulpräsenzpflicht zumindest für das nächste Schuljahr oder einen Teil davon befreien und damit für den Antragsgegner überhaupt erst den Raum für eine jugendhilfefachliche Entscheidung zugunsten einer Kostenübernahme für die angestrebte Online-Beschulung eröffnen wird, nicht gegeben. Darauf, ob für den Fall einer ggf. noch erfolgenden Befreiung von der Schulpräsenzpflicht die Übernahme der Kosten für eine Unterrichtung des Antragstellers an einer Online-Schule die einzig fachlich angemessene und damit erforderliche Eingliederungshilfemaßnahme und der Antragsgegner deshalb zur Bewilligung genau einer solchen Leistung verwaltungsgerichtlich zu verpflichten wäre, kommt es deshalb im vorliegenden Verfahren nicht an.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.