Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 26.07.2024, Az.: 10 A 4443/22

Beschneidung; Cote d Ivoire; Elfenbeinküste; FGM; Genitalverstümmelung; Zwangsbeschneidung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
26.07.2024
Aktenzeichen
10 A 4443/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 20284
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Unbeschnittene und unverheiratete Frauen und Mädchen bilden in Côte d'Ivoire eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

  2. 2.

    Minderjährige Mädchen können in Côte d'Ivoire auch dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Genitalverstümmelung bedroht sein, wenn ihre Eltern die Zwangsbeschneidung ablehnen.

  3. 3.

    Wenn die Mädchen im Umfeld ihrer erweiterten Familie, etwa ihrer Großeltern oder Tanten aufwachsen, können diese die Zwangsbeschneidung ohne Wissen der Eltern durchführen lassen.

  4. 4.

    Töchter alleinerziehender Mütter sind besonders gefährdet, wenn ihre Mütter nicht imstande sind, ein eigenständiges Leben ohne familiäre Unterstützung durch Erwerbstätigkeit zu finanzieren.

  5. 5.

    Die ivorischen Sicherheitsbehörden sind derzeit noch nicht bereit bzw. nicht in der Lage, das gesetzliche Verbot der Genitalverstümmelung zuverlässig durchzusetzen und die Betroffenen wirksam zu schützen.

In der Verwaltungsrechtssache
A.
1) B., C-Straße, D-Stadt,
2) E., F-Straße, D-Stadt,
Staatsangehörigkeit: ivorisch,
- Klägerin -
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt B.,
B-Straße, 30175 Hannover
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Oldenburg -,
Klostermark 70-80, 26135 Oldenburg
- Beklagte -
wegen Asyl (Côte d'Ivoire)
hat das Verwaltungsgericht Hannover - 10. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 26.07.2024 durch die Richterin am Verwaltungsgericht Dörr als Einzelrichterin
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Klägerin wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Der Bescheid des Bundesamtes vom 30.09.2022 wird hinsichtlich der Ziffern 1) und 3) bis 6) aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des gesamten vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils festzusetzenden Vollstreckungsbetrages leistet.

Tatbestand

Die zwei Jahre alte und in D-Stadt geborene Klägerin begehrt von der Beklagten die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Sie ist ivorische Staatsangehörige, zugehörig zum Stamm der Mossi. Ihre Mutter stammt aus Bongrenyoa und ist muslimischen Glaubens. Ihr Vater stammt aus Gagnoa und ist ebenfalls muslimischen Glaubens.

Der Vater der Klägerin hatte Côte d'Ivoire bereits im Jahr 2013 im Alter von 16 Jahren verlassen und nach seiner Einreise nach Deutschland am August 2015 am 22.08.2016 einen Asylantrag bei der Beklagten gestellt. In seiner Befragung zur Vorbereitung der Anhörung am 22.08.2016 berichtete er, in Côte d'Ivoire habe er die Grundschule besucht und eine Ausbildung zu Automechaniker absolviert. In dem Beruf gearbeitet habe er allerdings nicht, sondern er sei arbeitslos geblieben. In seiner persönlichen Anhörung am 21.08.2018 führte er aus, in seinem Heimatland habe er mit seinen Eltern, der zweiten Frau seines Vaters, vier Schwestern und drei Brüdern zusammengelebt. Er habe Côte d'Ivoire verlassen müssen, weil er als Beifahrer an einem Autounfall beteiligt gewesen sei, bei dem eine junge Frau überfahren worden sei. Die junge Frau sei an den Folgen des Unfalls gestorben und ihre Verwandten hätten versucht, ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen. Er sei in Bouaké verhaftet worden und ins Gefängnis gekommen, doch es sei ihm gelungen zu fliehen. Danach habe er das Land verlassen. Wenn er nach Côte d'Ivoire zurückkehre, werde er erneut inhaftiert oder getötet werden. Mit Schreiben vom 14.09.2023 nahm der Vater der Klägerin seinen Asylantrag zurück.

Die Mutter der Klägerin verließ Côte d'Ivoire Anfang des Jahres 2018 im Alter von 17 Jahren und reiste auf dem Land- und Seeweg u.a. über Marokko und Spanien am 07.03.2019 nach Deutschland ein. Sie stellte am 13.03.2019 einen Asylantrag bei der Beklagten.

In ihrer Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 21.03.2019 berichtete die Mutter der Klägerin, sie habe Côte d'Ivoire verlassen müssen, weil sie mit einem älteren Mann zwangsverheiratet worden sei. Er habe sie geschlagen und sie vergewaltigt. In Côte d'Ivoire habe sie ihr Geld damit verdient, dass sie Holz gefällt und auf der Straße verkauft habe. In Marokko habe sie für umgerechnet 15 Euro pro Monat schwere Arbeit als Putzfrau in einem Privathaushalt verrichten müssen. Sie habe von Anfang an nach Deutschland kommen wollen, weil ihr Lebenspartner auch hier sei. Sie planten zu heiraten.

Die Überstellung der damals schwangeren Mutter der Klägerin nach Spanien im Dublin-Verfahren im September 2019 scheiterte, weil sie sich dagegen wehrte, ins Flugzeug zu steigen. Nach Ablauf der Überstellungsfrist ging die Beklagte ins nationale Verfahren über.

Am 19.11.2019 brachte die Mutter der Klägerin ihre ältere Schwester G. zur Welt.

In ihrer persönlichen Anhörung bei der Beklagten am 18.12.2019 berichtete die Mutter der Klägerin, ihr Vater gehöre zum Volk der Mossi und stamme aus Burkina Faso. Ihre Mutter gehöre zum Volk der Djoula. Vor ihrer Ausreise aus Côte d'Ivoire habe sie in dem Lager Sokora Trois nahe der Stadt Gagnoa in der Hütte ihres Vaters gelebt, gemeinsam mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter, ihren zwei Brüdern und einem Halbbruder. Außerdem habe sie noch drei Onkel und mehrere Tanten in Côte d'Ivoire. Ihre Mutter sei verstorben, als sie noch sehr jung war. Sie habe die Schule nur vier Jahre lang besucht und könne nicht gut lesen und schreiben. Die ganze Familie habe auf den Feldern gearbeitet. Ihre wirtschaftliche Lage sei sehr schlecht gewesen.

Sie habe Côte d'Ivoire verlassen, weil sie dort gefoltert worden sei. Dadurch sei sie traumatisiert worden. Ihre leibliche Mutter sei erkrankt. Um sie pflegen und behandeln zu können, habe ihr Vater sich von einem Mann aus Sokora Trois namens Mahdi Sankara viel Geld geliehen. Trotzdem habe sich ihr Zustand verschlechtert und sie sei schließlich verstorben. Damals sei sie, die Mutter der Klägerin, noch nicht in der Pubertät gewesen, aber auch schon nicht mehr zur Schule gegangen. Der Mann habe sein Geld zurückgefordert, aber ihr Vater habe die Schulden nicht begleichen können. Daraufhin habe er dem Mann sie als Ehefrau angeboten. Der Mann sei aus ihrer Sicht ein alter Mann gewesen. Er habe verlangt, dass sie vor der Heirat beschnitten werden sollte. Man habe sie beschnitten. Deswegen leide sie noch heute unter Schmerzen. Dann sei sie dem Mann übergeben worden. Geheiratet hätten sie nicht. Damals sei sie 16 Jahre alt gewesen. Sie sei seine dritte Frau gewesen. Sie habe sich oft geweigert, mit ihm zu schlafen. Daraufhin habe er sie gefoltert. Sie habe sich an die Polizei gewandt, doch die hätten es abgelehnt, ihr zu helfen, weil es sich um eine familiäre Angelegenheit handele. Auch ihre Verwandten hätten ihr nicht helfen können.

Ihr Leben sei in Gefahr gewesen und sie habe es als sinnlos empfunden. Deswegen sei sie geflohen, als Mahdi bei der Arbeit gewesen sei. Zunächst sei sie zu ihrer Freundin Halima gegangen, die in Petit Bamako, zu Fuß etwa zwei Stunden entfernt von Sokora Trois, lebte. Dort habe sie noch einige Nächte verbracht. Mahdi habe sie immer wieder gesucht und sei auch zu Halima nach Hause gekommen, doch sie habe sich im Gebüsch versteckt, sodass er sie nicht gefunden habe. Dann habe sie das Land verlassen. Seit sie Côte d'Ivoire verlassen habe, habe sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. Wegen der Beschneidung habe sie ihre Tochter nur per Kaiserschnitt zur Welt bringen können. Der Vater ihrer Tochter und sie seien beide gegen die Beschneidung. Trotzdem drohe bei einer Rückkehr nach Côte d'Ivoire auch ihrer Tochter Beschneidung.

Die Mutter der Klägerin legte eine fachärztliche Stellungnahme vom 09.01.2020 vor, derzufolge bei ihr eine Genitalverstümmelung des Typs III durchgeführt wurde.

Mit Bescheid vom 22.01.2020 lehnte die Beklagte den Asylantrag der Mutter der Klägerin ab. Sie begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass ihr keine erneute genitale Beschneidung drohe. Ein kausaler Zusammenhang zwischen ihrer Übergabe an den Mann, der ihrem Vater Geld geliehen habe, und ihrer Ausreise aus Côte d'Ivoire bestehe ersichtlich nicht, weil dazwischen etwa zwei Jahre Zeit gelegen hätten. Frauen seien in Côte d'Ivoire gleichgestellt und Vergewaltigung stehe unter Strafe, auch wenn es ein Vollzugsdefizit gebe. In jedem Fall gehöre die Mutter der Klägerin nicht zu einer sozialen Gruppe mangels abgrenzbarer Identität. Ihrem Vortrag sei nicht zu entnehmen, dass sie aus Angst vor häuslicher Gewalt ausgereist sei. Schließlich habe die Mutter der Klägerin auch die Möglichkeit gehabt, sich in einem anderen Teil von Côte d'Ivoire, insbesondere in den größeren Städten wie Abidjan, niederzulassen. Dass sie alleinstehend sei, stehe dem nicht entgegen. Auch als alleinstehende Frau könne sie Arbeit finden und die Hilfe ihrer Verwandten in Anspruch nehmen.

Die Mutter der Klägerin hat am 01.02.2020 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erhoben. In der mündlichen Verhandlung am 16.11.2022 berichtete die Mutter der Klägerin, dass der einzige aktive Kontakt, den sie noch nach Côte d'Ivoire habe, der zu ihrem jüngeren Bruder sei. Ihr Lebensgefährte und Vater ihrer Töchter habe in Côte d'Ivoire als Kfz-Mechaniker gearbeitet. Sie wolle nicht zurückkehren, denn sie wolle ihre Töchter vor Genitalverstümmelung bewahren. Mit Urteil vom 23.11.2022 wies das Gericht die Klage ab. Es begründete die Entscheidung damit, dass die Mutter der Klägerin in Côte d'Ivoire die Hilfe der Sicherheitsbehörden oder die von privaten Hilfsorganisationen in Anspruch nehmen könne, um sich vor Übergriffen des Mahdi Sankara zu schützen. Ihr seien auch keine Abschiebungsverbote zuzuerkennen, weil sie auch ohne familiäre Unterstützung ein ausreichendes Einkommen für sich und ihre Tochter erwirtschaften könne, etwa, indem sie wieder auf dem Feld arbeite. Zudem könne sie finanzielle Rückkehr- und Starthilfen in Anspruch nehmen. Schließlich sei anzunehmen, dass der Vater ihrer Tochter sie begleiten oder vom Ausland aus unterstützen werde.

Der Asylantrag der älteren Schwester der Klägerin galt am 11.12.2019 als gestellt. In der persönlichen Anhörung zum Asylantrag ihrer Tochter am 20.01.2020 berichtete die Mutter der Klägerin, sie kenne keine Frauen aus ihrem Clan, die nicht beschnitten worden seien. Bei einer Rückkehr nach Côte d'Ivoire würden sowohl ihre eigene Familie als auch die des Vaters ihrer Tochter die Beschneidung verlangen. Mit Bescheid vom 26.03.2020 lehnte die Beklagte auch ihren Asylantrag ab. Die Schwester der Klägerin hat am 05.04.2020 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erhoben. Mit Urteil vom 16.11.2022 wies das Gericht die Klage ab. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass die Schwester der Klägerin eine Genitalverstümmelung nicht zu befürchten habe, wenn ihre beiden Eltern dagegen seien.

Am 24.08.2022 galt der Asylantrag der Klägerin als gestellt.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin begründete den Antrag in einem Schreiben an die Beklagte vom 21.09.2022 damit, der Klägerin drohe in Côte d'Ivoire die Zwangsbeschneidung.

Mit Bescheid vom 30.09.2022, zugestellt am 04.10.2022, lehnte die Beklagte für die Klägerin die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), den Antrag auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab, stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten fest (Ziffer 4), drohte die Abschiebung nach Côte d'Ivoire an (Ziffer 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate (Ziffer 6). Sie begründete die Entscheidung im Wesentlichen damit, dass sich die Sachlage seit der im Verfahren ihrer Schwester getroffenen negativen Entscheidung nicht entscheidungserheblich verändert habe.

Die Klägerin hat am 17.10.2022 Klage erhoben.

Die Mutter der Klägerin trug in der mündlichen Verhandlung ergänzend vor, dass sie den Vater ihrer Töchter in Deutschland zum ersten Mal persönlich getroffen habe. Sie hätten nie zusammengelebt und seien auch kein Paar mehr. Allerdings zahle er Unterhalt für ihre Töchter und besuche die Kinder häufig am Wochenende. Entscheidungen, welche ihre Kinder beträfen, fällten sie gemeinsam. Seit einigen Monaten habe sie wieder Kontakt zu ihrem Vater in Côte d'Ivoire. Ebenfalls bestehe Kontakt zu den Eltern des Vaters ihrer Töchter im Herkunftsland, die sich telefonisch oft nach ihren Töchtern erkundigten. Beide Familien seien muslimisch und führten traditionell die Beschneidung bei ihren Frauen und Mädchen durch. Ob der Vater ihrer Kinder sie zurück in ihr Heimatland begleiten werde, wisse sie nicht, denn sie hätten nicht darüber gesprochen.

Im Anschluss an die mündliche Verhandlung teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit, dass der Vater der Klägerin nicht beabsichtige, seine Töchter und deren Mutter nach Côte d'Ivoire zu begleiten. Außerdem erfülle er alle Anforderungen an eine Aufenthaltserlaubnis wegen nachhaltiger Integration nach § 25b AufenthG. Er sei seit 2017 mit nur kurzen Unterbrechungen durchgängig berufstätig und sehe seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland.

In der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte den ursprünglich gestellten Antrag auf Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte zurückgenommen.

Die Klägerin beantragt nunmehr,

den Bescheid der Beklagten vom 30.09.2022 aufzuheben und ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, ihr den subsidiären Schutzstatus zu gewähren, weiter hilfsweise, festzustellen, dass in ihrer Person Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Côte d'Ivoire vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Klägerin sowie auf die Verwaltungsvorgänge der Mutter, des Vaters und der Schwester der Klägerin Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Das Gericht entscheidet durch die Einzelrichterin, der die Kammer den Rechtsstreit mit Beschluss vom 01.07.2024 übertragen hat (§ 76 Abs. 1 AsylG). Die Einzelrichterin konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 26.07.2024 teilgenommen hat, weil sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Folge hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Klage ist begründet. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 30.09.2022 ist im tenorierten Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Der Klägerin steht im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.

Ein Ausländer ist Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk"), drohen (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.10.2020 - 9 A 1980/17.A -, juris Rn. 32). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -; Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, juris).

Es obliegt dabei dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es der Schilderung eines in sich stimmigen Sachverhaltes, aus dem sich bei unterstellter Wahrheit ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist.

Die Einzelrichterin ist nach umfangreicher Anhörung der Mutter der minderjährigen Klägerin in der mündlichen Verhandlung überzeugt davon, dass der Klägerin im Herkunftsland ihrer beiden Eltern Côte d'Ivoire Genitalverstümmelung durch die Verwandten ihrer Eltern, insbesondere durch ihre Großeltern oder ihre Tanten und Onkel droht. Denn die Klägerin wäre im Falle der Rückkehr nach Côte d'Ivoire gezwungen, mit ihrer Mutter und ihrer Schwester gemeinsam in den Familienverband zurückzukehren.

Bei einer realitätsnahen Rückkehrprognose ist davon auszugehen, dass die Klägerin zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Côte d'Ivoire reisen würde. Beide sind ausreisepflichtig und leben mit der Klägerin in häuslicher Gemeinschaft. Dass der ebenfalls aus Côte d'Ivoire stammende und in Deutschland wohnhafte Vater der Klägerin ebenfalls mit ihr nach Côte d'Ivoire ausreisen würde, kann hingegen nicht mit der notwendigen Sicherheit angenommen werden, obwohl er mit seinen Töchtern in regelmäßigem Kontakt steht. Von einer gemeinsamen Rückkehr ist im Regelfall und bei Fehlen entgegenstehender Anhaltspunkte nur für Mitglieder der auch von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) auszugehen, wenn diese in tatsächlicher Lebensgemeinschaft leben (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 15). Der Vater der Klägerin und ihrer Schwester hat mit seinen Kindern und deren Mutter nie in häuslicher Gemeinschaft gelebt. Ferner hält er sich bereits seit neun Jahren in Deutschland auf und sichert seinen Lebensunterhalt seit dem Jahr 2017 mit nur kurzen Unterbrechungen durch Erwerbstätigkeit in einer Drogerie. Dies spricht zum einen dafür, dass er Aussicht auf eine Aufenthaltsgewährung wegen nachhaltiger Integration nach § 25b AufenthG hat, zum anderen dafür, dass sich sein Lebensmittelpunkt mittlerweile in Deutschland befindet.

Die der Klägerin drohende Zwangsbeschneidung stellt als erhebliche physische und psychische Gewalt eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG dar. Sie droht der Klägerin gem. § 3a Abs. 3 AsylG auch gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe unbeschnittener und unverheirateter Frauen und Mädchen. Die Mitglieder dieser sozialen Gruppe teilen gem. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AsylG Merkmale, die so bedeutsam für ihre Identität sind, dass sie nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten. Zudem haben sie gem. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG in Côte d'Ivoire eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Der ivorische Staat bietet der Klägerin vor der Durchführung einer Zwangsbeschneidung durch ihre Verwandten keinen effektiven Schutz nach § 3d Abs. 2 AsylG.

Eine Genitalverstümmelung droht der Klägerin auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Dies ergibt sich zum einen aus den kulturellen und rechtlichen Bedingungen in Côte d'Ivoire wie auch aus ihrer speziellen Gefährdungslage als minderjähriges Kind einer alleinerziehenden Mutter (ebenso für Mädchen im Kleinkindalter: VG Hannover, Urteil vom 21.02.2022 - 10 A 2901/18 -, n. v.; für erwachsene Frau: VG Hannover, Urteil vom 20.05.2022 - 10 A 755/19 -, juris; für Mutter mit Kind: VG Hannover, Urteil vom 15.12.2021 - 10 A 2348/18 - n. v.).

Zwar verbessert sich seit einigen Jahren in Côte d'Ivoire das Bewusstsein für die Achtung der Rechte des Kindes. Das Land hat mehrere internationale Übereinkommen, etwa die UN-Kinderrechtskonvention, ratifiziert und auch auf nationaler Ebene die nationalen Rechtsinstrumente gestärkt, um den Kinderschutz besser zu berücksichtigen (International Organization for Migration (IOM), Côte d'Ivoire. Länderinformationsblatt 2023, 30.09.2023, S. 8). Indes ergab eine nationale Erhebung über sexuelle, körperliche und emotionale Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus dem Jahr 2018, dass drei von fünf Mädchen/Frauen (58 %) in Côte d'Ivoire in ihrer Kindheit Opfer jeglicher Art von Gewalt wurden. Minderjährige Mädchen sind unter den Opfern sexueller Gewalt überrepräsentiert (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 28, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/en/file/local/2104150/coi_focus_cote_divoire._les_mutilations_genitales_feminines_mgf_20240205_2.pdf).

Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist in Côte d'Ivoire ebenfalls noch immer unzureichend umgesetzt. Es besteht sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen Bereich weiterhin eine erhebliche Kluft zwischen Männer und Frauen (Bertelsmann Stiftung, BTI 2024 Country Report Côte d'Ivoire, 19.03.2024, S. 4, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/en/file/local/2105844/country_report_2024_CIV.pdf). Das Land hat im Gender Inequality Index der Vereinten Nationen eine der schlechtesten Bewertungen weltweit (Bertelsmann Stiftung, BTI 2024 Country Report Côte d'Ivoire, 19.03.2024, S. 14). Frauen haben keinen angemessenen Zugang zu öffentlichen Ämtern und Bildungseinrichtungen, was sich beispielsweise in dem geringen Anteil von Frauen im Parlament (14,2 % im 2021 gewählten Parlament trotz einer geltenden Geschlechterquote) und einer niedrigeren Alphabetisierungsrate bei Frauen (86,7 % bei Frauen im Vergleich zu 93,1 % bei Männern) zeigt. Frauen stellen auch nur 41,0 % der Erwerbsbevölkerung. Die Einschulungsrate von Mädchen im Bildungssystem ist nach wie vor problematisch, insbesondere in ländlichen Gebieten, auch wenn sich die Situation in den letzten Jahren verbessert hat (Bertelsmann Stiftung, BTI 2024 Country Report Côte d'Ivoire, 19.03.2024, S. 21).

Im Hinblick auf die Gewalt gegen Frauen betonen mehrere Quellen, dass diese in der ivorischen Gesellschaft weit verbreitet ist, banalisiert und sogar "unsichtbar" gemacht wird (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 28). Außerdem wird der Begriff von sexueller Gewalt in Côte d'Ivoire häufig auf Vergewaltigung reduziert, während andere Formen von Gewalt nicht als solche wahrgenommen werden. Zwangsehen, Genitalverstümmelungen, sexuelle Belästigung oder Ausbeutung werden häufig nicht angezeigt, weil den Betroffenen gar nicht bewusst ist, dass das, was sie erleiden, strafrechtlich geahndet werden kann (Fédération internationale pour les droits humains (Internationale Föderation für Menschenrechte, FIDH), "On va régler ça en famille", Les obstacles à une prise en charge effektive des victimes de violences sexuelles en Côte d'Ivoire, März 2022, S. 24, abrufbar unter: https://www.fidh.org/IMG/pdf/vsbg_cote_divoire-2.pdf).

Die Tradition der Zwangsbeschneidung von Frauen (Genitalverstümmelung, Female Genital Mutilation, FGM) ist noch immer tief in der ivorischen Gesellschaft verankert und konnte durch staatliche Maßnahmen bisher nicht nachhaltig durchbrochen werden.

FGM ist für die Gesundheit von Mädchen und Frauen schädlich, da normales und gesundes Genitalgewebe entfernt oder beschädigt wird; die natürliche Funktion des weiblichen Organismus wird behindert. Neben unmittelbaren Komplikationen wie starken Schmerzen, Schock, Blutungen, Tetanus oder Sepsis (bakterielle Infektion), Harnverhalt, Genitalgeschwüre und Verletzung des angrenzenden Genitalgewebes gibt es auch langfristige Folgen wie Blasen- und Harnwegsinfektionen, Zysten, Unfruchtbarkeit, ein erhöhtes Risiko für Komplikationen bei der Geburt und den Tod von Neugeborenen (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 9-10). Zudem werden Daten aus dem Jahr 2012 zufolge nur 0,3% der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren, die sich einer FGM unterziehen, von medizinischem Fachpersonal beschnitten. Fast alle Beschneidungen werden von traditionellen Beschneiderinnen durchgeführt (28 Too Many, MGF en Côte d'Ivoire: Bref Compte-Rendu, März 2020, S. 1, 4, abrufbar unter: https://www.fgmcri.org/media/uploads/Country%20Research%20and%20Resources/Cote%20d%20Ivoire/cote_d'ivoire_short_report_v1_(march_2020)_french.pdf). Manchmal wird die Vaginalöffnung nach der ersten Beschneidung erneut geöffnet, im Fall von Typ III, damit die Frau Geschlechtsverkehr haben und gebären kann. Die Vaginalöffnung kann sodann mehrmals wieder verschlossen werden (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 9-10).

Das ivorische Strafgesetz verbietet Genitalverstümmelung ausdrücklich und sieht Strafen für die Täter von bis zu fünf Jahren Haft und hohe Geldstrafen vor. Für Mediziner, einschließlich Ärzte, Krankenschwestern und medizinisches Fachpersonal, gelten doppelt so hohe Strafen (U.S. Department of State (USDOS), Côte d'Ivoire 2022 Human Rights Report, 20.03.2023, S. 23). Hinzu kommen weitere staatliche Maßnahmen wie die Einführung des Programms "HE FOR SHE" und die Nationale Strategie zur Bekämpfung von geschlechtsbezogener Gewalt (SNLVBG). Diese Maßnahmen stoßen auf viele Hindernisse (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 11, abrufbar unter: https://fondationdjigui.org/analyse-situationnelle-des-mutilations-genitales-feminines-en-cote-divoire/). Das gesetzliche Verbot wird trotz Verankerung in der Verfassung von 2016 nur unzureichend durchgesetzt (Bertelsmann Stiftung, BTI 2024 Country Report Côte d'Ivoire, 19.03.2024, S. 10).

Die jüngste, auf Haushaltsbefragungen basierende Studie (Multiple Indicator Cluster Survey, MICS) aus dem Jahr 2016, welche von UNICEF (Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, United Nations Children's Fund) entwickelt und von der ivorischen Regierung durchgeführt wurde (s. dazu: https://mics.unicef.org/faq), ergab, dass die landesweite FGM-Rate in Côte d'Ivoire bei 36,7 Prozent lag (U.S. Department of State (USDOS), Côte d'Ivoire 2022 Human Rights Report, 20.03.2023, S. 23). Der Prozentsatz von 36,7 % ist ein leichter Rückgang gegenüber einer entsprechenden Erhebung von 2012 (38 %) und ähnlich der vorherigen Erhebung von 2006 (36 %) (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 10; 28 Too Many, MGF en Côte d'Ivoire: Bref Compte-Rendu, März 2020, S. 3). Die Prävalenz variiert je nach Region. Im ländlichen Gebieten im Nordwesten des Landes liegt der Anteil der beschnittenen Frauen laut Erhebungen noch bei 80 % (Bertelsmann Stiftung, BTI 2024 Country Report Côte d'Ivoire, 19.03.2024, S. 21). Bei Mädchen im Alter von null bis vierzehn Jahren waren laut der Erhebung von 2016 landesweit 10,9 % von FGM betroffen (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 10).

Die Daten der Erhebungen aus den vergangenen Jahren deuten zwar darauf hin, dass die Praxis der weiblichen Genitalbeschneidung in Côte d'Ivoire allmählich zurückgeht. Allerdings könnten diese Daten angesichts der Realität vor Ort zu niedrig angesetzt sein. FGM wird in Côte d'Ivoire als ein tabuisiertes, geheimes oder sogar heiliges Thema betrachtet, das insbesondere aufgrund der geltenden Gesetzgebung Ängste und Misstrauen hervorruft (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 22). Eine Situationsanalyse zu FGM wurde von Juni 2019 bis Februar 2020 in fünf Gebieten des Landes von einem Team durchgeführt, das von einem Sozialanthropologen für Gesundheit der Universität Alassane Ouattara (Bouaké) und einer Psychologin der Universität Félix Houphouët-Boigny (Abidjan) angeführt wurde. Die Ergebnisse wurden im Januar 2021 veröffentlicht. Die Forschenden berichten darin, dass die Ortsvorsteher der Viertel und Dörfer, in welchen die Befragungen durchgeführt wurden, jeweils angaben, dass FGM in ihren Gemeinden nicht mehr existierte. In einem Dorf teilte der Ortsvorsteher dem Erhebungsteam mit, er sei beinahe Opfer von Gewalt seitens der Gemeinschaft geworden, weil er mit den Forschern kooperiert habe. Viele Frauen und Mädchen sowie Haushaltsvorstände waren nicht bereit, sich interviewen zu lassen, oder brachen die Befragungen ab (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 22). Auch die Daten aus den MICS-Erhebungen von 2016, 2012 und 2006 sollten demnach, wie von UNICEF empfohlen, mit einiger Vorsicht verwendet werden. Denn diese Umfragen basieren ausschließlich auf den Aussagen der befragten Frauen. Da es sich um ein sensibles Thema handelt und die weibliche Genitalbeschneidung seit 1998 illegal ist, möchten einige Frauen möglicherweise nicht bestätigen, dass sie in einen solchen Prozess involviert waren. Darüber hinaus sind sich einige Frauen nicht unbedingt der Tatsache bewusst, dass sie beschnitten wurden, oder zumindest des Ausmaßes der Beschneidung, insbesondere aufgrund ihres jungen Alters zum Zeitpunkt der Tat (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 10).

Infolge des gesetzlichen Verbots handelt es sich bei der Zwangsbeschneidung in Côte d'Ivoire heute um eine sehr diskrete Praxis. Sie findet an bestimmten Orten wie Toiletten, Häusern und nicht mehr unbedingt in Wäldern statt (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 32). Zum Zwecke der Geheimhaltung werden Beschneidungen häufig anlässlich von anderen Feierlichkeiten wie Taufen, Hochzeiten, Mahouloud (Mawlid an-Nabi, die Feier anlässlich des Geburtstags des Propheten Mohammed), Tabaski (islamisches Opferfest) oder Ramadan durchgeführt (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 78). Laute Feierlichkeiten dienen dabei oft dazu, die Schmerzensschreie der beschnittenen Kinder oder Babys zu verbergen, auch vor den mitunter unwissenden Gästen (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 26). Zudem ist die Existenz und Durchsetzung von Gesetzen in Côte d'Ivoires Nachbarländern Guinea, Mali und Burkina Faso sehr unterschiedlich. Aufgrund der Bekämpfungsmaßnahmen gegen FGM in Côte d'Ivoire bringen viele Familien ihre Töchter benachbarte Staaten, um die Genitalverstümmelung dort durchführen zu lassen (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 80; Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 26; 28 Too Many, MGF en Côte d'Ivoire: Bref Compte-Rendu, März 2020, S. 4).

Im Rahmen dieser Studie gaben 68,12 % der befragten Frauen an, dass sie beschnitten wurden (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 36). Die Analyse kam zudem zu dem Schluss, dass Beschneidungen, mutmaßlich aus Angst vor Repressionen, am häufigsten bei Kleinkindern durchgeführt werden. Die meisten befragten Frauen gaben an, sich nicht daran erinnern zu können, wie alt sie bei der Beschneidung gewesen seien, was darauf zurückgeführt werden kann, dass sie damals noch zu jung waren, um sich daran zu erinnern. Die zweithäufigste Altersgruppe, die von den Teilnehmerinnen genannt wurde, war die der 10- bis 14-Jährigen (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 43).

Die Gefahr von FGM besteht für Frauen und Mädchen in Côte d'Ivoire unabhängig von ihrer Religion. Laut der Analyse von 2021 waren 69,23 % der befragten Katholiken, 77,77 % der evangelischen Christinnen und 66,92 % der befragten Musliminnen sowie 60% der befragten Nichtreligiösen waren beschnitten (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 39). Zudem gaben viele der befragten Frauen gleich welcher Religionszugehörigkeit an, dass die weibliche Genitalbeschneidung ein fester Bestandteil ihrer Kultur sei (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 35). Auch Frauen mit einem höheren Bildungsniveau sind durch FGM gefährdet. In der Analyse aus dem Jahr 2021 wiesen Frauen mit höherer Schulbildung mit 75 % sogar höhere Beschneidungsraten auf als solche ohne Schulbildung (70,21 %) oder mit Primar- und Sekundarschulbildung (67,27 % bzw. 58,62 %) (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 38 f.). Schließlich ist die Gefahr für Frauen, Opfer von FGM zu werden, auch nicht wesentlich beeinflusst durch ihre wirtschaftliche Lage. In der genannten Studie waren 69,64 % der befragten Frauen mit einem Einkommen von weniger als 50.000 FCFA (CFA-Francs) beschnitten, 64,29 % der Frauen mit einem Einkommen zwischen 50.000 und 100.000 FCFA und 55,56 % der Frauen mit einem Einkommen von mehr als 100.000 FCFA (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 39 f.).

Die fortbestehende Verbreitung der Genitalverstümmelung in Côte d'Ivoire ist Ausdruck eines patriarchalen Frauenbildes. Beschnittene Frauen gelten in den lokalen Gemeinschaften von Côte d'Ivoire überwiegend als besonders "sauber" und "rein" und auch als treue Ehefrauen, während unbeschnittene Frauen als "unrein", "schmutzig" und anfällig für Untreue angesehen werde. In fast allen in der Studie von 2021 untersuchten Gemeinschaften war die Beschneidung der Frau Voraussetzung für die Eheschließung (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 74). Es kommt vor, dass Männer die Beschneidung ihrer zukünftigen Bräute finanzieren. Beschnittene Mädchen genießen kollektive Wertschätzung und werden sogar mit Zeremonien und Geschenken bedacht (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 22). Darüber hinaus wird die Genitalverstümmelung als Mittel der Kontrolle der Sexualität der Frauen betrachtet. Ein Mädchen, das heiratet, aber keine Jungfrau ist, stellt eine Schande für die ganze Familie dar. Die Beschneidung soll dazu beitragen, die Jungfräulichkeit der Frau vor der Heirat zu gewährleisten (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 23).

Darüber hinaus existiert in Côte d'Ivoire ein lukrativer Schwarzmarkt für das entfernte Organgewebe. Der entfernten Klitoris wird eine spirituelle Bedeutung zugesprochen. Der Prozess der Beschneidung soll metaphysische Kräfte freisetzen. Ablatierte Klitoris wird als Pulver oder Salbe vermischt mit anderen Produkten erworben und verwendet von Personen, die nach sozialem Prestige und politischer Macht streben. An diesem Geschäft sollen auch einflussreiche ivorische Persönlichkeiten beteiligt sein (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 75-76). In den letzten Jahren hat sich der Handel mit der Klitoris stark ausgeweitet. Auf Initiative der NGO Siloé und in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Familie, Frauen und Kinder wurde eine Studie über die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung im Westen und Nordwesten von Côte d'Ivoire durchgeführt. Diese Studie geht davon aus, dass die "Führungskräfte" in einigen Regionen "Geldgeber" oder "Sponsoren" der FGM-Praxis sind und als Käufer der entnommenen Organe fungieren (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 23 f.). In einigen Kulturen, wie bei den Gouro oder den Yacouba im Westen der Elfenbeinküste, wird die Beschneidung vor allem mit dem Ziel praktiziert, Beschwörungen durchzuführen, um die Macht der Häuptlinge zu erhalten, das Dorf zu schützen und Blut für die Anbetung von Gottheiten zu sammeln (Fédération internationale pour les droits humains (Internationale Föderation für Menschenrechte, FIDH), "On va régler ça en famille", Les obstacles à une prise en charge effektive des victimes de violences sexuelles en Côte d'Ivoire, März 2022, S. 21).

Aufgrund der hohen kulturellen Bedeutung von FGM genießen die Beschneiderinnen in den lokalen Gemeinschaften ein hohes Ansehen. Ihnen werden mystische Kräfte zugeschrieben. Oft haben sie auch die Funktion einer Beraterin der Dorfvorstände inne. Sie werden für ihre Tätigkeit gut bezahlt, bewirtet und beschenkt. Einige spirituelle Führer sind der Auffassung, dass die Beschneiderinnen unter dem Einfluss von Gottheiten stehen oder dass diese Gottheiten sie sogar dazu zwingen, die Beschneidungen durchzuführen (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 81 ff.). Einige Beschneiderinnen behaupten, dass sie mit okkulten Kräften arbeiten und dass sie nicht (physisch) schneiden müssten, damit die Klitoris abfällt oder verschwindet. Nach diesem Glauben soll die Beschneiderin lediglich eine Zitrone aufschneiden und dadurch soll das Mädchen beschnitten werden (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 23). Der hohe soziale Rang der Beschneiderinnen erschwert ebenfalls die Durchsetzung der gesetzlichen Verbote, weil ihre Verhaftung zu Protesten führt (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 66).

Veranlasst wird die Zwangsbeschneidung von Mädchen in den meisten Fällen durch die Mutter, wobei in bestimmten Regionen auch der Vater in die Entscheidung involviert ist. Ausweislich der Situationsanalyse von 2021 wurde der Beschluss über die Beschneidung in 35 % der Fälle durch die Mutter gefällt, in 15 % der Fälle von den Eltern gemeinsam und in 11 % der Fälle von anderen Familienmitgliedern (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 45). Nach den von der OFPRA im Jahr 2019 gesammelten Informationen geht der Druck, Frauen und Mädchen zu beschneiden, hauptsächlich von Familienmitgliedern und der Gesellschaft aus. Innerhalb der Familie spielen Großeltern, insbesondere Großmütter, eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung der Praxis. Auch Tanten und Schwiegermütter können ihren Willen durchsetzen (Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (französisches Amt zum Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen, OFPRA), Côte d'Ivoire: Les mutilations sexuelles féminines (MSF), 07.03.2023, S. 8, abrufbar unter: https://ofpra.gouv.fr/sites/default/files/ofpra_flora/2303_civ_msf_158204_web.pdf). Auch die Referentin für Genderfragen beim UNFPA (United Nations Population Fund, Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen) in Côte d'Ivoire bestätigte CEDOCA in einem Telefoninterview im November 2023, dass die Entscheidungsbefugnis in dieser Frage von den jeweiligen Gemeinschaften abhängt (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 25).

Die Mutter der Klägerin wird die Durchführung der Genitalverstümmelung bei ihrer Tochter nicht wirksam verhindern können. Sie ist nach ihren glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung selbst als junges Mädchen vor ihrer Zwangsheirat mit einem Gläubiger ihres Vaters beschnitten worden. Sie führte aus, bei ihr sei die Beschneidung anders als etwa bei ihrer Schwester und ihren Cousinen nicht schon im Kleinkindalter durchgeführt worden, weil sie nicht bei ihren Eltern, sondern wegen der Krankheit ihrer Mutter bei einer entfernten Verwandten aufgewachsen sei. Die Beschneidung werde anders als alle sonstigen wesentlichen Entscheidungen in der Regel nicht von den Männern, sondern von den Frauen der Familie initiiert und organisiert. In ihrem Fall seien dies die zweite Ehefrau ihres Vaters und die Frauen aus der Familie des Mannes, mit dem sie zwangsverheiratet worden sei, gewesen. Die Verwandten hätten sie auf ein Dorf auf dem Land gebracht und die Beschneidung dort durchführen lassen. Die Angaben der Mutter der Klägerin waren insofern stringent und widerspruchsfrei. Emotional machte sie bei der Schilderung ihrer Erlebnisse einen angespannten bis verbitterten Eindruck. Auf Nachfragen antwortete sie stets knapp, aber souverän und hinreichend detailliert.

Die Mutter der Klägerin berichtete ferner, auch nachdem sie seit wenigen Monaten wieder in Kontakt mit ihrem Vater sei, stehe dieser weiterhin zu seiner Entscheidung. Nachdem sie ihn damit konfrontiert habe, was er ihr damit angetan habe, habe er erklärt, dass Frauen, die nicht beschnitten seien, viele Männer liebten. Außerdem sei die Beschneidung eine wichtige und alte Tradition. So dächten alle Mitglieder ihrer Familie und auch der des Vaters ihrer Töchter. Obwohl die Beschneidung kein muslimisches Gebot sei, legten muslimische Männer üblicherweise besonders viel Wert darauf, eine beschnittene Ehefrau zu haben, und in ihrer Familie werde stets nur unter Muslimen geheiratet. Die Polizei habe ihr damals nicht geholfen und sie wisse auch nicht, ob sie ihr in Zukunft helfen könne. Ohne die Zahlung von Bestechungsgeldern würden die Sicherheitskräfte ohnehin nicht aktiv und normalerweise mischten sie sich auch nicht in die Traditionen ein. Wenn sie in Côte d'Ivoire im Umfeld ihrer Familie leben würde, würden diese die Beschneidung ihrer Töchter voraussichtlich hinter ihrem Rücken durchführen. Alleine mit ihren Töchtern und ohne familiäre Unterstützung leben könne sie aber auch nicht. Zum einen könne sie sich dies wirtschaftlich nicht leisten, zum anderen bräuchten die Kinder ihren Vater in vielen Angelegenheiten.

Die Angaben der Mutter der Klägerin decken sich mit den verfügbaren Erkenntnismitteln. Der Verzicht auf FGM wird in Côte d'Ivoire als Verzicht auf die lokale Kultur zugunsten einer westlichen Kultur gesehen (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 29). Befragungen der OFPRA im Jahr 2019 ergaben, dass einem Mädchen oder einer Frau, die sich ihrer eigenen Beschneidung widersetzt, im Wesentlichen soziale Ausgrenzung droht, auch wenn verbale und/oder mystische Drohungen nicht auszuschließen sind. Die fehlende Beschneidung kann zu Stigmatisierung in der Gemeinschaft, Unmöglichkeit, in der Gemeinschaft zu heiraten, Unmöglichkeit, an Festen teilzunehmen, Schulabbruch und eingeschränktem Zugang zur Gesundheitsversorgung in der Gemeinschaft führen. Mehrere Forscher und Aktivisten, die 2019 von CEDOCA befragt wurden, waren der Ansicht, dass Eltern, die sich der Beschneidungspraxis widersetzen, stigmatisiert oder abgelehnt werden können, insbesondere in einem beschneidungsfreundlichen Umfeld oder in ländlichen Gegenden (Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (französisches Amt zum Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen, OFPRA), Côte d'Ivoire: Les mutilations sexuelles féminines (MSF), 07.03.2023, S. 9).

Es ist somit anzunehmen, dass die Verwandten der Eltern der Klägerin ihre ablehnende Haltung gegenüber der Genitalverstümmelung nicht respektieren, sondern sich früher oder später darüber hinwegsetzen werden. Die Gefahr ist umso höher, weil nicht angenommen werden kann, dass der Vater der Klägerin sie nach Côte d'Ivoire begleiten wird, um dort seinem Standpunkt im persönlichen Gespräch mit Familienmitgliedern Ausdruck zu verleihen. Gelegenheit zur Durchführung einer FGM hätten die Verwandten der Klägerin immer dann, wenn die Mutter der Klägerin sich von ihren Töchtern entfernt, etwa um einkaufen oder arbeiten zu gehen, oder sobald ihre Töchter alt genug sind, sich eigenständig zu bewegen, etwa um zur Schule zu gehen oder Freunde oder Verwandte zu besuchen. Die Leiterin der NGO Orchidées rouges erklärte CEDOCA, dass die Großmutter oder die Tanten eines Mädchens beschließen könnten, es der Praxis zu unterziehen, selbst wenn beide Eltern dagegen seien. Eine Mutter, die zum Markt gehe, werde ihre Tochter bei ihrer Rückkehr wahrscheinlich beschnitten vorfinden. Dies gelte auch für Fälle, wenn ein Mädchen etwa aus wirtschaftlichen Gründen einem Familienmitglied anvertraut werde (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 24 f.). In der Situationsanalyse von 2021 berichtete eine der befragten Frauen, dass sie von ihrer Tante unter dem Vorwand einer Feierlichkeit mit nach Mali genommen worden und dort zwangsbeschnitten worden sei. Ihre Eltern seien gegen die Beschneidung gewesen (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 80).

Auch von den Sicherheitsbehörden hat die Mutter der Klägerin keine wirksame Unterstützung zu erwarten, um ihre Töchter vor FGM zu schützen (anders VG Oldenburg, Urteil vom 04.10.2023 - 1 A 1321/22 -, n. v.; VG Braunschweig, Urteil vom 07.03.2024 - 7 A 106/22 -, n. v.; VG Würzburg, Urteil vom 07.02.2019 - W 2 K 18.31425 -, juris Rn. 25). Staatlicher Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

Mehreren Akteuren zufolge wird die strikte Einhaltung der geltenden Gesetze von den ivorischen Justizbehörden noch immer nicht gewährleistet. Sowohl die Verfassungs- als auch die reguläre Justiz sind anfällig für Eingriffe der Exekutive, verfügen nicht über ausreichende Ressourcen und sind von Korruption durchsetzt. Die Bekämpfung der Korruption war nie eine der Hauptprioritäten der Regierung Ouattara, obwohl sie alle einschlägigen internationalen Übereinkommen ratifiziert hat. Justizreformen wurden in den letzten Jahrzehnten nur teilweise umgesetzt. Menschenrechtsorganisationen kritisieren seit langem die mangelnde fachliche Kompetenz im Justizsektor (Bertelsmann Stiftung, BTI 2024 Country Report Côte d'Ivoire, 19.03.2024, S. 9). In der Justiz ist betreffend FGM zudem die Ansicht verbreitet, dass angesichts der jahrhundertealten Tradition der Beschneidung zunächst eine längere Phase der Sensibilisierung der lokalen Gemeinschaften abgeschlossen sein müsse, ehe die Justiz Härte gegenüber den Verantwortlichen zeigen solle (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 66). Außerdem bedeute eine Inhaftierung von Tätern eine Demütigung für die gesamte lokale Gemeinschaft. Dementsprechend waren auch in der Situationsanalyse aus dem Jahr 2021 70 % der Befragten der Auffassung, dass das Gesetz nicht durchgesetzt wird (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 86).

Die effektive Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt wird darüber hinaus dadurch erschwert, dass das Budget für die Bekämpfung von sexueller Gewalt weitgehend unzureichend ist. Die Behörden bauen Strukturen auf, stellen Gebäude und Personal zur Verfügung, ohne die so geschaffenen Infrastrukturen mit den nötigen Mitteln auszustatten, um dauerhaft zu funktionieren. Die Sozialarbeiter werden nicht im Bereich der geschlechtsspezifischen Gewalt geschult und verfügen nicht über Fahrzeuge und manchmal nicht einmal über Computer. Nur sehr wenige Polizeistationen verfügen über Büros für die Verfolgung von geschlechtsspezifischer Gewalt. Das System zur Bekämpfung von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt hängt am Tropf der internationalen Finanzierung, wobei die Investitionen des ivorischen Staates als verschwindend gering bezeichnet werden können. Der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA), das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), UN Women oder Save the Children bilden Richter, Polizisten und Staatsanwälte aus. Diese Programme haben jedoch nur eine begrenzte Laufzeit. Infolgedessen kommt der Staat seinen Verpflichtungen auf internationaler, regionaler und nationaler Ebene nicht nach, insbesondere in Bezug auf Prävention, Schutz, Untersuchung, Verfolgung, Bestrafung und Wiedergutmachung (Internationale Föderation für Menschenrechte, FIDH), "On va régler ça en famille", Les obstacles à une prise en charge effektive des victimes de violences sexuelles en Côte d'Ivoire, März 2022, S. 5-7).

Die Rechte der Opfer, ihr Zugang zur Justiz und eine angemessene Betreuung sind nicht gewährleistet. Rechts- und Gerichtshilfedienste gibt es so gut wie gar nicht. Opfer haben keinen Zugang zu Anwälten. Die Betroffenen werden daher weder über ihre Rechte noch über den Stand ihres Verfahrens informiert. Die Verfahren sind langsam und Verurteilungen selten. Von 31 Fällen sexueller Gewalt, die von FIDH dokumentiert wurden, führte keiner zu einer Verurteilung (Fédération internationale pour les droits humains (Internationale Föderation für Menschenrechte, FIDH), "On va régler ça en famille", Les obstacles à une prise en charge effektive des victimes de violences sexuelles en Côte d'Ivoire, März 2022, S. 5-7).

Hinzu kommt, dass das Justiz- und Gefängnissystem von den lokalen Gemeinschaften weitgehend abgelehnt wird, da sie seine Funktionsweise nicht verstehen und es als Bedrohung für die soziale Stabilität ansehen. Sie greifen nur als letztes Mittel darauf zurück, in der Regel aus Angst vor seinem strafenden Charakter. Stattdessen werden bevorzugt Dorf-, Nachbarschafts- oder Familienvorsteher gebeten, eine Lösung zu finden und beide Seiten zufrieden zu stellen. Das ivorische Konfliktmanagementsystem bevorzugt kulturell nicht die Repression, sondern die Schlichtung zur Wahrung des sozialen Zusammenhalts. Dabei haben die Interessen des Täters, insbesondere seine Freiheit, regelmäßig Vorrang vor denen der Überlebenden haben, deren Schäden weder anerkannt noch ersetzt werden. In diesem Zusammenhang ist es für Familienmitglieder schwierig, einseitig zu entscheiden, einen anderen Konfliktlösungsmechanismus ohne die Zustimmung des Oberhaupts ihrer Familie zu verwenden, noch weniger im Bereich der sexuellen Gewalt, die ein Tabu darstellt (Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS-CEDOCA), Côte d'Ivoire; Les mutilations génitales féminines (MGF), 05.02.2024, S. 41; Fédération internationale pour les droits humains (Internationale Föderation für Menschenrechte, FIDH), "On va régler ça en famille", Les obstacles à une prise en charge effektive des victimes de violences sexuelles en Côte d'Ivoire, März 2022, S. 6.)

Von anderen Mitgliedern ihrer lokalen Gemeinschaft wird die Mutter der Klägerin ebenfalls keine effektive Hilfe bekommen. Zwar gaben in der Situationsanalyse von 2021 70 % der Befragten an, dass sie das Strafgesetz, welches FGM verbietet, befürworten würden, allerdings lehnten es zugleich 90 % ab, sich selbst gegen die Fortsetzung der Praxis zu engagieren (Kouadio M'bra Kouakou Dieu-donné/ Touré Kpan Prisca, Analyse situationelle des mutilations génitales féminines en Côte d'Ivoire, Januar 2021, S. 70-71). Hinzu kommt, dass die Klägerin und ihre Schwester als unehelich geborene Kinder in Côte d'Ivoire zwar dieselben Rechte wie ehelich geborene Kinder, gesellschaftlich teilweise aber noch immer einen schweren Stand haben und mit Stigmatisierung konfrontiert sein können (DIDR - Division de l'information, de la documentation et des recherches (OFPRA), Côte d'Ivoire: Enfants nés en dehors du mariage, 19.11.2021, S. 2, abrufbar unter: https://www.ofpra.gouv.fr/libraries/pdf.js/web/viewer.html?file=/sites/default/files/ofpra_flora/2111_civ_enfants_hors_mariage_153889_web.pdf).

Schließlich wird es der selbst erst 23 Jahre alten Mutter der Klägerin - auch mit finanzieller Unterstützung des Vaters ihrer Töchter aus dem Ausland - nicht gelingen, als alleinerziehende Mutter zweier Kleinkinder in Côte d'Ivoire ohne Unterstützung ihrer Familie oder der des Vaters ihrer Töchter ein eigenständiges Leben in ausreichender Sicherheit und unter Wahrung des Existenzminimums zu führen. Die Mutter der Klägerin hat die Schule nur vier Jahre lang besucht und kann nicht gut lesen und schreiben. Sie hat niemals eine andere Arbeit als Feldarbeit und Haushaltstätigkeiten verrichtet.

Obwohl die Ivorer ihr Land selbst als wirtschaftliches Kraftzentrum des frankophonen Westafrikas betrachten, gehört es empirischen Erkenntnissen zufolge zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Im Human Development Index 2021 belegt es mit einer Punktzahl von 0,550 den 159. Platz von 189 Ländern. Côte d'Ivoire weist eine massive quantitative und qualitative soziale Marginalisierung auf, die strukturell verankert ist. Laut Weltbank-Daten ist der Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze von 3,65 US-Dollar pro Tag leben, seit dem Ende des Bürgerkriegs von fast 60 % auf etwa 40 % im Jahr 2018 gesunken (Bertelsmann Stiftung, BTI 2024 Country Report Côte d'Ivoire, 19.03.2024, S. 14). Der Wirtschaftssektor in Côte d'Ivoire ist nach wie vor zu 90 % informell und die Arbeitsbedingungen sind prekär (Europäische Kommission, EU Annual Report on Human Rights and Democracy in the World; 2023 Country Updates, 24.05.2024, S. 92). Das Einkommen aus der Arbeit im informellen Sektor ist in der Regel gering und variabel, so dass die meisten Menschen täglich auf das Familiennetzwerk angewiesen sind (Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Centre, Elfenbenskysten: Forhold for enslige kvinner (Anfragebeantwortung zur Lage von alleinstehenden Frauen), 07.11.2012, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/en/file/local/1227205/1788_1384955085_2211-1.pdf). Die Regierung hat sich zur Armutsbekämpfung verpflichtet, doch der Sozialschutz ist nach wie vor lückenhaft. Die Lebenserwartung in Côte d'Ivoire lag 2020 bei 58,1 Jahren - einer der niedrigsten Werte weltweit. Die öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen beliefen sich 2019 auf nur 1,0 % des BIP (Bertelsmann Stiftung, BTI 2024 Country Report Côte d'Ivoire, 19.03.2024, S. 20).

In Côte d'Ivoire liegt das durchschnittliche Einkommen einer Frau zudem 59% unter dem eines Mannes (Contrepoints, La lourde discrimination des femmes en Côte d'Ivoire, 06.04.2016, https://www.contrepoints.org/2016/04/06/245720-discrimination-des-femmes-en-cote-divoire). Mütter unehelicher Kinder können in der Gesellschaft schlecht angesehen, aber auch mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert sein, die sich auf das Wohlergehen des Kindes auswirken können (DIDR - Division de l'information, de la documentation et des recherches (OFPRA), Côte d'Ivoire: Enfants nés en dehors du mariage, 19.11.2021, S. 7). Kinder von wirtschaftlich benachteiligten alleinerziehenden Müttern ohne familiäre Netzwerke sind besonders von Armut gefährdet (Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Centre, Elfenbenskysten: Forhold for enslige kvinner (Anfragebeantwortung zur Lage von alleinstehenden Frauen), 07.11.2012). Mütter mit Kindern bis zu fünf Jahren nehmen diese in der Regel mit zur Arbeit oder lassen sich von älteren Töchtern oder Frauen aus ihrem Netzwerk (Schwestern, Cousinen, Freundinnen, Nachbarinnen, zu denen sie ein gutes Verhältnis haben) für kürzere oder längere Zeit entlasten (Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Centre, Elfenbenskysten: Forhold for enslige kvinner (Anfragebeantwortung zur Lage von alleinstehenden Frauen), 07.11.2012).

Diese Möglichkeiten der Fremdbetreuung hat die Mutter der Klägerin indes voraussichtlich nicht, wenn sie wegen der Gefahr einer Zwangsbeschneidung der Töchter mit ihrer Familie und der des Vaters der Kinder bricht und etwa nach Yamoussoukro oder Abidjan zieht. Diejenigen Ivorer, die in die Städte einwandern, ohne bereits über ein wohlhabendes und gut etabliertes Familiennetzwerk zu verfügen, müssen sich in den Armenvierteln am Stadtrand niederlassen und ihren Lebensunterhalt durch verschiedene Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft verdienen (Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Centre, Elfenbenskysten: Forhold for enslige kvinner (Anfragebeantwortung zur Lage von alleinstehenden Frauen), 07.11.2012). Doch auch wenn die Mutter der Klägerin versucht, sich wieder in einer ländlichen Gegend niederzulassen und mit Feldarbeit ein Einkommen zu verdienen, droht ihr und ihren Töchtern ein Leben in Armut. In Côte d'Ivoire leben 75 % der Frauen in ländlichen Gebieten unterhalb der Armutsgrenze, obwohl sie 65 % der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte stellen. Die ivorische Liga für Frauenrechte (Ligue ivoirienne des droits des femmes) berichtet, dass von etwa 100 Frauen, die Opfer von Gewalt werden und sich an sie wenden, mindestens 90 ihr Haus nicht verlassen können, weil sie sich weder eine andere Unterkunft noch einen Krankenhausaufenthalt leisten können (Agence Française de Développement (AFD), https://www.afd.fr/fr/actualites/cote-divoire-lutter-pour-les-droits-des-femmes-agricultrices, 11.01.2024).

Da der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, besteht für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung subsidiären Schutzes kein Anlass mehr. Der Bescheid war auch hinsichtlich der Ziffer 3 aufzuheben. Ebenfalls sind die Ziffern 4 bis 6 des streitgegenständlichen Bescheids aufzuheben. Hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten (Ziffer 4) folgt dies aus § 31 Abs. 5 AsylG; hinsichtlich der Abschiebungsandrohung (Ziffer 5) aus § 34 Abs. 1 AsylG und hinsichtlich der Festsetzung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (Ziffer 6) aus § 11 Abs. 2 AufenthG.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden aufgrund von § 83 b AsylG nicht erhoben.

Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.

Dörr