Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 17.02.2003, Az.: 5 B 4847/02

Teilnahme am Unterricht der nächsthöheren Klasse durch erfolgreichen einstweiligen Rechtsschutz; Überschreiten des im Hauptsacheverfahren zu erwartenden Urteils durch die einstweilige Anordnung; Mindestanforderungen an die Leistung eines Schülers nach der Abschlussverordnung (AVO-S I); Unterschreiten der Mindestanforderungen im Fach Englisch um zwei Notenstufen; Notwendigkeit und Entbehrlichkeit des Vorhandenseins von Ausgleichsfächern; Umfang der Überprüfung schulischer Noten durch das Verwaltungsgericht; Keine Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums durch rein rechnerische Leistungsermittlung; Note als Abbild des individuellen Leistungsstandes und Leistungsvermögen des Schülers; Besonderheiten bei vorläufigem Rechtsschutz im Prüfungsrecht

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
17.02.2003
Aktenzeichen
5 B 4847/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 28724
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2003:0217.5B4847.02.0A

Fundstellen

  • SchuR 2003, 117-119 (Volltext)
  • SchuR 2003, 124-125 (Volltext)

Verfahrensgegenstand

Versetzung

Prozessführer

K.

Rechtsanwälte Musch und andere, Delmenhorster Straße 13, 27793 Wildeshausen

Prozessgegner

Gymnasium W.,
vertreten durch Regierungsdirektorin Klein i.H. BWE Osnabrück, Heger-Tor-Wall 18, 49078 Osnabrück

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Es kann gerechtfertigt sein, im einstweiligen Anordnungsverfahren zu regeln, dass ein Schüler bis zur Entscheidung in der Hauptsache am Unterricht der nächst höheren Klasse teilnehmen darf.

  2. 2.

    Schulische Leistungsbewertungen (Noten) sind nur dahingehend verwaltungsgerichtlich überprüfbar, ob das Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt, Rechts- oder Verwaltungsvorschriften beachtet, keine "falschen Tatsachen" zugrunde gelegt, allgemein anerkannte pädagogische Grundsätze und Bewertungsmaßstäbe beachtet und keine sachfremden Erwägungen angestellt wurden.

  3. 3.

    Der für die jeweilige Leistungsbewertung zuständige Fachlehrer hat seine frei oder in strukturierter Form unternommen Beobachtungen und Leistungsfeststellungen in geeigneter Weise regelmäßig aufzuzeichnen, so dass Bewertungen in den Zeugnissen auf diese Aufzeichnungen gestützt werden können.

  4. 4.

    Bei der Ermittlung der Gesamtnote sind sämtliche Einzelleistungen nach ihrer jeweiligen Bedeutung zu gewichten. Für die Leistungsbewertung tatsächlich bedeutsame Leistungen dürfen nicht als irrelevant oder als weniger beachtlich vernachlässigt werden.

  5. 5.

    Werden Leistungen aus den letzten 6 oder 7 Unterrichtsstunden außer Betracht gelassen, ist die Grundlage der Leistungsbewertung fehlerhaft.

Das Verwaltungsgericht Oldenburg - 5. Kammer - hat
am 17. Februar 2003
beschlossen:

Tenor:

Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, den Antragsteller - vorläufig - so zu stellen, als habe er den Erweiterten Sekundarabschluss I und damit die Versetzung in die gymnasiale Oberstufe erworben.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

1

Der nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO zu beurteilende Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat in dem im Tenor genannten Umfang Erfolg. Ziel des Begehrens des Antragstellers ist es, wie ein Schüler, der den Erweiterten Sekundarabschluss I und damit die Versetzung erworben hat, - vorläufig - am Unterricht der 11. Klasse der gymnasialen Oberstufe teilnehmen zu können. Damit wird die Hauptsache nicht nur vorweggenommen (andere Auffassung: OVG Lüneburg, Beschluss vom 17. Januar 2003, 2 ME 16/03, m.w.N., V.n.b.), sondern überschritten (vgl. Finkelnburg/Jank, 4. Aufl. Rdnr. 1191). Denn im Hauptsacheverfahren (5 A 4655/02) wird nach dem derzeit erkennbaren Sachstand voraussichtlich ein Antrag auf Neubescheidung sachdienlich sein. Daher wird dem Antragsteller durch die vorliegende gerichtliche Regelung - wenn auch nur vorläufig - nicht nur das gewährt, was er in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte (vgl. Kopp/Schenke, 13. Aufl., § 123 VwGO Rdnr. 13), sondern darüber hinausgehend bereits die Teilnahme am Unterricht der nächsthöheren Klasse. Das rechtfertigt sich aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG. Würde der Antragsteller auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens verwiesen, käme dieser Rechtsschutz zu spät, weil er den Anschluss an die nächsthöhere Klasse verlieren würde. Ohne die vorläufige Regelung wäre er daher faktisch rechtsschutzlos gestellt (vgl. Finkelnburg/Jank, aaO, Rdnr. 1193). Das ist dem Antragsteller nicht zumutbar, weil die erkennende Kammer durchgreifende Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bewertung seiner Leistungen im Fach Englisch hat (dazu unten a). Diese Zweifel führen nicht nur zu der vorläufigen Einschätzung, dass die auf Neubescheidung gerichtete Klage des Antragstellers voraussichtlich Erfolg haben wird, sondern auch, dass die Neubewertung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts voraussichtlich zu einer für den Antragsteller positiven Entscheidung führen wird (vgl. Beschluss der erkennenden Kammer vom 17. Mai 2001, 5 B 2096/01; OVG Lüneburg, Beschluss vom 4. Oktober 2001, 13 MA 2992/01). Ungeachtet dieser Erwägungen gebietet auch eine Folgenabwägung (vgl. dazu OVG Lüneburg, Beschluss vom 17. Januar 2003, aaO) die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach Maßgabe des Tenors (dazu unten b).

2

a)

Die vom Antragsteller im Hauptsacheverfahren im Wege der Neubewertung letztlich erstrebte Verbesserung seiner Englischnote von "ungenügend" auf "mangelhaft" hat für seine weitere Schullaufbahn entscheidende Bedeutung. Nach § 9 der Versetzungsverordnung vom 19. Juni 1995 (Nds. GVBl. S. 184) i.V.m. § 9 der Verordnung über die Abschlüsse im Sekundarbereich I (AVO-S I) vom 7. April 1994 (Nds. GVBl. S. 197) hat den Erweiterten Sekundarabschluss I und damit die Versetzung in die gymnasiale Oberstufe erworben, wer die Mindestanforderungen in allen Pflicht- und Wahlpflichtfächern erfüllt hat. Mindestanforderungen sind gem. § 23 AVO-S I (- soweit nichts Abweichendes bestimmt ist -) ausreichende Leistungen. Die Leistungen des Antragstellers im Fach Englisch wurden im Abschlusszeugnis vom 19. Juni 2002 mit "ungenügend" benotet, die Mindestanforderungen wurden mithin um zwei Notenstufen unterschritten. Ausgleichsfächer nach § 23 Abs. 5 AVO-S I stehen - unstreitig - nicht zur Verfügung. Demgegenüber bedarf es keines Ausgleichs, wenn die Mindestanforderungen in nur einem Fach um eine Notenstufe unterschritten werden, § 23 Abs. 3 AVO-S I. Es kommt mithin entscheidend darauf an, ob die Englischleistungen des Antragstellers zutreffend mit "ungenügend" benotet wurden, denn wenn seine Leistungen mit "mangelhaft" zu bewerten sind, wären die Voraussetzungen für den Erwerb des Erweiterten Sekundarabschluss I und damit seine Versetzung in die 11. Klasse der gymnasialen Oberstufe erfüllt.

3

Bei der Überprüfung der Englischnote des Antragstellers ist zunächst zu beachten, dass schulische Leistungsbewertungen - sofern wie hier keine Fachfragen im Streit stehen - nur einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegen, weil sie das Ergebnis einer weitgehend höchstpersönlichen pädagogisch-fachlichen Einschätzung des jeweiligen Fachlehrers sind. Die Leistungsbewertung ist daher nur daraufhin zu überprüfen, ob das Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt, ob Rechts- oder Verwaltungsvorschriften beachtet, keine "falschen Tatsachen" zugrunde gelegt wurden sowie, ob allgemein anerkannte pädagogische Grundsätze und Bewertungsmaßstäbe beachtet oder keine sachfremde Erwägungen angestellt wurden.

4

Diesen Anforderungen wird die Benotung des Antragstellers im Fach Englisch nicht gerecht. Zwar obliegt es grundsätzlich allein dem Fachlehrer, auf der Grundlage der unmittelbaren Anschauung die Leistungen eines Schülers zu würdigen und in einem Gesamteindruck zusammenzufassen. Jedoch ist es rechtlich geboten, dass der Lehrer auf Nachfrage das Zustandekommen einer Zeugnisnote plausibel erklärt (vgl. Niehues, Schul- und Prüfungsrecht 3. Aufl., Bd. 1, Rdnr. 607). Dazu gehört insbesondere die Darlegung, nach welchen Kriterien die einzelnen Leistungen je für sich bewertet und wie sie im Verhältnis zueinander gewichtet worden sind. Das ist im vorliegenden Fall hinsichtlich der - allein streitigen - Bewertung der mündlichen Leistungen des Antragstellers und der Bildung der Gesamtnote nicht hinreichend erfolgt.

5

Die Fachlehrerin hat in ihrer Stellungnahme vom 17. Juni 2002 ausgeführt, sie habe die Kriterien, die einer mündlichen Note zugrunde liegen, den Schülern bekannt gemacht. Nach der Stellungnahme des Schulleiters vom 5. Juli 2002 sind diese Kriterien in der Fachkonferenz erarbeitet worden. Auf die Bitte des Gerichts, den entsprechenden Fachkonferenzbeschluss vorzulegen, hat die Antragsgegnerin auf die Rahmenrichtlinien verwiesen. Diesem Widerspruch nachzugehen, muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, zumal auch die Fachlehrerin in ihrer Stellungnahme vom 19. September 2002 in diesem Zusammenhang lediglich wörtlich auf die Rahmenrichtlinien verwiesen hat.

6

Die streitige Gesamtnote setzt sich nach den Stellungnahmen der Fachlehrerin aus der Vornote des ersten Schulhalbjahres (5) sowie den Ergebnissen der schriftlichen Arbeiten im zweiten Schulhalbjahr (5 und 6) zusammen. Daraus errechnet sich eine Durchschnittsnote von 5,33 bzw. von 5,25 je nach Berechnungsweise. Unter Berücksichtigung der von der Fachlehrerin im zweiten Schulhalbjahr zweimal mit 6 benoteten mündlichen Leistungen errechnet sich ein Notendurchschnitt von 5,6 bzw. von 5,38 je nach Berechnungsweise. Die Fachlehrerin hat dazu ausgeführt, weil die letzte schriftliche Arbeit eine Tendenz nach unten gezeigt habe, ergebe sich daraus die Note 6 (vgl. Stellungnahmen vom 17. Juni und 2. September 2002). Ein Spielraum habe dabei nicht bestanden (Protokoll der Abhilfekonferenz vom 30. Oktober 2002).

7

Diese Leistungsbewertung ist fehlerhaft.

8

Eine rein rechnerische Ermittlung der Gesamtnote würde den eingeräumten Beurteilungsspielraum nicht ausschöpfen. Sie trüge nicht dem Grundsatz Rechnung, dass die Note den individuellen Leistungsstand und das individuelle Leistungsvermögen des Schülers wiedergeben muss (vgl. OVG Münster, Urteil vom 17. Februar 2000, 19 A 3459/99, NVwZ-RR 2000, S. 432). Gerade wenn eine notwendige Rundung - wie hier - nicht geregelt ist, kann das arithmetische Mittel allenfalls ein Hilfsmittel zur Notenfindung darstellen (vgl. Niehues, aaO, Bd. 2, Rdnr. 257). Daher sind bei der Ermittlung der Gesamtnote sämtliche Einzelleistungen nach ihrer Bedeutung zu gewichten. Insbesondere dürfen für die Leistungsbewertung bedeutsame Leistungen nicht als irrelevant oder als weniger beachtlich vernachlässigt werden. Das hat die Fachlehrerin verkannt, wie ihre Stellungnahmen vom 17. Juni und 19. September 2002 belegen. Danach wurden die mündlichen Leistungen des Antragstellers zwei Mal mit 6 benotet, weil er sich im ganzen Schuljahr nur zwei Mal geäußert und vier seiner Berichtigungen nicht angefertigt habe. Sie hat dazu weiter ausgeführt, sie lehne saisonales Arbeiten ab und lege gemäß Rahmenrichtlinien Wert auf Kontinuität. Die vom Antragsteller angeführte Beteiligung am Lückentest könne nicht so gewichtet werden, dass sich daraus eine mangelhafte Note ergäbe. Es könne keiner kontinuierlichen Leistung entsprechen, wenn ein Schüler aufgrund der letzten (- hier 6 bzw. 7 -) Unterrichtsstunden im Schuljahr eine bessere Note erhalte.

9

Die Fachlehrerin verweist zwar zu Recht darauf, dass unter Umständen eine negative Tendenz, aber auch die Frage kontinuierlicher Leistungen bei der Bildung der Gesamtnote berücksichtigt werden kann. Sie verkennt aber, dass sich die in Zeugnissen festgehaltenen Bewertungen auf der Grundlage von Beobachtungen im Unterricht sowie von mündlichen, schriftlichen und anderen fachspezifischen Lernkontrollen auf die Leistungen der Schüler im gesamten Berichtszeitraum beziehen (vgl. Zeugniserlass des MK vom 22. März 1996, SVBl. S. 87). Werden Leistungen aus den letzten 6 oder 7 Unterrichtsstunden außer Betracht gelassen, ist die Grundlage der Leistungsbewertung fehlerhaft. Zudem hat sich die Fachlehrerin nicht dazu geäußert, wie die vom Antragsteller geltend gemachte und von ihr zugestandene (vgl. Stellungnahme vom 19. September 2002) Beteiligung am Lückentest gewichtet und bei der Bildung der Gesamtnote berücksichtigt wurde. Da die mündlichen Noten zunächst damit begründet wurden, der Antragsteller habe sich im ganzen Schuljahr nur zwei Mal geäußert und vier Berichtigungen nicht angefertigt, liegt die Annahme nahe, dass seine Beteiligung am Lückentest bei der Bildung der Gesamtnote völlig außer Acht gelassen wurde. Für diese Annahme spricht auch die Stellungnahme der Fachlehrerin vom 26. Januar 2003 (Bl. 110 der Gerichtsakte), in der sie bezüglich der Lückentests unter wörtlicher Wiedergabe der Rahmenrichtlinien auf Kontinuität von Leistungen verweist. Aus welchen Gründen die Beteiligung des Antragstellers am Lückentest für die Leistungsbewertung unbeachtlich sein sollte, ist derzeit nicht ersichtlich; auch insoweit beruht die Englischnote des Antragstellers nach derzeitiger Kenntnis auf einer fehlerhaften Grundlage.

10

Es ist weiterhin nicht nachvollziehbar auf welcher Grundlage insgesamt die Bewertung der mündlichen Leistungen des Antragstellers im Fach Englisch beruht. Die Fachlehrerin hat sich diesbezüglich wiederholt auf ihre schriftlichen Aufzeichnungen berufen und angegeben, sich kontinuierlich Notizen zum Lernstand der Schüler gemacht zu haben (vgl. Anfrage der Bezirksregierung Weser-Ems vom 1. Oktober 2002, Beiakte B). Dazu liegt jedoch nur ein Oktavheft vor, dass Eintragungen für 18 Tage aus den Zeiträumen vom 1. Februar 2002 bis zum 8. März 2002 und vom 16. April bis zum 23. April 2002 enthält. Nur eine dieser Eintragungen, und zwar diejenige vom 1. Februar 2002, betrifft den Antragsteller. Der Auszug aus dem Lehrerkalender enthält nach den dazu gegebenen Erläuterungen als mündliche Noten im zweiten Schulhalbjahr für den Zeitraum Februar/März und für den Zeitraum bis Juni jeweils die Note 6. Weitere Aufzeichnungen konnten zur Plausibilisierung der Bewertung der mündlichen Leistungen des Antragstellers nicht vorgelegt werden. Nach dem Zeugniserlass des MK vom 22. März 1996 (aaO) sollen Beobachtungen und Leistungsfeststellungen die u.a. für die Zeugniserteilung von Bedeutung sind, in freier oder strukturierter Form regelmäßig aufgezeichnet werden. Es muss danach sichergestellt werden, dass Bewertungen in den Zeugnissen in nachvollziehbarer Weise auf solche Aufzeichnungen gestützt werden können.

11

Das ist hier nicht der Fall. Die Benotung der mündlichen Leistungen des Antragstellers im Fach Englisch ist bislang nicht in dieser Weise nachvollziehbar dargelegt. Wie sich aus der Stellungnahme der Fachlehrerin vom 17. Juni 2002 ergibt, war ihr seit diesem Tag bekannt, dass die Englischnote des Antragstellers von dessen Eltern hinterfragt wurde. Auch dürfte ihr bekannt gewesen sein, dass gegen das Zeugnis vom 19. Juni 2002 am 20. Juni 2002 wegen der Englischnote Widerspruch erhoben wurde. In der Folgezeit hat sich die Fachlehrerin wiederholt auf ihre Unterlagen bzw. Notizen berufen. Dementsprechend hat auch der Fachberater Englisch unter dem 29. Juli 2002 ausgeführt, nach den Äußerungen der Fachlehrerin sei auf eine angemessene Dokumentation der Beurteilungsgrundlagen zu schließen. Auf die Anforderungen des Gerichts wurden jedoch keine derartigen Unterlagen vorgelegt.

12

Die Fachlehrerin hat die Benotung der mündlichen Leistungen - neben der Nichtanfertigung von Berichtigungen - im Wesentlichen mit der fehlenden Beteiligung des Antragstellers am Unterricht begründet und dazu in ihrer Stellungnahme vom 19. September 2002 ausgeführt, "meine Aufzeichnungen zeigen eine zweimalige Antwort bei einer grammatischen Wiederholungsprüfung". Auch diese Aufzeichnungen wurden nicht vorgelegt. Die weiteren Erläuterungen der Fachlehrerin sind - auch in ihrer Gesamtheit - nicht geeignet, die mündliche Notengebung sowie die Bildung der Gesamtnote plausibel zu erläutern.

13

Die Bildung der Gesamtnote beruht voraussichtlich auf einem fehlerhaften Bewertungsmaßstab. Die Fachlehrerin hat nach dem Protokoll der Abhilfekonferenz vom 30. Oktober 2002 ausgeführt, der Antragsteller sei nicht in der Lage gewesen, sich am Englischunterricht zu beteiligen, genau das drücke die Note 6 aus. Ein Ermessensspielraum zwischen 5 und 6 habe nicht bestanden. Da die letzte Klassenarbeit "ungenügend" gewesen sei und somit eine fallende Tendenz zeige und mit Blick auf die ungenügenden mündlichen Leistungen sei die Zensur "ungenügend" erteilt worden (vgl. Stellungnahme vom 2. September 2002). Diese Erwägungen verstoßen gegen allgemeingültige pädagogische Grundsätze und Bewertungsmaßstäbe. Wie in der "Leistungsbewertung am Gymnasium W...." vom 15. August 2001 zutreffend ausgeführt wird, entbindet "die Festlegung der prozentualen Anteile des Schriftlichen und der Mitarbeit an der Zeugnisnote den Fachlehrer nicht von seiner pädagogischen Verantwortung bei der Zensurengebung". Einzelne Lernkontrollen dürfen bei der Erteilung der Zeugnisnote kein unangemessenes Gewicht erhalten (vgl. Zeugniserlass des MK vom 22. März 1996, aaO). Das schließt nicht aus, unter Umständen wegen einer "Tendenz nach unten" sowie schlechter mündlicher Leistungen eine schlechtere Note zu erteilen. Voraussetzung ist allerdings, dass eine derartige Erwägung nicht zu einer schematischen Benotung führt. Der eingeräumte Beurteilungsspielraum erfordert vielmehr eine Orientierung an der Notendefinition gemäß KMK-Beschluss (vgl. Zeugniserlass vom 22. März 1996, aaO). Danach soll die streitige Note "ungenügend" erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen nicht entspricht "und selbst die Grundkenntnisse so lückenhaft sind, dass die Mängel in absehbarer Zeit nicht behoben werden könnten".

14

Die Kammer hat nach Auswertung aller Stellungnahmen der Fachlehrerin keinerlei Zweifel daran, dass die Leistungen des Antragstellers im Fach Englisch den Anforderungen nicht entsprochen haben. Das lässt nach der Notendefinition der KMK jedoch auch eine Benotung mit "mangelhaft" zu. Die Stellungnahme der Fachlehrerin, ein Ermessensspielraum zwischen 5 und 6 habe nicht bestanden, wegen der fallenden Tendenz und mit Blick auf die ungenügenden mündlichen Leistungen sei die Note "ungenügend" erteilt worden, belegt, dass der maßgebliche Unterschied zwischen den Noten "mangelhaft" und "ungenügend" bei der Bildung der Gesamtnote nicht beachtet wurde, der sich daraus ergibt, dass selbst die Grundkenntnisse so lückenhaft sind, dass die Mängel in absehbarer Zeit nicht behoben werden könnten. Dazu, dass diese Voraussetzung gegeben sein könnte, hat sich die Fachlehrerin nicht geäußert. Die erkennende Kammer hat auch durchgreifende Zweifel daran, dass das der Fall gewesen sein könnte. Die Antragsgegnerin weist zwar zutreffend darauf hin, dass eine Zeugnisnote aufgrund der Leistungen im "Berichtszeitraum" zu erteilen ist. Gleichwohl kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Antragsteller am ersten Tag nach den Herbstferien, dem ersten Tag, an dem er wieder das Technische Gymnasium L. besuchen konnte, in einer unangekündigten Englischarbeit, ohne zuvor am Unterricht teilgenommen zu haben und ohne sich darauf vorbereiten zu können, die Note "befriedigend" erhalten hat. Nach dem jetzt vorgelegten Halbjahreszeugnis wurden seine Leistungen am Technischen Gymnasium L. im Fach Englisch mit "ausreichend" beurteilt. Dadurch sieht sich die erkennende Kammer in ihrer Einschätzung bestätigt, dass die Voraussetzungen der Definition der Note "ungenügend" voraussichtlich nicht gegeben waren.

15

Aus allem folgt, dass nach dem derzeit erkennbaren Sachstand nicht nur die Klage voraussichtlich Erfolg haben wird, sondern dass auch eine Neubeurteilung der Leistungen des Antragstellers im Fach Englisch unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts aller Voraussicht nach zu dessen Gunsten ausfallen wird.

16

b)

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat aber auch ungeachtet der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Erfolg. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss vom 25. Juli 1996, 1 BvR 638/96, NVwZ 1997, S. 479) sowie des OVG Lüneburg (vgl. Beschluss vom 17. Januar 2003, aaO) kann vorläufiger Rechtsschutz unter anderem im Prüfungsrecht ohne Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache ausschließlich aufgrund einer Folgenabwägung gewährt werden. Ob das auch im Falle einer bloßen Nichtversetzung in die nächsthöhere Klasse der Fall ist, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Denn hier berührt die - leistungsbedingte - Entscheidung, dem Antragsteller nicht den Erweiterten Sekundarabschluss I zuzuerkennen, dessen Grundrecht auf freie Berufswahl und freie Wahl der Ausbildungsstätte nach Art. 12 Abs. 1 GG. Denn die streitige Entscheidung ist mit dem Ausschluss des Antragstellers vom Besuch der gymnasialen Oberstufe verbunden. Sie ist daher eine für seinen weiteren Berufs- und Lebensweg außerordentlich einschneidende Maßnahme (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 1998, 6 B 9/98, NVwZ 1998, S. 859). Angesichts dieser Grundrechtsbetroffenheit gebietet der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Anspruch auf tatsächliche und wirksame gerichtliche Kontrolle eine Abwägung der Folgen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den Rechtsschutzsuchenden verbunden sind. Je schwererwiegender diese Folgen sind und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass die sich daraus ergebenden Belastungen im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, um so weniger darf das Interesse des vorläufigen Rechtsschutz suchenden Bürgers zurückgestellt werden.

17

Die danach anzustellende Folgenabwägung fällt zu Gunsten des Antragstellers aus. Ohne eine vorläufige Regelung könnte der Antragsteller zunächst nicht mehr am Unterricht der gymnasialen Oberstufe teilnehmen. Bis zu einer (rechtskräftigen) Entscheidung in der Hauptsache hätte er jeglichen Anschluss an den Unterrichtsstoff verloren. Ohne Teilnahme am Unterricht wird er auch seinen im 10. Schuljahrgang erlangten Wissensstand bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache kaum aufrechterhalten können. Sollte er im Hauptsacheverfahren obsiegen, hätte er nicht mehr die Möglichkeit, mit realistischer Aussicht auf Erfolg am Unterricht der Klasse 11 der gymnasialen Oberstufe teilzunehmen. Dieser Bildungsweg wäre ihm mithin endgültig verschlossen. Das ist dem Antragsteller schlechterdings nicht zuzumuten.

18

Andererseits steht dem nichts Gewichtiges entgegen. Zwar kann dem Antragsteller im Falle des Unterliegens in der Hauptsache die erworbene Bildung nicht wieder genommen werden. Rechtlich Bedeutsames wird er aber nicht endgültig erlangen, denn die Teilnahme am Unterricht der 11. Klasse erfolgt auf eigenes Risiko und die durch die einstweilige Anordnung vermittelte Rechtsposition entfällt rückwirkend, wenn das Hauptsacheverfahren zu Ungunsten des Antragstellers ausgeht (vgl. OVG Lüneburg, aaO, m.w.N.).

19

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Schelzig
Burzynska
Wörl