Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 13.04.2011, Az.: 14 U 146/10

Eisenbahnunfall; Sturm; höhere Gewalt; Netzbetreiber; Betriebsunternehmer

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
13.04.2011
Aktenzeichen
14 U 146/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 45170
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG - 02.09.2010 - AZ: 5 O 97/10

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Der Netzbetreiber eines Schienennetzes ist Betriebsunternehmer im Sinne des § 1 Abs. 1 HPflG.

2. Das Betreiben der Infrastruktur einerseits und die Durchführung der Verkehrsvorgänge mit dem Fahrzeugpark auf dem Schienennetz andererseits sind gleichwertige Erfordernisse des Bahnbetriebs. Ein Vorrang des Bahnbetriebs besteht nicht.

3. Im Verhältnis der Betriebsunternehmer untereinander ist eine Versperrung des Schienenwegs dem Risikobereich des Netzbetreibers zuzurechnen.

4. Höhere Gewalt i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 HPflG ist ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist.

In diesem Sinn ist ein infolge eines Sturmes auf die Schienen gestürzter Baum nicht ein Ereignis höherer Gewalt.

Tenor:

Auf die Berufungen der Klägerin und der Beklagten wird das Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden vom 2. September 2010 teilweise abgeändert und insgesamt neu gefasst wie folgt:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 9.665,17 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25. März 2010 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehenden Rechtsmittel werden zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

(gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO):

I.

Die Parteien streiten um Schadensersatz nach dem Haftpflichtgesetz. Am 18. Januar 2007 stieß der Zug Metronom ME 81162 der Klägerin um 16:00 Uhr auf der von der Beklagten betriebenen Schienenstrecke zwischen Scheeßel und Rotenburg mit einem etwa einen halben Meter in den Schienenweg hineinragenden Baum zusammen. Infolge des an diesem Tag insbesondere über den Norden Deutschlands ziehenden Orkantiefs „Kyrill“ war mit Beeinträchtigungen des Schienenverkehrs auch durch umstürzende Bäume zu rechnen. Am Triebwagen der Klägerin entstand erheblicher Sachschaden in Höhe von 14.072,76 € (Bl. 8 d. A.). Das Fahrzeug konnte einen Tag lang nicht genutzt werden. Deswegen macht die Klägerin auch Nutzungsausfall in Höhe von 477,25 € geltend (Bl. 4 d. A.), außerdem eine Auslagenpauschale von 75 € (Bl. 4 d. A.). Von dem danach errechneten Gesamtschaden von 14.625,01 € begehrt die Klägerin 2/3 von der Beklagten ersetzt, weil sie sich eine Mithaftung in Höhe von 1/3 anrechnet.

Das Landgericht hat der Klage zum Teil stattgegeben. Die Beklagte hafte als Eisenbahninfrastrukturunternehmen gemäß § 1 Abs. 1 HPflG; ein Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt nach § 1 Abs. 2 HPflG liege nicht vor. Bei der nach § 13 HPflG vorzunehmenden Abwägung der jeweiligen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge sei eine hälftige Teilung des Schadens (50 : 50) angemessen.

Dieses Urteil greifen beide Parteien mit ihrer Berufung an. Die Beklagte möchte eine vollständige Abweisung der Klage erreichen. Die Klägerin verfolgt ihr erstinstanzliches Klageziel weiter.

II.

Die Berufung der Beklagten ist im Wesentlichen unbegründet. Die Berufung der Klägerin hat nahezu vollständig Erfolg.

1. Die Beklagte hat für die Unfallfolgen einzustehen. Sie ist Betriebsunternehmer im Sinne des § 1 Abs. 1 HPflG. Als Netzbetreiberin des Schienennetzes nimmt sie im aufgegliederten Eisenbahnsektor eine selbständige Teilaufgabe des Bahnbetriebs wahr. Sie baut, unterhält und vermarktet als Infrastrukturunternehmen für eigene Rechnung das in ihrer Verfügungsgewalt stehende Gleisnetz, indem sie die Schienentrassen an Eisenbahnverkehrsunternehmen wie die Klägerin gegen Entgelt überlässt, Einfluss auf die Fahrpläne nimmt und den Netzbetrieb abwickelt. Deshalb hat die Beklagte als Infrastrukturunternehmen auch die Sicherheit der Schienentrasse zu gewährleisten und dazu Personal auszuwählen und zu überwachen. Das Betreiben der Infrastruktur einerseits und die Durchführung der Verkehrsvorgänge mit dem Fahrzeugpark andererseits sind gleichwertige Erfordernisse des Bahnbetriebs. Ein Vorrang des Bahnbetriebs besteht nicht (vgl. näher BGH, Urteil vom 17. Februar 2004 - VI ZR 69/03, VersR 2004, 612, juris-Rdnr. 12 bis 19).

2. Entgegen der Ansicht der Beklagten liegt kein Haftungsausschluss gemäß § 1 Abs. 2 HPflG vor. Der Bundesgerichtshof hat wiederholt für vergleichbare Fälle einen Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt nach § 1 Abs. 2 HPflG ausdrücklich verneint (vgl. insb. BGH, Urteil vom 16. Oktober 2007 - VI ZR 173/06, VersR 2008, 126, Rdnr. 14; ebenso Urteil vom 22. Juni 2004 - VI ZR 8/04, IR 2004, 183, juris-Rdnr. 1 und 5 [dieses Urteil betraf einen durch eine Gewitterböe abgebrochenen und auf die Schienen gefallenen Baum]; Urteil vom 17. Februar 2004 - VI ZR 69/03, VersR 2004, 612, juris-Rdnr. 33 m. w. N.). Danach ist höhere Gewalt i. S. d. § 1 Abs. 2 Satz 1 HPflG ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist (BGH VI ZR 69/03 a. a. O.). In diesem Sinne handelte es sich bei dem umgestürzten Baum nicht um ein Ereignis höherer Gewalt. Es ist weder außergewöhnlich noch unabwendbar, dass bei Sturm Bäume umfallen und auf die Schienentrasse gelangen können.

3. Der Senat hält eine Schadensteilung im Verhältnis 2/3 zu 1/3 zu Lasten der Beklagten für sachgerecht.

a) Ausgangspunkt für die Haftungsverteilung ist zunächst die Feststellung des BGH (VI ZR 69/03 a. a. O., juris-Rdnr. 17), es bestehe zwischen dem Betreiben der Infrastruktur, was hier der Beklagten oblag, und der Durchführung der Verkehrsvorgänge auf dem Schienennetz (Klägerin) kein Vorrang. Ein reibungsloser Bahnverkehr sei nur durch das Zusammenwirken sämtlicher Bestandteile des Gesamtsystems zu erreichen. Sowohl von den Bestandteilen der Infrastruktur als auch vom Fahrbetrieb gingen erhebliche Gefahren aus, die zusammen den Bahnbetrieb prägten. Weiter ist zu berücksichtigen, dass im Verhältnis der Betriebsunternehmer untereinander die Versperrung des Fahrwegs allein dem Risikobereich des Netzbetreibers, also der Beklagten, zuzurechnen ist. Demgegenüber fällt in den Risikobereich der Klägerin allein das Fahren des Zuges und dessen Betriebsgefahr (vgl. BGH - VI ZR 69/03 a. a. O., juris-Rdnr. 32; darauf Bezug nehmend BGH - VI ZR 173/06 a. a. O., juris-Rdnr. 13 und 19). Gemäß § 13 HPflG ist sodann unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und des jeweiligen Maßes der Verursachung, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben, und auch des beiderseitigen Verschuldens eine Abwägung vorzunehmen (BGH - VI ZR 173/06 a. a. O., Rdnr. 18).

b) Dies rechtfertigt eine überwiegende Haftung der Beklagten.

Sie war dafür verantwortlich, den Fahrweg von Hindernissen freizuhalten. Unstreitig befand sich auf den Schienen ein Baum. Der BGH hat in einem vergleichbaren Fall, der ein eher noch überraschenderes Ereignis betraf (dort war in der Nacht aus einer Felswand ein Stein herausgebrochen und auf die Schienen gerollt, vgl. VI ZR 69/03, juris-Rdnr. 4), dem Eisenbahnverkehrsunternehmen, dessen Zug gegen den Stein gefahren war, eine Betriebsgefahr in Höhe von 1/3 des Schadens angerechnet (BGH a. a. O., juris-Rdnr. 32 a. E.). Auch unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des vorliegenden Falls erscheint diese Haftungsverteilung angemessen. Die Kammer hat über die Betriebsgefahr hinaus zu Lasten der Klägerin gewertet, dass sie den Betrieb fortgeführt habe, obwohl das Orkantief über Deutschland gezogen sei. Zur Überzeugung des Senats genügt das aber noch nicht, um ein Mitverschulden als bewiesen anzusehen. Denn ebenso hätte es der Beklagten als Netzbetreiberin oblegen, in Anbetracht des dann für sie nicht minder vorhersehbaren Orkans mit den damit verbundenen Risiken und zu erwartenden Beeinträchtigungen ggf. den Verkehr auf ihrem Schienennetz zu untersagen. Das Sturmtief war bereits am 15. Januar 2007 über Neufundland entstanden, zog dann Richtung Osten und erreichte Mitteleuropa am 18. Januar 2007 (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Orkan_Kyrill - zuletzt abgerufen am 8. April 2011): „Bereits zwei Tage zuvor waren erste Unwetterwarnungen herausgegeben worden, später wurden für viele Teile Mitteleuropas amtliche Unwetterwarnungen veröffentlicht … Am 18. Januar um 07:00 Uhr zog das Zentrum des Sturmtiefs über Nordirland. Die Spitzenwindböen an der Süd-West-Küste Englands lagen bereits bei 109 bis 120 km/h … Gegen Mittag befand sich Kyrill schon über der südlichen Nordsee, bei Spitzengeschwindigkeiten von 90 bis 110 km/h, in den Mittelgebirgen und Alpen bis 150 km/h. Die Küsten und Berge wurden von starkem Orkan mit bis zu 187 km/h betroffen. Im Laufe des Nachmittags überquerte die Kaltfront den Norden und Westen Deutschlands, wobei gebietsweise auch im Flachland Orkanböen zwischen 120 und mehr als 130 km/h auftraten“. Die Klägerin und die Beklagte hatten somit dieselben Erkenntnismöglichkeiten, das Risiko einer Fortsetzung des Schienenverkehrs zu erkennen. Damit verbleibt es bei der überwiegenden Haftung der Beklagten als Netzbetreiberin, die für die Sicherheit der Schienen verantwortlich war, und (nur) der erhöhten Betriebsgefahr auf Seiten der Klägerin.

4. Die Klägerin kann demnach 2/3 von folgenden Positionen von der Beklagten erstattet verlangen:

14.072,76 € Sachschaden netto am Triebwagen (gemäß Aufstellung Bl. 8 d. A.)

75,00 € Auslagenpauschale (Bl. 4 d. A. - dieser Position ist die Beklagte weder erstinstanzlich, S. 3 des Schriftsatzes vom 19. April 2010, Bl. 20 d. A., noch zweitinstanzlich in der Berufungsbegründung entgegengetreten)

350,00 € Nutzungsausfall.

Die Klägerin hat diese Positionen im Einzelnen rechnerisch nachvollziehbar mit ihrem Schriftsatz vom 21. März 2011 begründet, indem sie die Tagesmiete für alle von ihr gehaltenen Zuggarnituren der Berechnung zugrunde gelegt hat. Bei dieser Berechnung fehlt es aber an der notwendigen Differenzierung zwischen den einzelnen angemieteten Fahrzeugen und damit an einer konkreten Bezifferung des auf den beschädigten Zug entfallenden Kostenanteils. Der Senat hält deshalb einen anderen Berechnungsweg für richtig, der maßgeblich auf die Vorhaltekosten (Kosten der Anschaffung, des Kapitaldienstes der Unterhaltung sowie des Wertverlustes) und deren Anteil für die Reparaturzeit des betroffenen einen Fahrzeugs abstellt (vgl. dazu Geigel/Knerr, Der Haftpflichtprozess, 25. Aufl., Kap. 3 Rdnr. 93 f.). So gelangt man bei den angesetzten Anschaffungskosten von 2,9 Mio. € umgerechnet auf eine geschätzte Verwendungsdauer der Lokomotive von 25 Jahren (so auch AG Bonn, NZV 1998, 118 für eine Straßenbahn) für einen Tag (2.900.000 : (25 x 365)) auf einen Anteil von 317,80 €. Dem sind die Kosten des Kapitaldienstes hinzuzurechnen (2.900.000 € Anschaffungspreis verzinst mit 2 %, dies geteilt durch die Laufzeit und taggenau berechnet ergibt weitere 6,36 €). Damit käme man auf einen Wert von etwa 324 €. Das eingesetzte Kapital besteht aber nicht nur in diesen Kosten. Hinzu kommen Kosten für die zur Unterbringung des Fahrzeugs erforderlichen Anlagen, sowie die laufenden Aufwendungen für die Wartung und Instandhaltung des Fahrzeugs, soweit sie nicht durch den betrieblichen Einsatz bedingt sind. Darüber hinaus sind die laufenden Aufwendungen für Gewerbekapitalsteuer und Versicherungen zu berücksichtigen (vgl. AG Bonn, NZV 1998, 118 [OLG Hamm 12.12.1997 - 20 U 121/97] - das Amtsgericht Bonn hat in jenem Fall die täglichen Kosten für die Vorhaltung eines Schienenfahrzeugs mit Niederflurtechnik auf mehr als 1.000 DM geschätzt). Der Senat hält deshalb im Rahmen der Schadensschätzung (§ 287 ZPO) mangels anderer Anhaltspunkte einen täglichen Nutzungsausfall von 350 € für sachgerecht.

Der Gesamtschaden der Klägerin beträgt demnach 14.497,76 €. 2/3 hiervon sind 9.665,17 €. Dieser Betrag steht der Klägerin zu. Entsprechend war das angefochtene Urteil auf die Berufung beider Parteien abzuändern.

III.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO. Die Revision war nicht zuzulassen mangels der dafür erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen (§ 543 Abs. 2 ZPO).