Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 25.11.1997, Az.: 5 U 66/97
Therapie bei Anlass für einen Thromboseverdacht; Verschulden bei Unterlassen von elementaren Behandlungsgeboten; Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige Schäden
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 25.11.1997
- Aktenzeichen
- 5 U 66/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1997, 21691
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1997:1125.5U66.97.0A
Rechtsgrundlagen
- § 823 Abs. 1 BGB
- § 847 BGB
- § 543 Abs. 1 ZPO
Fundstellen
- MedR 1998, 268
- OLGReport Gerichtsort 1998, 163-164
- VersR 1999, 318-319 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
Besteht Anlass für einen Thromboseverdacht, gehört es zu den elementaren Behandlungsgeboten, dem nachzugehen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige Schäden im Zusammenhang mit einer nicht erkannten tiefliegenden Beinvenenthrombose.
Anfang Mai 1994 suchte die Klägerin wegen einer Knieschwellung ihren Hausarzt auf. Da ihr das verordnete Schmerzmittel keine nachhaltige Linderung der Beschwerden verschaffte und die Beinschwellung noch zunahm, begab sie sich am 25.05.1994 zu dem beklagten Internisten. Dieser empfahl ihr zwei Tage später nach Auswertung der Untersuchungsergebnisse (u.a. EKG-, Thoraxröntgen-, Blut- und Urin- sowie weiterer körperlicher Befunde) sich zur weiteren Abklärung an einen Hautarzt zu wenden. Bei der daraufhin erfolgten Vorstellung am 02.06.1994 ließ der Dermatologe nach dopplersonographischer Bestätigung seines Verdachts auf eine Beinvenenthrombose das Ergebnis durch eine sofortige Phlebographie in einem Röntgeninstitut absichern. Die Klägerin wurde umgehend in ein Krankenhaus eingewiesen. Dort wurde sie stationär mit Heparin und anschließend etwa ein halbes Jahr lang mit Marcumar behandelt. Schließlich wurde ihr verordnet, auf Dauer Kompressionsstrümpfe zu tragen. Sie leidet an einer chronischen Leitveneninsuffizienz, die sie in ihrer Lebensführung insbesondere bei körperlichen Aktivitäten einschränkt.
Die Klägerin hat behauptet, der Beklagte hätte eine sofortige röntgenologische Abklärung bzw. Einweisung in ein Krankenhaus veranlassen müssen. Bei ordnungsgemäßem Vorgehen hätte die Thrombose vom 25.05.1994 an durch eine Lysetherapie behandelt werden können, was zu einer vollständigen Heilung geführt hätte. Ihre Schmerzensgeldvorstellung hat die Klägerin mit 30.000,-- DM angegeben.
Der Beklagte hat behauptet, die Verweisung an einen Dermatologen sei der medizinisch richtige Weg gewesen. Der Befund des Beines habe deutlich eine ekzematöse Hautveränderung ergeben. Eine Lysetherapie, der sich die Klägerin wegen der Risiken ohnehin nicht unterzogen hätte, sei wegen des bereits über Wochen andauernden Krankheitsverlaufs nicht mehr möglich, die Leitveneninsuffizienz daher nicht mehr zu verhindern gewesen. Einer wahrscheinlich vollständigen Ausheilung habe im Übrigen eine anlagebedingte Blutgerinnungsstörung der Klägerin entgegengestanden.
Das Landgericht hat nach schriftlicher Vernehmung des Hausarztes und sachverständiger Beratung durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens und Anhörung des Gutachters der Klägerin ein Schmerzensgeld von 15.000,-- DM zugesprochen und die Ersatzpflicht für Zukunftsschäden festgestellt. Der Beklagte habe es grob fehlerhaft unterlassen, für eine differenzialdiagnostische Abklärung einer Thrombose zu sorgen, wodurch die bestehenden Heilungschancen vertan worden seien.
Mit der dagegen gerichteten Berufung verfolgt der Beklagte sein Klagabweisungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
Das Landgericht hat in nicht zu beanstandender Weise auf Grund der durchgeführten Beweisaufnahme die Voraussetzungen für eine Verpflichtung des Beklagten bejaht, der Klägerin gemäß §§ 823 Abs. 1, 847 BGB für die fehlerhafte Behandlung am 25.05.1994 Ersatz zu leisten.
Der Gutachter hat, was auch das Landgericht zugrunde legt (LGU 6 bis LGU 8 erster Absatz) und worauf zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 543 Abs. 1 2. Hs. ZPO verwiesen wird, widerspruchsfrei und nachvollziehbar unter Angabe der medizinischen Anknüpfungspunkte, erkennbar von Sachkompetenz getragen klar dargelegt, dass der Beklagte nach dem von ihm selbst dokumentierten Beschwerdebild gehalten gewesen wäre, für eine sofortige differenzialdiagnostische Abklärung der Möglichkeit einer bestehenden tiefen Beinvenenthrombose zu sorgen. Dieses Unterlassen wiegt schwer und es ermöglicht, der Patientin Erleichterungen bei der ihr obliegenden Beweisführung, dass ihre heutigen Beschwerden darauf beruhen, § 286 ZPO, zu gewähren. Der Beklagte übersieht bei seinen Rügen insgesamt, dass ihm nicht der Vorwurf gemacht wird, er hätte eine Thrombose bei seiner Untersuchung zwingend erkennen müssen, sondern dass er lediglich differenzialdiagnostisch auf einen solchen Verdacht hätte umgehend reagieren müssen wie durch die Veranlassung einer Dopplersonographie und einer Phlebographie. Das hat der Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten, seiner schriftlichen Ergänzung und seiner Anhörung in unmissverständlicher, völlig überzeugender Weise dargelegt. Die dagegen gerichteten Angriffe der Berufung greifen insgesamt nicht durch. Insbesondere ergeben die von ihr vorgelegten privatgutachterlichen Stellungnahmen keine Grundlage, die die Erläuterungen des Gerichtssachverständigen und deren Überzeugungskraft in Frage ziehen könnten.
Zunächst hat der Gerichtsgutachter die von ihm ausgewerteten Krankenunterlagen teilweise mit wörtlichen Zitaten angegeben. Die für seine Beurteilung maßgeblichen Dokumente befinden sich in Kopie bei den Akten und lagen dem Gericht bei seiner Entscheidungsfindung vor. Die vom Senat in ständiger Rechtsprechung kritisierte, wenig glückliche Prozessleitung, es einem Sachverständigen an die Hand zu geben, zunächst selbst für die erforderlich gehaltenen Unterlagen zu sorgen, lässt hier Abstriche an dem Wert der Begutachtung nicht zu. Insbesondere gibt dies keinen Anhalt für die Auffassung der Berufung, das Gericht habe die Grundlagen der sachverständigen Begutachtung nicht zur Kenntnis genommen und einen vom Sachverständigen festgestellten Sachverhalt ungeprüft seiner Entscheidung zugrunde gelegt.
Ebensowenig ist es zu beanstanden, dass der Sachverständige die Begutachtung zunächst ohne die Unterlagen des Hausarztes vorgenommen und diese erst nach der Stellungnahme des Beklagten im Schriftsatz vom 28.02.1997 berücksichtigt hat. Das deutet vor allem keinesfalls auf nachlässiges oder gar sich vorzeitig bei der Meinungsbildung festlegendes parteiliches Verhalten des Gutachters hin. Die Berufung und das von ihr vorgelegte Privatgutachten Dr. W... übersehen, dass sich der Sachverständige erst nach dem entsprechenden Parteivortrag mit dem vom Beklagten zu beweisenden Einwand zu befassen hatte, die Voruntersuchungen des Hausarztes belegten eine bereits wochenlang bestehende Thrombose. Der gegenüber dem Gutachter erhobene Vorwurf mangelnder Seriösität, unzureichender Kompetenz und der Parteilichkeit ist haltlos.
Keinen Erfolg hat auch der Versuch, das vorzuwerfende Unterlassen sofortiger diagnostischer Abklärung in einem günstigeren Licht, gegebenenfalls sogar behandlungsfehlerfreie erscheinen zu lassen. Das zweite Privatgutachten von Prof. Dr. H... gibt dafür bereits deswegen keine Stütze, weil dieser Gutachter betont, die Befunde der Ausgangsuntersuchung ließen es , durchaus erklären, dass der beklagte Untersucher nicht ausschließlich an das Vorliegen einer tiefen Beinvenenthrombose bzw. Lungenembolie zu denken hatte". Dieser Vorwurf wird -wie eingangs bereits ausgeführt - gerade nicht erhoben. Die unterbliebene Reaktion auf die bloße Möglichkeit einer solchen Thrombose - die auch dieser Gutachter nicht in Frage stellt - begründet bereits den Behandlungsfehlervorwurf, der nach der vom Landgericht bereits herangezogenen Rechtsprechung auch des erkennenden Senats regelmäßig als grob einzustufen ist (vgl. Senat NJW RR 1994, 1053; OLG Hamm VersR 1990, 1120 [OLG Hamm 29.05.1989 - 3 U 419/88]; OLG Karlsruhe NJW 1987, 718 f [OLG Karlsruhe 15.10.1986 - 13 U 52/84]).
Der Privatgutachter Dr. W... räumt seinerseits ausdrücklich ein, dass der Beklagte "offensichtlich nicht an die Diagnose Thromboseembolie" gedacht hat, "man daher bestenfalls erreichen kann, dass das Nichterkennen der Diagnose den Richtern als weniger schwerwiegend dargestellt werde". Damit wird aber den Angriffen gegen die Ergebnisse des Gerichtsgutachters die maßgebliche Grundlage entzogen. Besteht Anlass für einen Thromboseverdacht, so gehört es zu den elementaren Behandlungsgeboten, dem sofort nachzugehen (Senat a.a.O.). dass hier nach der eigenen Dokumentation des Beklagten für einen solchen Verdacht Anlass bestand, vermag auch dieser Privatgutachter nicht in Frage zu ziehen. Seine Vorhaltungen, der Gerichtssachverständige habe sich nicht ausreichend um Entlastungsgründe für den Beklagten bemüht und zusätzlich den Beklagten unter Verstoß gegen die Anstandsregeln lächerlich gemacht, entbehrt jeder Grundlage. Die Voruntersuchungen des Hausarztes sind für diese Frage unerheblich, da sie dem Beklagten bei seiner Untersuchung nicht vorlagen, es vielmehr auf die von ihm erhobenen und zu erhebenden Befunde ankam. Die danach nicht auszuschließende Thrombosemöglichkeit gebot umgehende weitere Abklärung. Das hat der Gerichtssachverständige mit der von ihm gewählten Beschreibung, aus objektiver Sicht dürfte einem Medizinstudenten im Staatsexamen der Fehler nicht unterlaufen" bzw., dass ein Medizinstudent im Staatsexamen durchgefallen wäre" zu verdeutlichen versucht. Das beinhaltet aber keine herabwürdigende Beurteilung des Beklagten. Der Sachverständige kommt mit dieser Beschreibung der ihm gestellten Aufgabe nach, den Fehler für Nichtmediziner in seiner Wertigkeit darzustellen. Er erhebt keinen diskriminierenden Angriff gegen die Persönlichkeit des Beklagten, sondern erläutert den Fehler als ,aus objektiver Sicht... nicht verständlich".
Entgegen der Berufung stellt sich der Vorwurf auch nicht nur als sogenannter Diagnoseirrtum dar, für den bei der Einstufung als grob besonders hohe Anforderungen zu gelten haben, sondern es ist der Behandlungsfehlervorwurf unzureichender Befunderhebung und dieser ist, daran lassen die medizinischen Ausführungen des Gerichtssachverständigen in Verbindung mit den herangezogenen Unterlagen keine Zweifel, rechtlich als grober Verstoß gegen die objektiv gebotenen Behandlungsregeln nach dem geschuldeten guten fachärztlichen Standard einzustufen.
Der Klägerin sind daher bei dem von ihr grundsätzlich zu führenden Nachweis der auf dem Behandlungsfehler zurückzuführenden Beschwerden (sog. haftungsbegründende Kausalität) Beweiserleichterungen zuzubilligen. Denn der bei sofortiger Abklärung der Thrombose mögliche Einsatz der Lysetherapie bot eine realistische Chance der vollständigen Ausheilung zumindest aber erheblichen Verbesserung. Der vollständige positive Nachweis des Behandlungserfolges ist von ihr angesichts der durch die unterlassene Befundung erheblich verschobenen Erkennbarkeit und Aufklärbarkeit des Behandlungsgeschehens nicht zu verlangen.
Der Beklagte hat demgegenüber den ihm grundsätzlich möglichen Nachweis, die Therapie wäre ohnehin wegen Zeitablaufs nicht mehr möglich gewesen, nicht zu führen vermocht. Der Gerichtssachverständige hat unter detaillierter Auseinandersetzung mit der Dokumentation des Hausarztes bei dieser Voruntersuchung und der nachfolgenden durch den Beklagten zwei verschiedene Beschwerdebilder erkannt, woraus sich nicht der Schluss ergibt, es habe sich bereits um einen einheitlichen mehrwöchigen Krankheitsverlauf gehandelt. Die Privatgutachten lassen keine für den Beklagten günstigere Beurteilung zu. Sie bieten gerade keinen Beweis dafür, dass die Thrombose bereits am Untersuchungstag des Beklagten längere Zeit bestanden hat. Das Aufzeigen der bloßen Möglichkeit nutzt der insoweit beweisbelasteten Behandlungsseite nichts. Im Gegenteil spricht die von dem Privatgutachter Dr. W... besonders hervorgehobene in den Krankenhausunterlagen vom 2.6.1994 enthaltene Erwähnung von ,seit ca. 5 Wochen unklare rechtsseitige Beinbeschwerden" keineswegs deutlich nur für einen so lange laufenden Venenprozess, sondern kann auch mit einer anderen Erkrankung im Zusammenhang gebracht werden. Es handelt sich gerade nicht - wie der Privatgutachter Dr. W... meint - um Fakten, die der Gerichtsgutachter weil nicht in sein Konzept passend einfach ignoriert hat. Fehlt es aber an zwingenden Gründen, die einen wochenlangen Thromboseprozess belegen, muss prozessual zugunsten der Klägerin von einer vertanen Heilungschance ausgegangen werden.
Damit sind die Ersatzansprüche vom Landgericht der Klägerin zu Recht zuerkannt worden. Bedenken werden gegen den zuerkannten Ersatzumfang nicht erhoben und sind auch sonst nicht ersichtlich. Die Berufung war daher insgesamt mit den Nebenentscheidungen aus §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713, 546 ZPO zurückzuweisen.