Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 02.06.2005, Az.: 6 B 181/05
Abschiebung; Aufenthalt; Ausreisepflicht; Begründung; Bewährung; Einreise; Freizügigkeit; Freizügigkeitsberechtigung; Freizügigkeitsgesetz; Freizügigkeitsrecht; Gefährdungsprognose; gemeinschaftsrechtskonforme Ausweisung; illegale Wiedereinreise; Indiz; persönliche Anhörung; Prozesskostenhilfe; Schutz des Familienlebens; Strafgericht; Strafrest; Straftäter ; Strafverbüßung; Unionsbürger; Wiederholungsgefahr
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 02.06.2005
- Aktenzeichen
- 6 B 181/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 50710
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 18 EG
- Art 39 Abs 3 EG
- Art 46 EG
- Art 8 MRK
- § 11 Abs 2 FreizügG/EU
- § 2 Abs 5 FreizügG/EU
- § 5 FreizügG/EU
- § 6 FreizügG/EU
- § 7 FreizügG/EU
- Art 6 Abs 1 GG
- § 121 Abs 3 ZPO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer die Ausreisepflicht begründenden Verfügung der Ausländerbehörde ist gegenüber einem Unionsbürger nicht zulässig, solange dessen Ausreisepflicht nicht unanfechtbar feststeht (im Anschluss an Hess. VGH, Beschl. vom 29.12.2004 - 12 TG 3212/04 (juris)).
2. Die Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit erfordert bei einem Unionsbürger regelmäßig dessen vorherige persönliche Anhörung.
3. Für die Gefährdungsprognose, ob eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Unionsbürger künftig die öffentliche Ordnung iSd Art 39 Abs. 3 EGV beeinträchtigen wird, ist wesentlich, welche Folgerungen aus begangenen Straftaten für das persönliche Verhalten zu ziehen sind, inwieweit eine Strafverbüßung erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine Straftaten mehr begehen wird, und welche Folgerungen für eine Wiederholungsgefahr aus einer Aussetzung des Strafrests zur Bewährung zu ziehen sind.
Tenor:
I. Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug bewilligt und Rechtsanwalt M. aus D. beigeordnet. Die Beiordnung erfolgt mit der Maßgabe, dass diesem Anwalt kein höherer Vergütungsanspruch zusteht als er bei einem im Gerichtsbezirk ansässigen Anwalt entstehen würde; insoweit wird der weitergehende Prozesskostenhilfeantrag abgelehnt.
Diese Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten der Beteiligten werden nicht erstattet.
II. Die aufschiebende Wirkung der Klage (6 A 180/05) gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 21. März 2005 wird hinsichtlich der darin enthaltenen Abschiebungsandrohung angeordnet und - soweit die sofortige Vollziehung der übrigen Entscheidungen von dem Antragsgegner angeordnet worden ist - wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Der im Jahre 1969 geborene Antragsteller ist italienischer Staatsangehöriger. Er reiste im April 1971 mit seinen Eltern in die Bundesrepublik Deutschland ein und erhielt im Jahre 1986 eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Nach einer vorübergehenden Rückkehr nach Italien reiste er im Juli 1988 erneut in das Bundesgebiet ein und erhielt von der seinerzeit zuständigen Stadt Gladbach antragsgemäß eine weitere befristete Aufenthaltserlaubnis.
Seit der Wiedereinreise in das Bundesgebiet ist der Antragsteller in folgenden Fällen strafrechtlich in Erscheinung getreten:
Strafbefehl des Amtsgerichts Recklinghausen vom 5. Dezember 1990 wegen Führens eines Kraftfahrzeugs ohne Fahrerlaubnis (15 Tagessätze zu je 50,00 DM).
Strafbefehl des Amtsgerichts Recklinghausen vom 6. August 1991 wegen Verstrickungsbruchs und Siegelbruchs durch Veräußerung einer gepfändeten Sache (20 Tagessätze zu je 20,00 DM).
Strafbefehl des Amtsgerichts Recklinghausen vom 3. September 1991 wegen Diebstahls (20 Tagessätze zu je 50,00 DM).
Urteil des Amtsgerichts Gifhorn vom 6. August 1992 wegen Verletzung der Unterhaltspflicht (sechs Monate Freiheitsstrafe/zwei Jahre Bewährung).
Strafbefehl des Amtsgerichts Gifhorn vom 22. September 1993 wegen Unterschlagung (40 Tagessätze zu je 50,00 DM).
Strafbefehl des Amtsgerichts Wolfsburg vom 25. Oktober 1994 wegen Betrugs (80 Tagessätze zu je 30,00 DM).
Urteil des Amtsgerichts Helmstedt vom 22. Mai 1995 wegen Betrugs (60 Tagessätze zu je 20,00 DM).
Urteil des Amtsgerichts Gifhorn vom 30. April 1996 wegen Betrugs in sieben Fällen (ein Jahr Freiheitsstrafe/drei Jahre Bewährung).
Strafbefehl des Amtsgerichts Recklinghausen vom 17. September 1996 wegen eines Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz (15 Tagessätze zu je 30,00 DM).
Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 27. Januar 1997 wegen gemeinschaftlicher Unterschlagung (70 Tagessätze zu je 25,00 DM).
Strafbefehl des Amtsgerichts Recklinghausen vom 5. Februar 1997 wegen eines Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz (20 Tagessätze zu je 30,00 DM).
Urteil des Amtsgerichts Recklinghausen vom 7. Juli 1997 wegen Betrugs (vier Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung).
Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 19. Januar 1998 wegen gemeinschaftlichen Betruges in 181 Fällen (drei Jahre und zehn Monate Freiheitsstrafe).
Urteil des Amtsgerichts Gifhorn vom 4. Dezember 2001 wegen teilweise gemeinschaftlichen gewerbsmäßigen Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung in sechs Fällen (zwei Jahre und drei Monate Freiheitsstrafe).
Urteil des Amtsgerichts Gifhorn vom 20. Mai 2003 wegen gemeinschaftlichen besonders schweren Betruges in 26 Fällen (drei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe).
Nach der Verurteilung zu Nr. 7 hatte der Antragsteller im November 1995 seinen Wohnsitz mit unbekanntem Ziel verlassen. Im Dezember 1995 wurde er zur Verbüßung einer restlichen Ersatzfreiheitsstrafe sowie einer anschließenden Untersuchungshaft der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel zugeführt. Nach der Haftentlassung war der Antragsteller zunächst in Recklinghausen wohnhaft, bevor er seinen Aufenthaltsort erneut mit unbekanntem Ziel verließ. Im März 1997 wurde er erneut in Haft genommen und im April 1997 der Justizvollzugsanstalt Bochum zur Strafvollstreckung zugeführt.
Nach der Verurteilung zu Nr. 13 verfügte die Stadt Bochum mit Bescheid vom 12. Oktober 1998 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG wegen schwerwiegender Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung und eine Abschiebung aus der Haft nach Italien; die Behörde stellte außerdem fest, dass mit dieser Maßnahme die EG-Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers erloschen sei. Den hiergegen erhobenen Widerspruch des Antragstellers vom 20. November 1998 wies die Bezirksregierung Arnsberg durch Widerspruchsbescheid vom 15. April 1999 als unbegründet zurück. Ein zuvor vom Antragsteller beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen anhängig gemachter Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes blieb ohne Erfolg (Beschl. vom 17. Juni 1999 - 8 L 3925/98). Das vom Antragsteller gegen die Ausweisungsverfügung gerichtete Klageverfahren wurde durch Beschluss vom 6. Januar 2000 (8 K 2531/99) eingestellt, nachdem eine Aufforderung des Gerichts zum Betreiben des Verfahrens erfolglos geblieben war. Der Antragsteller war im Juli 1999 aus einem Hafturlaub nicht in die Justizvollzugsanstalt Castrop-Rauxel zurückgekehrt und untergetaucht.
Im November 2000 wurde der Antragsteller erneut zur Vollstreckung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafen in Strafhaft genommen (Justizvollzugsanstalt Bochum) und schließlich am 9. Juli 2001 im Einvernehmen mit den Staatsanwaltschaften Hildesheim und Bochum aus der Strafhaft nach Italien (Mailand) abgeschoben.
Am 19. November 2001 wurde der Antragsteller von der Polizei in Gifhorn aufgegriffen, nachdem er unerlaubt in das Bundesgebiet wieder eingereist war. Im Januar 2002 wurde er der Justizvollzugsanstalt Bochum zur Verbüßung von Reststrafen aus den früheren Verurteilungen zugeführt. Später wurde die Strafvollstreckung um die Verurteilung zu Nr. 14 und 15 wegen Straftaten, die der Antragsteller bis März 2000 begangen hatte, erweitert. Ein Antrag des Antragstellers auf Unterbrechung der Strafvollstreckung zur Eheschließung mit seiner jetzigen Ehefrau, mit der er ein im Jahre 1993 geborenes Kind hat, blieb ohne Erfolg, nachdem der Antragsteller in einem Bericht der Justizvollzugsanstalt Bochum als nicht geeignet für eine Lockerung des Strafvollzugs beurteilt worden war. Nach einem zweiten Bericht der Justizvollzugsanstalt vom April 2004, in dem unter Zurückstellung von Bedenken eine Entscheidung nach § 57 StGB zur Aussetzung des Strafrestes befürwortet wurde, beschloss das Landgericht Bochum am 6. September 2004, die weitere Strafvollstreckung für die Dauer von vier Jahren zur Bewährung auszusetzen. Dem Antragsteller wurde u.a. zur Auflage gemacht, sich unverzüglich um eine feste versicherungspflichtige und ortsgebundene Arbeit zu bemühen. Der Kläger wurde daraufhin am 7. September 2004 aus der Haft entlassen und nahm in Gifhorn seinen Wohnsitz, wo er am 13. September 2004 eine deutsche Staatsangehörige heiratete.
Zwischenzeitlich hatte die Stadt Bochum mit Verfügung vom 17. Juni 2004 dem Antragsteller seine Abschiebung aus der Haft nach Italien angedroht. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde von der Bezirksregierung Arnsberg mit Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2004 zurückgewiesen. Bereits zuvor hatte der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Im Hinblick darauf, dass sich die Verfügung der Stadt Bochum vom 17. Juni 2004 mit der Entlassung des Antragstellers aus der Haft erledigt hatte und die Stadt Bochum wegen des Wechsels des Wohnorts weitere Maßnahmen gegen den Antragsteller nicht ergreifen wollte, wurden die Verfahren beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen nach übereinstimmender Erledigungserklärung der Verfahrensbeteiligten durch Beschlüsse vom 13. September 2004 eingestellt (8 L 1263/04 und 8 L 1470/04).
Am 30. September 2004 beantragte der Antragsteller bei dem Antragsgegner die Erteilung einer auf fünf Jahre befristeten Aufenthaltserlaubnis, hilfsweise einer Duldung. Seit dem 1. Dezember 2004 ist der Antragsteller bei einem Dienstleistungsunternehmen als Auslieferungsfahrer beschäftigt (Bruttoeinkünfte: 1.500,00 Euro).
Mit Bescheid vom 21. März 2005 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Die Behörde stellte außerdem den Verlust des Freizügigkeitsrechts für eine Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet für die Dauer von fünf Jahren ab dem Zeitpunkt des Verlassens der Bundesrepublik Deutschland fest und drohte dem Antragsteller die Abschiebung nach Italien an.
Am 23. März 2005 hat der Antragsteller Klage erhoben (6 A 180/05) und außerdem beim Verwaltungsgericht um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sowie um die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für sein Begehren nachgesucht. Zur Begründung trägt er vor:
Der Bescheid des Antragsgegners verletze ihn in seinen Rechten auf Freizügigkeit. Der Bescheid sei auch deshalb rechtswidrig, weil seine Rechte aus Art. 6 GG, aus der Menschenrechtskonvention, aus dem EG-Vertrag sowie aus dem Freundschaftsvertrag zwischen Italien und der Bundesrepublik Deutschland nicht beachtet worden seien. Gründe der öffentlichen Sicherheit, die eine Ausweisung rechtfertigen könnten, lägen nicht vor. Er habe keine Straftaten begangen und werde dies auch in Zukunft nicht tun. Soweit in der angefochtenen Verfügung der Vorwurf erhoben worden sei, der Arbeitsgemeinschaft zur Arbeitsvermittlung im Landkreis Gifhorn die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht angezeigt zu haben, treffe dies nicht zu. Die Arbeitsgemeinschaft (ARGE) sei über seine Erwerbstätigkeit informiert gewesen. Soweit die Sozialleistungen, die seine Ehefrau erhalten habe, falsch berechnet worden seien, sei dies weder von ihm noch von seiner Ehefrau zu verantworten. Dies habe die ARGE in einem Änderungsbescheid vom 6. April 2005 klargestellt. Eine Rückkehr nach Italien sei ihm nicht zuzumuten. Dort habe er keine beruflichen Aussichten. Seiner Familie könne er schon wegen der Sprachprobleme einen Umzug nach dorthin ebenfalls nicht zumuten. Auch für ihn selbst sei eine räumliche Trennung von der Ehefrau und dem Sohn nicht hinnehmbar.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage (6 A 180/05) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 21. März 2005 anzuordnen bzw. wiederherzustellen und ihm für die Wahrnehmung seiner Rechte in diesem Rechtszug Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Schulze aus Dortmund zu bewilligen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er entgegnet:
Nachdem der Antragsteller rechtskräftig ausgewiesen und abgeschoben worden sei, besitze er nicht mehr das Recht der Freizügigkeit. Im Übrigen stelle sich seine Erwerbstätigkeit als illegal dar, weil er nach Maßgabe der Beschäftigungsverfahrensordnung eine Erlaubnis der Ausländerbehörde zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit benötigt hätte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens, auf die Akten des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen (2 Bände) sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners (4 Hefter) verwiesen.
II. Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO hat Erfolg.
Da der Antragsteller nach seinen derzeitigen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aufzubringen, ist ihm außerdem für die Wahrnehmung seiner Rechte im ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten zu bewilligen (§§ 166 VwGO, 114 ZPO) mit der Maßgabe, dass dem Anwalt kein höherer Vergütungsanspruch zusteht als er bei einem am Gerichtssitz ansässigen Anwalt entstehen würde (§§ 166 VwGO, 121 Abs. 3 ZPO).
Das Gericht hat die aufschiebende Wirkung einer Klage in Bezug auf eine von Gesetzes wegen sofort vollziehbare Maßnahme anzuordnen bzw. gegenüber einem behördlich verfügten Sofortvollzug wiederherzustellen, wenn das Interesse des Betroffenen, von diesen Maßnahmen vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an dem sofortigen Vollzug überwiegt. Diese Voraussetzung liegt hier vor, weil gewichtige rechtliche Bedenken gegen die in der Verfügung des Antragsgegners vom 21. März 2005 getroffenen Entscheidungen bestehen.
Soweit in der angefochtenen Verfügung gegenüber dem Antragsteller gemäß § 6 Abs. 1 und 3 des Freizügigkeitsgesetzes - FreizügkG/EU - die Feststellung getroffen wurde, für die Dauer von fünf Jahren das Recht auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet (§ 2 Abs. 1 FreizügkG/EU) verloren zu haben, und diese Feststellung für sofort vollziehbar erklärt worden ist, entsprechen diese Anordnungen nicht der Gesetzeslage. Die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen zur Beschränkung des Aufenthalts von Staatsangehörigen anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) ist seit dem 1. Januar 2005 nach den Vorschriften des FreizügigkG/EU zu beurteilen. Das Gesetz gilt gemäß § 1 FreizügkG/EU für alle Unionsbürger, ungeachtet der Frage, ob sie die Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung nach den §§ 2 bis 4 FreizügkG/EU erfüllen. Dieser auf Art 18 Abs. 1 und 2 EGV zurückzuführende Zusammenhang von Staatsangehörigkeit und Freizügigkeitsrecht ergibt sich auch aus § 11 Abs. 2 FreizügkG/EU, wonach das ebenfalls ab dem 1. Januar 2005 geltende Aufenthaltsgesetz - von den in § 11 Abs. 1 FreizügkG/EU im Einzelnen aufgeführten Rechtsvorschriften abgesehen - erst dann auf Unionsbürger anzuwenden ist, wenn die Ausländerbehörde gemäß § 6 FreizügkG/EU rechtswirksam das Nichtbestehen oder den Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt hat.
Unionsbürger, die das Freizügigkeitsrecht nach § 6 Abs. 1 oder Abs. 3 FreizügkG/EU verloren haben und sich außerhalb des Bundesgebiets aufhalten, dürfen nicht (erneut) einreisen und sich darin aufhalten (§ 7 Abs. 2 FreizügkG/EU). Befindet sich ein Unionsbürger - wie hier der Antragsteller - bereits im Bundesgebiet, besteht eine Ausreisepflicht erst dann, wenn die Ausländerbehörde unanfechtbar festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt für ihn nicht mehr besteht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügkG/EU). Dies hat zur Folge, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer die Ausreisepflicht begründenden Verfügung gegenüber einem Unionsbürger nicht zulässig ist (vgl. hierzu: Hess. VGH, Beschl. vom 29.12.2004 – 12 TG 3212/04 <juris> m. w. N.). Insoweit wird mit der in § 7 Abs. 1 FreizügkG/EU normierten Regelung den Unionsbürgern eine verfahrensrechtliche Stellung eingeräumt, die über die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts in zulässiger Weise hinausgeht (Art 31 und 37 der Richtlinie 2004/38/EG).
Die in der angefochtenen Verfügung getroffene Feststellung des Antragsgegners zu § 6 Abs. 1 und 3 FreizügkG/EU ist von dem Antragsteller mit der Klage (6 A 180/05) angegriffen worden und noch nicht unanfechtbar. Die an die Unanfechtbarkeit einer solchen Feststellung anknüpfende Ausreisepflicht des Antragstellers besteht daher nicht. Infolgedessen ist die aufschiebende Wirkung der vom Antragsteller erhobenen Klage gegen die Entscheidung über den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, dessen Sofortvollzug der Antragsgegner in unzulässiger Weise angeordnet hat, wiederherzustellen.
Dem Antragsteller ist darüber hinaus vorläufiger Rechtsschutz in Bezug auf die von dem Antragsgegner in der angefochtenen Verfügung außerdem angedrohte Abschiebung zu gewähren. Hierbei handelt es sich um eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung zur Vorbereitung der zwangsweisen Abschiebung (§§ 70 Abs. 1 NVwVG, 64 Abs. 4 NdsSOG), die von Gesetzes wegen sofort vollziehbar ist. Insoweit ist, da eine vollziehbare Ausreisepflicht des Antragstellers nicht besteht, gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Auch im Übrigen bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verfügung vom 21. März 2005. Dies gilt nicht nur in verfahrensmäßiger Hinsicht, indem der Antragsgegner vor der Feststellung zu § 6 Abs. 1 und 3 FreizügkG/EU mit einer Begründung („unnötige Verlängerung des Verfahrens“), die diese Verfahrensweise nicht zu rechtfertigen vermag, von der regelmäßig gebotenen persönlichen Anhörung des Betroffenen (§ 6 Abs. 6 Satz 1 FreizügkG/EU) abgesehen hat. Die angefochtene Verfügung enthält überdies eine nicht tragfähige Begründung, soweit darin dem Antragsteller das Recht auf Einreise und Aufenthalt aberkannt worden ist.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügkG/EU kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 FreizügkG/EU) nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Art 39 Abs. 3, 46 Abs. 1 EGV) festgestellt werden. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht und kann wegen der besonderen Rechtsstellung der vom Gemeinschaftsrecht privilegierten Personen sowie der Bedeutung des Grundsatzes auf Freizügigkeit (EuGH, Urt. vom 27.10.1977, NJW 1978, 479; EuGH, Urt. vom 29.04 2004, DVBl 2004, 876; BVerwG, Urt. vom 03.08.2004 – 1 C 30.02 – m. w. N) eine solche Maßnahme nur rechtfertigen, wenn die ihr zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügkG/EU). Dies erfordert eine unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des Unionsbürgers und eine insoweit anzustellende Gefährdungsprognose
Für eine solche Gefährdungsprognose ist bedeutsam, ob eine hinreichende und unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende (hohe) Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung im Sinne des Art 39 Abs. 3 EGV beeinträchtigen wird (BVerwG, Urt. vom 03.08.2004, aaO.; Urt. vom 07.12.1999, BVerwGE 110, 140 jeweils m. w. N.). Soweit in diesem Zusammenhang die einschlägigen strafrechtlichen Entscheidungen heranzuziehen sind, ist auch zu prüfen, inwieweit die Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdende Straftaten mehr begehen wird und welche Folgerungen aus einer Aussetzung des Strafrests nach § 57 StGB, wie sie hier erfolgt ist, zu ziehen sind (BVerwG, Urt. vom 16.11.2000, BVerwGE 112, 185). Zwar genügt der Umstand, dass zwei Drittel der Freiheitsstrafe verbüßt wurden und die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt worden ist, für sich allein nicht ohne weiteres, um eine Wiederholungsgefahr auszuschließen; eine Entscheidung des Strafgerichts nach § 57 StGB ist jedoch von einigem Gewicht und begründet für die Gefährdungsprognose ein gewichtiges Indiz (BVerwG, Urt. vom 16.11.2000, aaO.).
Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Verlust der Freizügigkeit nach einem Aufenthalt des Unionsbürgers im Bundesgebiet von mehr als fünf Jahren Dauer nur noch aus besonders schwer wiegenden Gründen festgestellt werden kann (§ 6 Abs. 3 FreizügkG/EU). Diese Regelung hat der Antragsgegner auch hier herangezogen, weil der Antragsteller schon als Kleinkind von Italien nach Deutschland gekommen und hier aufgewachsen ist. Da der Antragsteller hierdurch ein Recht auf Daueraufenthalt im Bundesgebiet erworben hatte (vgl. § 2 Abs. 5 FreizügkG/EU; Art 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EU) und zu erwägen ist, ob nur eine Abwesenheit von zwei aufeinander folgenden Jahren zum Verlust dieses Rechts geführt haben könnte (vgl. Art 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38/EU), dürfte dem nur kurzzeitigen Aufenthalt des Antragstellers in Italien im Anschluss an seine Abschiebung im Jahr 2001 insoweit keine maßgebliche Bedeutung zukommen. Zwar erfordert die Regelung des § 6 Abs. 3 FreizügkG/EU einen “rechtmäßigen Aufenthalt“ von dieser Dauer im Bundesgebiet, der seit der vorzeitigen Rückkehr des Antragstellers in das Bundesgebiet nach seiner Abschiebung wegen der regelmäßig mit einer solchen Maßnahme verbundenen Rechtsfolgen (vgl. § 7 Abs. 2 FreizügkG/EU) nicht mehr gegeben sein könnte. Im Hinblick darauf, dass bei der Ausweisungsentscheidung der Stadt Bochum vom 12. Oktober 1998 jedoch die sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Entscheidungsmaximen nicht genügend beachtet wurden und insbesondere als Grundlage der Ausweisung von Unionsbürgern eine Ermessensentscheidung nicht getroffen wurde (vgl. hierzu: EuGH, Urt. vom 29.04.2004, aaO.; BVerwG, Urt. vom 03.08.2004, aaO. jeweils m. w. N.), kommt der Abschiebung möglicherweise eine solche Bedeutung nicht zu. Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs schließt nur eine gemeinschaftsrechtlich wirksame Ausweisung für eine angemessene Dauer das Recht eines Unionsbürgers auf Zugang zum früheren Aufnahmestaat aus (EuGH, Urt. vom 18.05.1982 - C-115/81 und C-116/81 -).
Schließlich ist im Rahmen der nach § 6 FreizügkG/EU zu treffenden Entscheidung bedeutsam, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit im Sinne des Art 39 Abs. 3 EGV das private Interesse des Unionsbürgers an seinem Verbleiben im Bundesgebiet deutlich überwiegt. Namentlich der nach Art 6 GG und Art 8 EMRK garantierte Schutz des Familienlebens ist zugunsten des Unionsbürgers zu beachten und das Ausmaß der Schwierigkeiten zu berücksichtigen, denen er, sein Ehegatte und das Kind im Herkunftsland (hier: Italien) ausgesetzt wären. Insoweit ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung bzw. - sofern sich daran ein Rechtsmittelverfahren anschließt - im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich.
Diesen Vorgaben entspricht die angefochtene Verfügung des Antragsgegners vom 21. März 2005 nicht. Zwar ist im Ansatz zutreffend davon ausgegangen worden, dass allein die Tatsache der früheren Verurteilungen des Antragstellers regelmäßig nicht einen Ausschluss vom Freizügigkeitsrecht zu rechtfertigen vermag. Der Antragsgegner hat jedoch in den Mittelpunkt seiner Gefährdungsprognose und für das Ergebnis seiner Folgerungen Sachumstände als maßgeblich herausgestellt, die sich als tatsächlich nicht begründete Annahmen erwiesen haben. Die Begründung der Entscheidung lässt außerdem eine Auseinandersetzung mit weiteren hier zu berücksichtigenden Umständen vermissen.
Soweit der Antragsgegner eine schwere gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung aus einem vermeintlich neuerlichen strafbaren Verhalten des Antragstellers hergeleitet hat, das er zudem für besonders schwer wiegend hält, weil der Antragsteller in einen gegenüber der Arbeitsgemeinschaft des Landkreises Gifhorn (ARGE) begangenen Betrug seine Ehefrau involviert haben soll, ist diese Annahme nicht haltbar. Die Aufnahme einer dauerhaften und sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung durch den Antragsteller, die auf eine entsprechende Bewährungsauflage des Landgerichts Bochum vom 6. September 2004 zurückgeht, war der ARGE offenkundig zeitgerecht mitgeteilt, von dieser Behörde jedoch wegen eines nicht in der Sphäre des Antragstellers liegenden Umstandes bei der Bemessung von Sozialleistungen an die Ehefrau (Arbeitslosengeld II) nicht umgesetzt worden. Dies hat die ARGE inzwischen erkannt und einen ab dem 1. April 2005 geltenden Änderungsbescheid erlassen; von einer Rückforderung der seit Jahresbeginn gewährten Mehrleistungen hat die ARGE ausdrücklich im Hinblick darauf abgesehen, dass das Verschulden für die Fehlberechnung der Sozialleistungen bei der Behörde liegt. Bereits hiernach kann die angefochtene Verfügung voraussichtlich keinen Bestand haben, weil ein fortgesetztes strafrechtliches Verhalten des Antragstellers, was für die Entscheidung vom 21. März 2005 als wesentlich herausgestellt worden ist, nicht ersichtlich ist.
Nicht eingestellt in die Gefährdungsprognose und demnach unberücksichtigt gelassen hat der Antragsgegner überdies die Sozialprognose des Landgerichts Bochum bei der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung. Im Hinblick darauf, dass der Antragsteller eine feste familiäre Bindung angestrebt hatte, zu der es inzwischen mit der Eheschließung auch gekommen ist, wegen des sichtbar gewordenen Bestrebens zum Ersatz des in der Vergangenheit verursachten Schadens und mit Blick auf die vom Antragsteller klarer formulierten Zukunftspläne hat das Strafgericht angenommen, dass bei dem Antragsteller „offensichtlich ein Umdenkungsprozess eingesetzt“ habe. Das Gericht hat es deshalb als verantwortbar angesehen, dem Antragsteller eine Erprobungschance einzuräumen. Dass es im Zusammenhang mit den Bewährungsauflagen zu Problemen gekommen ist, die diese Sozialprognose in Frage stellen, ist nicht ersichtlich.
Zu berücksichtigen wäre außerdem gewesen, dass die letzte abgeurteilte Tat (März 2000) bereits mehr als fünf Jahre zurückliegt. Zwar ist der Zeitraum seit der Haftentlassung Anfang September 2004 noch nicht derart lang, dass schon jetzt von einer erfolgreich verlaufenen Bewährungsphase ausgegangen werden könnte. Die bisher bekannten Umstände einer festen beruflichen Tätigkeit, die nachgewiesene Bereitschaft des Antragstellers, im Rahmen der ihm zumutbaren finanziellen Möglichkeiten seinen Unterhalts- und auch sonstigen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen und nicht zuletzt die offenbar intakten familiären Bindungen zu seiner Ehefrau und dem minderjährigen Sohn lassen jedoch Anhaltspunkte für die erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit neuer strafrechtlicher Verfehlungen nicht erkennen. Dies führt zu der getroffenen Entscheidung.
Lediglich ergänzend wird in Bezug auf den vom Antragsteller im behördlichen sowie zunächst auch im Klageverfahren verfolgten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis-EU angemerkt, dass ein solches Begehren erfolglos bleiben wird. Rechtliche Grundlage der Erteilung von Berechtigungen und Erlaubnissen für Unionsbürger und deren Familienangehörige ist nicht das mit Ablauf des 31. Dezember 2004 außer Kraft getretene AufenthG/EWG, sondern das FreizügkG/EU. Eine Übergangsregelung für vor dem 1. Januar 2005 gestellte, aber erst danach beschiedene Anträge von Unionsbürgern sieht das Gesetz nicht vor. Nach § 5 Abs. 2 FreizügkG/EU wird eine Aufenthaltserlaubnis-EU nur den Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, erteilt. Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger erhalten dagegen lediglich eine Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht ausgestellt, sofern die Voraussetzungen hierfür vorliegen (§ 5 Abs. 5 FreizügigkG/EU).
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe auf den §§ 166 VwGO, 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG und beläuft sich auf die Hälfte des im Verfahren zur Hauptsache anzunehmenden Wertes (die Hälfte des Auffangwertes / II. Nr. 1.5 und 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit - NVwZ 2004, 1327).