Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 10.08.2000, Az.: 6 B 375/00
Anfallsleiden; EEG-Untersuchung; Epilepsie; Fahreignung; Medikamente
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 10.08.2000
- Aktenzeichen
- 6 B 375/00
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2000, 41252
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3 StVG
Tenor:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Insoweit ergeht die Entscheidung gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten der Beteiligten werden nicht erstattet.
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4.000,-- DM festgesetzt.
Gründe
I.
Der geborene Antragsteller erhielt im Jahre 1981 eine Fahrerlaubnis der Klasse 3. Im Verkehrszentralregister des Kraftfahrt-Bundesamtes ist der Antragsteller mit einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 22 km/h (am 05. September 1998), mit der Ingebrauchnahme eines nicht versicherten Kraftfahrzeugs (am 10. Juni 1999) sowie mit einer Vorfahrtsverletzung (am 01. November 1999/Verkehrsunfall) erfasst.
Am 30. Dezember 1999 verursachte der Antragsteller in Langelsheim einen weiteren Verkehrsunfall. Er stieß mit seinem Pkw gegen zwei am Rand der Gegenfahrbahn abgestellte Fahrzeuge und schließlich gegen die Hauswand. Nach dem über diesen Vorfall gefertigten Abschlussbericht des Polizeikommissariats Langelsheim vom 20. Januar 2000 zeigte der Antragsteller beim Eintreffen der Polizeibeamten deutliche Anzeichen eines starken Krampfanfalles mit Schweißausbrüchen, Schaum vor dem Mund, Verkrampfungen und Erbrechen. Die von der Polizei benachrichtigte Mutter des Antragstellers informierte die Beamten darüber, dass ihr Sohn an Krampfanfällen leide und deshalb in ärztlicher Behandlung sei; die Krampfanfälle würden insbesondere in Stresssituationen auftreten.
Der Antragsgegner gab daraufhin mit Verfügung vom 18. Februar 2000 dem Antragsteller auf, sich zur Klärung der Frage, ob bei ihm eine für die Fahreignung erhebliche Gesundheitsstörung oder Krankheit vorliege, das Gutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie mit verkehrsmedizinischer Qualifikation beizubringen. In dem Gutachten des TÜV Nord vom 28. April 2000 kam die sachverständige Ärztin zu dem Ergebnis, dass bei dem Antragsteller ein Anfallsleiden vorliege, das für die Fahreignung erheblich sei und aufgrund dessen er ein Kraftfahrzeug der Klassen B, BE, C1 und C1E zur Zeit nicht sicher führen könne. Der Antragsgegner kündigte daraufhin dem Antragsteller an, ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen und gab ihm Gelegenheit, sich hierzu zu äußern.
In seiner Stellungnahme vom 07. Juni 2000 machte der Antragsteller geltend, dass das Gutachten des TÜV Nord vom 28. April 2000 eine Entziehung der Fahrerlaubnis nicht rechtfertige. Das Gutachten berücksichtigte nicht die Umstände, die nach zehn Jahren erstmals zu einem Anfall geführt hätten. Auch habe die Sachverständige weder eigene Befunde erhoben noch sämtliche ärztlichen Unterlagen beigezogen. Bei dem Unfall vom 30. Dezember 1999 habe er sich offenbar ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule zugezogen. Zu dieser Zeit habe er wegen seines Scheidungsverfahrens unter erheblichem Stress gestanden. Schließlich habe ein Wechsel seiner Arbeitsstelle und die Übersiedlung nach Seesen bevorgestanden. Aus diesen Gründen habe er sich erstmals nach zehn Jahren nicht intensiv um die Einnahme der erforderlichen Medikamente kümmern können. Wegen der geschilderten Probleme habe er es versäumt, sich ein Rezept ausstellen zu lassen und neue Medikamente zu beschaffen. Inzwischen nehme er wieder regelmäßig seine Medikamente ein, so dass eine Anfallsgefahr nicht weiter bestehe.
Mit Verfügung vom 13. Juli 2000 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die Fahrerlaubnis der Klassen 3, 4 und 5. Im Hinblick auf die im Falle eines Anfalls von dem Antragsteller ausgehenden Gefahren für die übrigen Verkehrsteilnehmer ordnete die Behörde außerdem die sofortige Vollziehung an. Gegen den Bescheid erhob der Antragsteller am 21. Juli 2000 Widerspruch, über den - soweit ersichtlich ist - noch nicht entschieden worden ist.
Am 24. Juli 2000 hat der Antragsteller außerdem beim Verwaltungsgericht um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sowie um die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nachgesucht. Zur Begründung wiederholt er sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren und macht ergänzend geltend, dass nach dem Ergebnis einer ärztlichen Untersuchung vom Mai 2000 ein weiterer Krampfanfall ausgeschlossen sei.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Fahrerlaubnisentziehungsverfügung des Antragsgegners vom 13. Juli 2000 wiederherzustellen sowie ihm unter Beiordnung von Rechtsanwalt S. Prozesskostenhilfe für die Wahrnehmung seiner Rechte im ersten Rechtszug zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er entgegnet:
In Anbetracht seines Anfallleidens sei der Antragsteller derzeit ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Es sei unerheblich, aus welchen Gründen es zu dem Anfall beim Führen eines Kraftfahrzeugs sowie zu einem weiteren Anfall bei der Klinikbehandlung gekommen sei; maßgeblich sei die Tatsache, dass der Antragsteller überhaupt Anfälle erlitten habe. Dem Antragsteller hätte aufgrund seiner langjährigen Erkrankung bekannt sein müssen, zu welchen Folgen die Nichteinnahme der erforderlichen Medikamente führen könne. Mit einer konsequenten Medikation müsse das Risiko eines weiteren Anfalls dauerhaft ausgeschlossen werden. Bis zum Zeitpunkt einer Kontrolluntersuchung sei die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen. Eine solche Untersuchung könne erst nach Ablauf einer bestimmten Frist erfolgen, die im Falle des Antragstellers noch nicht verstrichen sei. Im Interesse der Sicherheit der Allgemeinheit im öffentlichen Straßenverkehr könne den Interessen des Antragstellers an dem Erhalt seiner Fahrerlaubnis kein Vorrang eingeräumt werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg. Infolgedessen ist der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (§§ 166 VwGO, 114 ZPO) ebenfalls abzulehnen.
Der Antragsgegner hat die sofortige Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung in formell ordnungsgemäßer Weise angeordnet (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) und in ausreichender Weise schriftlich begründet, warum das besondere Interesse an dem Sofortvollzug als gegeben erachtet wird (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO).
Auch aus materiell-rechtlichen Gründen besteht keine Veranlassung, die aufschiebende Wirkung des gegen den Bescheid erhobenen Rechtsbehelfs wiederherzustellen. Nach § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung, sofern nicht die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde besonders angeordnet wird. Eine derartige Vollziehungsanordnung setzt zu ihrer Rechtswirksamkeit voraus, dass ohne sie das öffentliche Interesse in schwerwiegender Weise beeinträchtigt würde, so dass demgegenüber die privaten Interessen des von der Vollziehungsanordnung Betroffenen zurücktreten.
Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung, mit der die Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG entzogen worden ist, ist regelmäßig anzunehmen, wenn sich die an der Fahreignung des Betroffenen bestehenden Zweifel so weit verdichtet haben, dass die ernste Besorgnis gerechtfertigt erscheint, er werde andere Verkehrsteilnehmer in ihrer körperlichen Unversehrtheit oder in ihrem Vermögen ernstlich gefährden, wenn er bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung weiterhin am motorisierten Straßenverkehr teilnimmt (Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., Rn 1273 m.w.N.). Eine solche Gefahr für die Allgemeinheit ist insbesondere dann anzunehmen, wenn besondere Umstände eine Gefährlichkeit gegenwärtig begründen, die im Wege der Abwägung zu Lasten der Allgemeinheit und damit im öffentlichen Interesse nicht hingenommen werden kann. Hiervon ist in Anbetracht des von den Ärzten bei dem Antragsteller festgestellten Krankheitsbildes und der davon ausgehenden Gefährdungslage durch mögliche Rückfälle auszugehen.
Maßgeblich für die Annahme einer von dem Antragsteller ausgehenden Verkehrsgefährdung sind die in dem medizinischen Gutachten des TÜV Nord vom 28. April 2000 enthaltenen Befunde, in die die ärztlichen Berichte des Krankenhauses Dannenberg/Elbe vom 06. Januar 1998, des Dr. M. vom 03. April 2000, der Harzkliniken Goslar vom 31. Dezember 1999 und vom 05. Januar 2000 sowie des Dr. L. vom 10. Januar 2000 (EEG-Befund) eingegangen sind. Das Gericht folgt insoweit der Annahme der Gutachterin, dass bei dem Antragsteller ein massives Anfallsleiden vorliegen, das derzeit die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausschließt. Nach dem in den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Heft M 115, Februar 2000) gesammelten verkehrsmedizinischen Erfahrungswissen beeinträchtigen epileptische Reaktionen die Fahreignung eines Menschen in so erheblichem Ausmaß, dass die hiervon betroffenen Personen in aller Regel nicht in der Lage sind, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen gerecht zu werden, selbst wenn solche Anfälle nur selten aufgetreten sind. Maßgeblich bleibt, dass sich diese Anfälle jederzeit unvorhersehbar und für den Kraftfahrer unabwendbar wiederholen können, insbesondere dann, wenn die Anfallsprovokation von dem Erkrankten beeinflussbar sind (Stresssituation, unregelmäßige Medikamenteneinnahme). Die Möglichkeit, dass derartige, die epileptischen Anfälle auslösenden Konditionen erneut eintreten können, lässt sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen, zumal der Antragsteller sich auch in der Vergangenheit nicht immer um eine seinem Anfallsleiden angemessene Behandlung bemüht hat. Aus dem Gutachten des TÜV Nord ergibt sich, dass wiederholt ein erheblich zu niedriger Valproinsäurespiegel festgestellt, jedoch eine Medikamentenanpassung nicht oder nicht zeitgerecht vorgenommen wurde. Der Verkehrsunfall vom 30. Dezember 1999 ist ebenfalls auf eine grobe Nachlässigkeit des Antragstellers bei der Behandlung seines Anfallsleidens zurückzuführen. Darüber hinaus hat der Antragsteller in der letzten Zeit mehrfach in einer Weise gegen die Verkehrsvorschriften verstoßen, die die erforderliche Umsicht beim Führen eines Kraftfahrzeugs vermissen lässt. Dies hatte bereits kurz vor dem Vorfall vom 30. Dezember 1999 zu einem Verkehrsunfall geführt. Die von einer solchen Person ausgehende Gefahr ist bei der Dichte des modernen Massenverkehrs derart groß, dass sie von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr ausgeschlossen werden muss. Die Voraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen bleibt nach mehr als zwei epileptischen Anfällen bis zu einem Nachweis darüber ausgeschlossen, dass innerhalb eines ärztlich kontrollierten Zeitraums von fünf Jahren ohne eine antiepileptische Behandlung ein weiterer Vorfall nicht aufgetreten ist. Nach einem einmaligen Anfall im Erwachsenenalter ohne Hinweis auf eine beginnende Epilepsie oder eine andere hirnorganische Erkrankung ist eine anfallsfreie Zeit von zwei Jahren abzuwarten; die Wiedererlangung der Fahreignung ist an strenge und dem Einzelfall angepasste wiederholte Kontrolluntersuchungen gebunden. Eine EEG-Untersuchung kann lediglich zur ergänzenden Betrachtung herangezogen werden; für die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sind solche Untersuchungen nicht allein maßgeblich. Dem hirnelektrischen Befund der Fachärzte L. vom 29.05.2000 kommt deshalb im Rahmen dieses Verfahrens nur eine untergeordnete Bedeutung zu.
Infolgedessen ist der Antragsgegner zu Recht davon ausgegangen, dass der Antragsteller gegenwärtig ein nicht weiter hinzunehmendes Risiko im Straßenverkehr darstellt. Die letzten Anfälle vom Dezember 1999 liegen noch nicht lange zurück. Die Neueinstellung der Medikation und die Phase einer Stabilisierung der Anfallsfreiheit erfordert eine angemessene Zeitspanne, die derzeit noch nicht verstrichen ist. Bei einer solchen Sachlage muss jedenfalls derzeit noch von einer dem Antragsteller fehlenden Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgegangen werden.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Hinsichtlich des Prozesskostenhilfegesuchs beruht die Kostenentscheidung auf den §§ 1 Abs. 1 GKG, 166 VwGO, 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG und beläuft sich auf die Hälfte des in einem Verfahren zur Hauptsache anzunehmenden Wertes (8.000,-- DM).