Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 15.10.2013, Az.: 4 ME 238/13

Angebot eines Platzes für ein behindertes Kind in einer Integrationsgruppe in einem wohnortnahen Kindergarten durch den Kinderhilfeträger und Jugendhilfeträger

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
15.10.2013
Aktenzeichen
4 ME 238/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 46577
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2013:1015.4ME238.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 17.09.2013 - AZ: 13 B 5808/13

Fundstellen

  • DÖV 2014, 92
  • FStNds 2014, 125-127
  • Jugendhilfe 2014, 80
  • NDV-RD 2013, 143-144
  • NdsVBl 2014, 110-111
  • NordÖR 2014, 98
  • br 2014, 111

Amtlicher Leitsatz

Die Entscheidung eines Kinder und Jugendhilfeträgers, einem behinderten Kind keinen Platz in dem von diesem gewünschten Regelkindergarten, der die Voraussetzungen für die Betreuung behinderter Kinder nicht erfüllt, und diesem stattdessen einen Platz in einer Integrationsgruppe in einem wohnortnahen Kindergarten anzubieten, verstößt weder gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG noch gegen Art. 5 Abs. 2 UN Behindertenrechtskonvention.

Gründe

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses ihren Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr einen Platz in der von ihr gewünschten Kindertagesstätte zur Verfügung zu stellen, abgelehnt hat, hat keinen Erfolg.

Die Antragstellerin ist nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, gegen die sie insoweit keine Einwände erhoben hat, ohne besondere Hilfe nicht in der Lage, einen Regelkindergarten zu besuchen. Diese besondere Hilfe könnte die Antragstellerin in den ihr vom Antragsgegner angebotenen, in der Nähe ihres Wohnortes befindlichen beiden Kindertagesstätten erhalten, da sie dort gemeinsam mit Kindern mit und ohne Behinderung in einer Integrationsgruppe von dem dortigen entsprechend qualifizierten Personal betreut würde. Angesichts dessen kann entgegen der Auffassung der Antragstellerin keine Rede davon sein, dass die Entscheidung des Antragsgegners, ihr keinen Platz in dem von ihr in den Blick genommenen Regelkindergarten zur Verfügung zu stellen und ihr stattdessen Plätze in den Integrationsgruppen der genannten Kindertagesstätten anzubieten, gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, verstößt.

Eine Benachteiligung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kann zwar auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme hinlänglich kompensiert wird. Wann ein solcher Ausschluss durch Fördermaßnahmen so weit kompensiert ist, dass er nicht benachteiligend wirkt, lässt sich nicht generell und abstrakt festlegen, sondern ist zu beurteilen unter Berücksichtigung der mit dem Ausschluss einhergehenden spezifischen Förderung. Eine Entscheidung des Kinder- und Jugendhilfeträgers darüber, welcher Einrichtungsplatz behinderten Kindern zur Erziehung und Vorbereitung auf ein Leben in der Gemeinschaft mit Nichtbehinderten angeboten wird, verstößt aber nur dann gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, wenn sie den Umständen und Verhältnissen des jeweils zu beurteilenden Einzelfalls ersichtlich nicht gerecht wird (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 10.2.2006 - 1 BvR 91/06 -, NVwZ 2006, 679). Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn das Kind nach der Entscheidung des Jugendhilfeträgers eine heilpädagogische Einrichtung besuchen soll, obgleich der Besuch eines Regelkindergartens nach einer wertenden Gesamtbetrachtung des Einzelfalls durch einen vertretbaren Einsatz von sonderpädagogischer Förderung möglich wäre (BVerfG, a.a.O.).

Hier hält der Antragsgegner die notwendige sonderpädagogische Förderung in den der Antragstellerin angebotenen Kindertagesstätten vor. Hierbei handelt es sich nicht um heilpädagogische Einrichtungen bzw. "Sonderkindergärten", in denen die Antragstellerin nur in der Gemeinschaft mit behinderten Kindern untergebracht wäre, sondern um Kindertagesstätten mit Integrationsgruppen, in denen die Antragstellerin mit behinderten Kindern, aber auch mit Kindern ohne Behinderung gemeinsam betreut würde. Die Antragstellerin kann dort demnach eine Betreuung erhalten, die der Zielvorstellung des Landesgesetzgebers in § 3 Abs. 6 Satz 1 KiTaG, wonach wesentlich behinderte Kinder nach Möglichkeit in einer ortsnahen Kindertagesstätte gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung in einer Gruppe betreut werden sollen, entspricht, und ihr die bestmögliche Vorbereitung auf ein Leben in der Gemeinschaft mit Nichtbehinderten vermittelt. Bei dieser Sachlage ist der Verweis der Antragstellerin auf die ihr angebotenen Kindertagesstätten sachgerecht. Denn die (zusätzliche) Schaffung der erforderlichen sonderpädagogischen Voraussetzungen in der von der Antragstellerin gewünschten Kindertagesstätte, die nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts keine Erlaubnis zum Betrieb einer integrativen Kindergartengruppe besitzt und die für die Betreuung behinderter Kinder erforderlichen personellen Voraussetzungen auch nicht erfüllt, wäre angesichts des vom Antragsgegner vorgehaltenen Angebots von für die Betreuung behinderter Kinder geeigneten Kindertagesstätten nicht zu vertreten. Dass die Antragstellerin den Kindergarten besuchen möchte, in dem die Nachbarskinder betreut werden, ist verständlich. Die mit der Nichterfüllung dieses Wunsches der Antragstellerin verbundene Einschränkung ihrer Möglichkeiten wird aber jedenfalls nach dem oben Gesagten durch die ihr angebotenen Fördermaßnahmen hinlänglich kompensiert. Es stellt daher keine ungerechtfertigte Benachteiligung Behinderter im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar, wenn der Antragsgegner diesen Wunsch der Antragstellerin im Hinblick auf die ihr angebotenen anderen Betreuungsmöglichkeiten nicht erfüllt.

Es ist insoweit entgegen der Meinung der Antragstellerin auch kein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 5 Abs. 2 der UN- Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ersichtlich.

Nach Art. 5 Abs. 2 UN-BRK verbieten die Vertragsstaaten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen. Nach den Begriffsbestimmungen des Art. 2 UN-BRK bedeutet "Diskriminierung aufgrund von Behinderung" jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen. "Angemessene Vorkehrungen" bedeutet nach den Begriffsbestimmungen des Art. 2 UN-BRK notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können.

Hier hat der Antragsgegner mit dem der Antragstellerin unterbreiteten Angebot von zwei Integrationsplätzen in wohnortnahen Kindergärten "angemessene Vorkehrungen" getroffen, die gewährleisten, dass die Antragstellerin im Hinblick auf ihre Erziehung und Vorbereitung auf ein Leben mit Nichtbehinderten gleichberechtigt mit anderen ihre Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen und ausüben kann. Angesichts dieses bereits vorhandenen bedarfsgerechten Angebots wäre die zusätzliche Schaffung der erforderlichen sonderpädagogischen Voraussetzungen in dem von der Antragstellerin gewünschten Kindergarten nach dem oben Gesagten unverhältnismäßig. Der Antragsgegner hat daher mit der Ablehnung der Erteilung des von der Antragstellerin gewünschten Kindergartenplatzes keineswegs "angemessene Vorkehrungen" im oben genannten Sinne versagt. Ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 5 Abs. 2 UN-BRK, das im Wesentlichen dem Regelungsgehalt des Art. 3 Absatz 3 Satz 2 GG entspricht (BSG, Urteil vom 6.3.2012 - B 1 KR 10/11 R -, BSGE 110, 194), ist folglich ebenfalls nicht feststellbar.