Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 02.11.2004, Az.: 13 B 3835/04

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
02.11.2004
Aktenzeichen
13 B 3835/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 43453
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2004:1102.13B3835.04.0A

Amtlicher Leitsatz

Einem jungen Volljährigen i.S.v. § 41 SGB VIII ist trotz möglicherweise vorliegender seelischer Behinderung Eingliederungshilfe nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII nicht zu gewähren, wenn die Voraussetzungen von § 35 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII nicht erfüllt sind.

Gründe

1

Der nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu beurteilende Antrag kann keinen Erfolg haben. Der Antragsteller hat den materiell-rechtlichen Anspruch auf die streitgegenständliche Leistung (Anordnungsanspruch) nicht glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Der Antragsteller hat aller Voraussicht nach keinen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß §§ 35 a, 41 SGB VIII durch Übernahme der Kosten seiner Beschulung im Kurpfalzinternat.

2

Die Kammer nimmt zugunsten des am 5. Dezember 1984 geborenen Antragstellers an, dass er die Voraussetzungen von § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erfüllt. Nach dieser Vorschrift soll einem jungen Volljährigen - wie dem Antragsteller - Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Für die Ausgestaltung der Hilfe nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gilt u.a. § 35 a SGB VIII. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind im Falle des Antragstellers voraussichtlich nicht erfüllt.

3

Nach § 35 a Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB VIII in der hier maßgeblichen Fassung vom 19. Juni 2001 (BGBl. I, 1046) haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

4

Die Abweichung der seelischen Gesundheit nach § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII ist aufgrund der Diagnose eines Arztes, der über besondere Erfahrung in der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche verfügt, eines psychologischen Psychotherapeuten oder eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten festzustellen (Wiesner, Mörsberger, Oberloskamp, Struck, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Nachtrag zur 2. Auflage, zu § 35 a Rn. 16). Bei dem Antragsteller spricht Einiges dafür, dass die Voraussetzungen von § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII erfüllt sind. So diagnostiziert der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut A. K. beim Antragsteller eine Entwicklungsstagnation, u. a. aufgrund eines "Verlassenheitstraumas durch die leiblichen Eltern" und eine Belastungssituation durch "die erheblichen Nachscheidungskonflikte der Adoptiveltern". Der Antragsteller sei "aufgrund der Inkompatibilität der Erziehungsstile in eine unauflösbare Konfliktsituation (gekommen), die S. mit einer Lernstörung und in der Folge mit gravierenden Lernmisserfolgserlebnissen beantwortet hat".

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Frau Dr. L. fasst in ihrem Schreiben vom 8. November 2003 ihre Untersuchung des Antragstellers mit vielfältigen Testen wie folgt zusammen:

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"Im bisherigen Verlauf sind sicherlich Schwächen der Konzentration und der sprachlichen Merkfähigkeit zum Ausdruck gekommen. ... Trotz seiner Volljährigkeit ist es S. zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich, ein eigenverantwortliches und selbständiges Leben zu führen.

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Hier spielt sicherlich die bereits beschriebene Konzentrationsstörung im Sinne einer primären Schwäche der Aufmerksamkeitssteuerung mit hinein. Die gefühlten Unsicherheiten stehen dann in einem großen Konflikt zu den tatsächlichen intellektuellen Potentialen."

8

Für das Vorliegen der Voraussetzungen von § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII in der Person des Klägers spricht auch, dass Herr Dr. Dipl.-Psych. M. in seinem abschließenden und zusammenfassenden Bericht vom 6. September 2004 "eine besondere Unterstützung in Kleingruppen und eine psychologische Begleitung notwendig (erscheint), um S.‘s Entwicklung soweit zu stabilisieren, dass seine seelische Behinderung und gesellschaftliche Außenseiterposition korrigiert werden können....

9

S. besitzt einerseits eine Hochbegabung im Bereich der verbalen Intelligenz, andererseits Schwächen in seiner Konzentrations- und Aufmerksamkeitsleistung. Hinzu kommen intrafamiliäre Belastungsmomente und ein elterlicher Loyalitätskonflikt, die eine Beschulung außerhalb des häuslichen Rahmens notwendig und sinnvoll erscheinen lassen."

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Indes lassen sich den vorbezeichneten ärztlichen Stellungnahmen auch Anhaltspunkte entnehmen, dass die seelische Gesundheit des Antragstellers für sein Lebensalter nicht untypisch ist. So hält Herr K. die Lernstörung des Antragstellers für ein Verhalten, mit dem "fast alle anderen Kinder in seiner familiendynamischen Situation auch" reagieren würden. Der streitgegenständliche Internatsaufenthalt wird mit Gründen befürwortet, die nicht unbedingt auf eine Abweichung der seelischen Gesundheit vom für das Lebensalter des Antragsstellers typischen Zustand schließen lassen. Frau Dr. L. zufolge "benötigt er außerdem eine gute pädagogische Begleitung. Lernhilfen und Strukturierungen zum zielgerichteten Vorgehen müssen gegeben werden.

11

Aus diesem Grund benötigt er eine individuelle Förderung in Kleingruppen."

12

Herrn K. zufolge schafft "ein geordneter Rückzug aus dem familiären Beziehungsdilemma in ein Internat ... genau die Voraussetzungen, dass er alte elterliche Loyalitätskonflikte hinter sich lassen kann, um exterritorial aus der Versagerrolle zu schlüpfen."

13

Auch aus anderen Gründen sind Zweifel, dass der Antragsteller die Voraussetzungen von § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII erfüllt, nicht von der Hand zu weisen sind. So dürften nach den sachverständigen Stellungnahmen, die der Antragsteller beigebracht hat, bei ihm seelische Störungen i.S.v. § 3 der Eingliederungshilfeverordnung wohl nicht vorliegen. Seine seelischen Schwierigkeiten in der Konfliktsituation seiner Adoptiveltern und in seinem Verhältnis zu seinen Adoptiveltern dürften noch nicht das Erscheinungsbild einer Persönlichkeitsstörung im Sinne von § 3 Nr. 4 Eingliederungshilfeverordnung erreicht haben. Für Frau Dr. L. wird beim Antragsteller "eine der tatsächlichen Lebenssituationen durchaus entsprechende pubertäre allgemeine Problemsituation ... deutlich". Es kann aber letztlich dahinstehen, ob im Falle des Antragstellers die Voraussetzungen von § 35 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII erfüllt sind, da ein Begehren jedenfalls an § 35 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII scheitert.

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Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist in seiner Person nicht die Tatbestandsvoraussetzung des § 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII nicht erfüllt. Die Kammer nimmt nicht an, dass als Folge der altersuntypischen Abweichung in der seelischen Gesundheit die Teilhabe des Antragstellers am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Tatbestandsvoraussetzung des § 35 a Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGB VIII müssen kumulativ erfüllt sein. Dies bedeutet, dass für einen Anspruch auf Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII die hier bereits zweifelhafte Feststellung der Abweichung der seelischen Gesundheit nicht ausreicht. Die Abweichung der seelischen Gesundheit muss vielmehr Folgeerscheinungen aufweisen, die zu einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft führen bzw. eine solche Beeinträchtigung erwarten lassen. Entscheidend ist damit, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen. Bei bloßen Schulproblemen und auch bei Schulängsten sind daher die Voraussetzungen des § 35 a SGB VIII regelmäßig nicht erfüllt. Während die Feststellung der Abweichung der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand in die Kompetenz des Arztes oder Psychotherapeuten fällt, ist der zweite Schritt eine individualisierte Feststellung, die auf Beiträgen aller am Hilfeplanungsprozess Beteiligten beruhen kann und die von den Fachkräften im Jugendamt federführend getroffen wird. Für die Leistungsbewilligung nach § 35 a SGB VIII reicht es also nicht aus, dass ein Facharzt bzw. Psychotherapeut nach Satz 1 die Grundvoraussetzung - also eine Abweichung des Zustandes der seelischen Gesundheit, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate dauern wird - feststellt, sondern auf dieser Basis muss dann die soziale Beeinträchtigung der Eingliederung - insbesondere in Schule, Gleichaltrigengruppe etc. - beschrieben werden, welche sich aus der nach ICD-10 klassifizierten Problematik ergibt (Wiesner u. a., a.a.O., Nachtrag zu § 35 a Rn. 18; LPK, Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 2. Aufl. 2003, § 35 a Rn. 8a).

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Dies folgt bereits - und darauf weist die Antragsgegnerin zutreffend hin - aus der amtlichen Begründung zu § 35 a SGB VIII i.d.F. vom 19. Juni 2001 (BT-Drucksache 14/5074, S. 121).

16

Dort ist ausgeführt, dass mit der Neuformulierung der Leistungstatbestand an die Terminologie des Neunten Buches, insbesondere den dortigen Begriff der Behinderung (§ 2) angepasst werde. Der Bedarf an Leistungen bei einer (drohenden) Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (Abs. 1 Nr. 2) werde vom Jugendamt nach Maßgabe des § 36 festgestellt. Dies bedeutet aber nicht, dass die Frage, ob die Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII im Einzelfall erfüllt sind, allein dem Beurteilungsspielraum des Jugendamtes unterliegt und der gerichtlichen Kontrolle entzogen ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 24. Juni 1999 (Az. 5 C 24/98, BVerwGE 109, 155 ff.) zwar ausgeführt, dass es sich bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes bzw. des Jugendlichen und mehrerer Fachkräfte handelt, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Das Bundesverwaltungsgericht führt in dieser Entscheidung aber weiter aus, dass die verwaltungsgerichtliche Überprüfung sich darauf zu beschränken hat, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind (so auch Wiesner u.a., a.a.O., § 36 SGB VIII Rn. 50). Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Antragsteller das Vorliegen der Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII nicht glaubhaft gemacht.

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Die Kammer ist aufgrund der vom Antragsteller vorgelegten Sachverständigenstellungnahmen überzeugt, dass die seelische Behinderung des Antragstellers seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nicht beeinträchtigt und eine solche Beeinträchtigung auch nicht zu erwarten ist.

18

Der Antragsteller macht nicht geltend, dass er vor Beginn seines Aufenthalts im Kurpfalzinternat oder gegenwärtig unter Sekundärfolgen seiner seelischen Schwierigkeiten wie Schulunlust mit einer Neigung zu einer Tendenz zu einer totalen Schulverweigerung und

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-phobie, mit einem vollständigen Verlust von Selbstwert und sozialer Kompetenz reagiert habe. Diese Merkmale, bei deren Vorliegen § 35 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII erfüllt sein dürfte, hat der Antragsteller auch nicht bei den Erhebungen von Dr. M., von Herrn K. und Frau L. geltend gemacht. Auch eine Ausgrenzung in der Schule und eine Unfähigkeit zu Freundschaften und angemessenem Sozialverhalten mit Gleichaltrigen sind nicht vorgetragen. Seine Probleme dürften sich im wesentlichen auf sein familiäres Umfeld beziehen, das er als Volljähriger ohnehin verlassen darf.

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Dabei verkennt die Kammer nicht, dass die gegenwärtige Beschulung des Antragstellers positiv zu seiner persönlichen Festigung beiträgt und für seine weitere Entwicklung in Ausbildung und Beruf günstig ist. Weder diese Feststellung noch die schwierige familiäre Situation des Antragstellers rechtfertigen es indes, die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller die begehrte Eingliederungshilfe für junge Volljährige zu gewähren. Ein Schulabschluss, der das Begabungspotential eines Jugendlichen aufgrund familiärer Konflikte nicht ausschöpft, erfüllt nur bei Hinzutreten weiterer Merkmale, die beim Antragsteller wohl nicht vorliegen dürften, einen Anspruch auf Eingliederungshilfe.