Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 16.11.2021, Az.: 6 A 3907/21
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 16.11.2021
- Aktenzeichen
- 6 A 3907/21
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2021, 70283
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Fundstelle
- SchuR 2022, 93
In der Verwaltungsrechtssache
A.
,
A-Straße, A-Stadt
- Klägerin -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Dr. B.,
B-Straße, A-Stadt - -
gegen
Regionales Landesamt D. A-Stadt
,
C-Straße, A-Stadt - -
- Beklagter -
wegen Gestattung des Besuchs einer anderen Schule
hat das Verwaltungsgericht Hannover - 6. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 16.11.2021 durch den Richter am Verwaltungsgericht Guntau als Einzelrichter für Recht erkannt:
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 11.05.2021 verpflichtet, der Klägerin mit Beginn des Schuljahres 2021/2022 eine Ausnahmegenehmigung zum Besuch der Grundschule E. zu erteilen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Die im Schuljahr 2021/2022 eingeschulte Klägerin begehrt, vertreten durch ihre sorgeberechtigten Eltern, die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zum Besuch einer außerhalb des Schulbezirks gelegenen Grundschule.
Die Eltern der Klägerin beantragten im März 2021 bei dem Beklagten die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zum Besuch der Grundschule E. (Wunschschule) anstelle der dem Schulbezirk zugeordneten Grundschule F. (Pflichtschule). Zur Begründung trugen sie im Wesentlichen vor, bei der Klägerin sei eine hochgradige Erdnussallergie nachgewiesen. Bereits der Kontakt zu kleinsten Mengen an Erdnüssen könne zu einer lebensbedrohlichen Reaktion durch anschwellen der Schleimhäute und Atemwege führen. Trete ein derartiger Schockzustand ein, müsse der Klägerin sofort eine Adrenalin-Autoinjektion verabreicht werden. Ein entsprechendes Notfallset trage die Klägerin daher stets bei sich. Bei der Wunschschule handele es sich um eine von dem "Nuss-Anaphylaxie-Netzwerk e. V."anerkannte sog. erdnussfreien Schule. Die dort tätigen Lehrkräfte seien entsprechend auf anaphylaktische Notfälle geschult. Der Verzicht auf Erdnüsse gehöre dort zum Schulalltag. Die Kinderärztin der Klägerin befürworte den Besuch dieser Grundschule ausdrücklich.
Den Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11.05.2021 ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, aus dem vorgelegten Attest der Kinderärztin gehe nicht hervor, dass eine Verstärkung der Allergie durch den Besuch der Pflichtschule zu erwarten sei. Eine fachärztliche Notwendigkeit für den Besuch der Wunschschule bestehe damit nicht. Darüber hinaus seien alle Lehrkräfte an niedersächsischen Schulen für medizinische Notfälle geschult. Abgesehen davon stelle die Anerkennung als "erdnussfreie Schule" keine Zertifizierung des Kultusministeriums dar.
Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin am 25.05.2021 Klage erhoben und am 29.05.2021 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie das bisherige Vorbringen. Ergänzend trägt sie vor, die Pflichtschule könne sie nur mit dem Bus erreichen. Eine für sie potentiell lebensbedrohliche Situation könne bereits dadurch entstehen, dass etwa ein Mitschüler eine Tüte Chips öffne. Ihren Eltern sei es aufgrund deren Berufstätigkeit nicht zuzumuten, sie jeden Tag zur Schule zu bringen und abzuholen. Ihre Wunschschule könne sie dagegen gefahrlos zu Fuß erreichen. Diese sei auch willens und in der Lage, sie aufzunehmen.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 11.05.2021 zu verpflichten, ihr mit Beginn des Schuljahres 2021/2022 eine Ausnahmegenehmigung zum Besuch der Grundschule E. zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verteidigt seinen Bescheid. Die Klägerin müsse selbst darauf achten, was sie essen dürfe. Sie habe schließlich auch keinen "erdnussfreien Kindergarten" besucht. Viele Schüler seien von Allergien betroffen und führten entsprechende Notfallsets bei sich. Durch entsprechende Schulungen der Lehrkräfte, die in Planung seien, sei das Risiko eines möglichen Schocks auch an der Pflichtschule minimal.
Mit Beschluss vom 05.08.2021 verpflichtete das Gericht den Beklagten, der Klägerin vorläufig eine Ausnahmegenehmigung zum Besuch der begehrten Schule zu erteilen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht entscheidet durch den Einzelrichter, dem die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO mit Beschluss vom 20.09.2021 übertragen hat.
Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Ausnahmegenehmigung, die der Beklagte mit Bescheid vom 11.05.2021 zu Unrecht verweigert hat, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Maßgeblich ist insoweit die Regelung des § 63 Abs. 3 Satz 4 NSchG. Grundsätzlich haben Schülerinnen und Schüler, soweit für Schulen Schulbezirke festgelegt sind, nach § 63 Abs. 3 Satz 1 NSchG diejenige Schule zu besuchen, in deren Schulbezirk sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Abweichend davon kann in Fällen des § 63 Abs. 3 Satz 4 Nrn. 1 und 2 NSchG ausnahmsweise der Besuch einer anderen Schule gestattet werden, wenn der Besuch der zuständigen Schule für die betroffene Schülerin oder den betroffenen Schüler oder deren Familien eine unzumutbare Härte darstellen würde (Nr. 1) oder der Besuch der anderen Schule aus pädagogischen Gründen geboten erscheint (Nr. 2). Die Regelung dient dem öffentlichen Interesse an einer Beibehaltung der Schulbezirkseinteilung und der damit verbundenen sinnvollen Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die Schulen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 21.11.2018 - 2 ME 512/18 -, juris; v. 31.7.2018 - 2 ME 405/18 -, juris Rn. 25, v. 4.9.2015 - 2 ME 252/15 -, juris Rn. 36).
Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen, nach denen ihr der begehrte Besuch der Wunschschule mit Beginn des Schuljahres 2021/2022 aufgrund einer unzumutbaren Härte i. S. von § 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 NSchG zuzubilligen ist.
Wann der Besuch der zuständigen Schule eine unzumutbare Härte darstellt, wird in § 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 NSchG nicht näher bestimmt. Der unbestimmte Rechtsbegriff, der gerichtlich vollständig überprüfbar ist, unterliegt damit den allgemeinen Auslegungsregeln. Für die Annahme einer unzumutbaren Härte müssen atypische Umstände gegeben sein, die deutlich über diejenigen Belastungen hinausgehen, die für andere Schülerinnen und Schüler regelmäßig mit dem Besuch der Pflichtschule verbunden sind, und bei deren Vorliegen es den auf den Normalfall bezogenen Leitvorstellungen des Gesetzgebers nicht mehr entspräche, die betroffene Schülerin bzw. den betroffenen Schüler der nach § 63 Abs. 3 Satz 1 NSchG zuständigen Pflichtschule zuzuweisen. Eine solche Härte ist dann anzunehmen, wenn die Nachteile, die eine Schülerin oder ein Schüler bzw. deren Familien bei dem Besuch der zuständigen Pflichtschule zu erleiden hätte, ungleich schwerer wiegen als das öffentliche Interesse an einer Beibehaltung der Schulbezirkseinteilung und der damit verbundenen sinnvollen Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die Schulen. Die Annahme einer unzumutbaren Härte muss sich aus der besonderen Situation des Einzelfalls ergeben, die es schließlich rechtfertigt, dem Interesse der betroffenen Schülerin oder des betroffenen Schülers bzw. der Familie im Verhältnis zu dem öffentlichen Interesse an der Beachtung der Schulbezirkseinteilung ausnahmsweise eine Sonderstellung einzuräumen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 4.9.2015 - 2 ME 252/15 - juris Rn 36 und v. 20.8.2012 - 2 ME 343/12 - juris). Anerkannt ist, dass medizinische Gründe, wie etwa das Vorliegen einer schweren Allergie, eine unzumutbare Härte begründen können (vgl. Brockmann, in: Brockmann/Littmann/Schippmann, NSchG, Stand: 2017, § 63 Anm. 5.21).
Gemessen an diesen Maßstäben würde der Besuch der Pflichtschule für die Klägerin aufgrund der bestehenden schweren Nahrungsmittelallergie mit potentiell tödlichem Ausgang infolge eines möglichen anaphylaktischen Schocks ein nicht mehr hinnehmbares gesundheitliches Risiko und damit eine unzumutbare Härte darstellen. Vor dem Hintergrund dieser nicht unwahrscheinlichen Gefährdung des überragend wichtigen Rechtsguts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) hat ausnahmsweise die Schulbezirkseinteilung hinter dem Begehr der Klägerin, ihre Wunschschule auch weiterhin besuchen zu dürften, zurückzutreten.
Im Einzelnen:
Die Klägerin leidet unstreitig seit vielen Jahren an einer hochgradigen Allergie gegen ein bestimmtes Erdnussprotein. Die Allergie kann für sie schlimmstenfalls tödlich enden. Ausweislich einer ärztlichen Stellungnahme der behandelnden Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde Dr. med. G. (vgl. Bl. 11 der Gerichtsakte) kam es bei der Klägerin in der Vergangenheit bereits zu einer sog. Anaphylaxie. Aus diesem Grund trägt die Klägerin stets ein Notfallset bei sich, um in einem solchen Fall durch Gabe einer Adrenalinspritze schnell versorgt werden zu können. Das Gericht hat keinen Anlass, an der fachlichen Einschätzung, es sei dringend geboten, dass die Klägerin eine Schule mit "erdnussfreier Umgebung" besuche, zu zweifeln. Die Klägerin kann das sie betreffende Risiko nur in sehr begrenztem Maße selbst beherrschen oder zumindest wirksam minimieren. Schon kleinste Erdnusspartikel, die sich ggf. durch die Luft verbreiten können, stellen für sie eine reale Gesundheits- bzw. Lebensgefahr dar. Dieser wirksam zu begegnen, liegt nicht nur in ihrem eigenen und dem Interesse ihrer Eltern. Den Beklagten trifft vielmehr aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Pflicht, das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Klägerin, die ihm aufgrund der sie treffenden Schulpflicht (§ 65 Abs. 1 NSchG) anvertraut ist, wirksam zu schützen.
Die Klägerin hat zur Überzeugung des Gerichts hinreichend dargelegt, dass ein wirksamer Schutz für sie nur an der Wunschschule gewährleistet werden kann und der Beklagte der ihm obliegenden Schutzpflicht somit allein durch ihre Zuweisung an diese Schule nachkommen kann Bei der Wunschschule handelt es sich um eine sog. erdnussfreie Schule, die ausweislich ihres Schutzkonzepts allen Schülerinnen und Schülern, insbesondere solchen mit einer Erdnussallergie, "ein ungefährdetes gemeinsames Leben in einer sicheren Umgebung" sichern will. Hierzu hat die Schule eine Vielzahl von Vorkehrungen getroffen, die das Risiko eines anaphylaktischen Schocks nahezu ausschließen können. Insbesondere ist das Schulpersonal für den anaphylaktischen Notfall, der im Fall der Klägerin mit einer sofortigen Adrenalininjektion in den Oberschenkel und damit mit einem nicht unerheblichen medizinischen Eingriff verbunden wäre, geschult. Darüber hinaus trägt die Schule Gewähr dafür, dass keinerlei erdnusshaltige Lebensmittel auf das Schulgelände gelangen. Ergänzend trifft die Schule eine ganze Reihe weiterer Präventionsmaßnahmen. Das Konzept ist in der Praxis erprobt und seit Jahren bewährt. Gesundheitliche Gefahren sind für die Klägerin beim Besuch dieser Schule, wenngleich nicht gänzlich ausgeschlossen, in ganz erheblichem Maße reduziert.
Dass die Klägerin einen gleichwertigen Schutz auf der für sie zuständigen Pflichtschule erfahren könnte, ist für das Gericht nicht ersichtlich. Zwar hat der Beklagte darauf hingewiesen, dass viele Kinder an Allergien litten und die Pflichtschule eine zukünftige Schulung der Lehrkräfte im Hinblick auf die Verabreichung einer Notfallspritze für machbar halte. Auf diese Zusage muss sich die Klägerin indes nicht verweisen lassen. Denn die Gabe der notwendigen Injektion mittels Spritze in den Oberschenkel setzt neben einem gewissen Grad an Überwindung für den Ausführenden Übung und Fähigkeiten voraus, die bei den Lehrkräften der Pflichtschule aktuell noch nicht vorhanden sind. Das gesundheitliche Risiko, dem die Klägerin aufgrund ihrer Allergie täglich ausgesetzt ist, ist indes gegenwärtig schon vorhanden. Ein Zuwarten bis ggf. auch an der Pflichtschule wirksame Schutzmaßnahmen ergriffen werden können, ist ihr vor dem Hintergrund ihres grundgesetzlich geschützten Anspruchs auf körperliche Unversehrtheit nicht zuzumuten.
Soweit der Beklagte meint, die "Zertifizierung" der Wunschschule als "erdnussfreie Schule" sei ohne Belang, da diese Bewertung nicht von einer staatlichen Stelle, sondern vom "Nuss-Anaphylaxie-Netzwerk e. V."- einem Verein, der es sich (u. a.) zur Aufgabe gemacht hat, sich für die "Belange von hochgradigen Erd-/Nussallergikern in Kindertagesstätten und Schulen" zu engagieren - erfolgt sei, ist rechtlich unerheblich. Zwar mag die Bezeichnung auf einen Akt dieses Vereins zurückzuführen sein. Das der "Zertifizierung" zugrunde gelegte und erfolgreich angewandte Schutzkonzept ist indes ein schuleigenes, mit dem die Schule neben anderen Konzepten wie etwa einem "Beschwerdekonzept" aktiv auf ihrer Website für sich wirbt. Entscheidend ist dabei nicht, wer letztlich den Anstoß für die Entwicklung des konkreten Konzeptes gegeben und wer den Zusatz "erdnussfreie Schule" verliehen hat, sondern dass an der Wunschschule tatsächlich eine erdnussfreie und damit für die Klägerin und andere "Erdnussallergiker" sichere Umgebung vorherrscht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.
Streitwertbeschluss:
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 52 Abs. 2 GKG.