Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 10.11.2021, Az.: 12 B 5205/21
Dublin III-VO; Italien; Obdachlosigkeit Obdachlosigkeit; Schutzberechtigte; unmenschliche Behandlung
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 10.11.2021
- Aktenzeichen
- 12 B 5205/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 70753
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs 1 Nr 1 AsylVfG 1992
- § 34a Abs 1 S 1 AsylVfG 1992
- § 80 Abs 5 VwGO
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller 12 A 5204/21 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23.08.2021 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
Der aus dem Tenor dieses Beschlusses ersichtliche Antrag der Antragsteller ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 1 AsylG zulässig und begründet.
Das Gericht kommt im Rahmen seiner nach § 80 Abs. 5 VwGO zu treffenden Abwägungsentscheidung zu dem Ergebnis, dass das private Interesse der Antragsteller, bis zu einer Entscheidung im Klageverfahren im Bundesgebiet bleiben zu dürfen und nicht nach Italien abgeschoben zu werden, das öffentliche Interesse am Sofortvollzug der Abschiebungsanordnung überwiegt. Denn nach der im vorliegenden Verfahren lediglich gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angeordneten Abschiebung der Antragsteller nach Italien.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) stützt seine Entscheidung auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Für das Asylverfahren der Antragsteller war nach Art. 13 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Dublin III-VO – zunächst Italien zuständig. Die Antragsteller haben sich vor ihrer Einreise nach Deutschland zuletzt in Italien aufgehalten und dort Asylanträge gestellt. Italien hat mit Schreiben vom 16.08.2021 erklärt, die Antragsteller gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III-VO wieder aufzunehmen.
Die Zuständigkeit Italiens ist jedoch nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen.
Nach Auffassung des Gerichts ist eine Überstellung der Antragsteller nach Italien gegenwärtig unzulässig, weil es im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für die Antragsteller, eine Familie mit fünf minderjährigen Kindern und in der Erwartung eines sechsten Kindes, dort systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr der unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta (GRCh) mit sich bringen. Zwar unterfallen nicht alle systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen im Staat der Schutzgewährung des Art. 4 GRCh, sondern nur solche, die eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 -, juris Rn. 91). Diese besonders hohe Schwelle ist aber erreicht, wenn eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geriete, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 -, juris Rn. 92).
Dahinstehen kann insoweit, ob für die Antragsteller bei einer Rückkehr nach Italien bereits das dort nach derzeitigem Erkenntnisstand noch laufende Asylverfahren die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung mit sich bringen würde. Dies wird für vulnerable Personen wie die schwangere Antragstellerin – wobei ein Nachweis der Schwangerschaft bisher nicht erbracht ist – und die minderjährigen Antragsteller zu 3) bis 7) in der Rechtsprechung in Teilen angenommen (vgl. VG Oldenburg, Urt. vom 30.06.2021 - 6 A 1759/21 -, juris Rn. 22; VG Hannover, Beschl. vom 29.04.2021 - 12 B 3408/21 - unter Bezugnahme auf VG München, Urt. vom 28.10.2020 - M 19 K 19.51141 -, juris). Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedsstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wird, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 -, juris Rn. 88), weshalb auch erheblich ist, ob eine Verletzung Art. 4 GRCh im Falle einer möglichen Anerkennung der Antragsteller als Schutzberechtigte in Italien droht.
Nach summarischer Prüfung sprechen erhebliche Gründe dafür, dass die Antragsteller im Falle ihrer Anerkennung als Schutzberechtigte in Italien in eine Situation extremer Not gerieten, da ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit drohen würde. Dies ergibt die aktuelle Auskunftslage zu Italien:
Das italienische System geht davon aus, dass international Schutzberechtigte ab Gewährung des Schutzstatus für sich selbst sorgen müssen. In Bezug auf eine Unterkunft gilt, dass Schutzberechtigte grundsätzlich nicht in den Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben können und ihnen nur möglicherweise ein Aufenthalt dort auch nach der Schutzgewährung für einige Tage bis Monate gewährt wird (aida, Country Report Italy 2020, S. 181). Ihre Unterbringung erfolgt nach der Schutzgewährung in den Einrichtungen des SAI (früher SIPROIMI), in denen die Plätze nach Auskunft der zuständigen Behörden in der Regel ausreichen. Nach einer Auskunft der Schweizer Flüchtlingshilfe (SFH) und von Pro Asyl (vom 29.10.2020 auf eine Anfrage des Hess. VGH) sind die Plätze in diesen Projekten hingegen sehr beschränkt und gibt es keine Warteliste. Auch können Anträge auf Aufnahme in einer solchen Einrichtung nicht von den betroffenen Personen selbst, sondern nur durch deren anwaltschaftliche Vertretung oder der zuständigen Behörde gestellt werden. Ist zum Zeitpunkt der Anfrage kein Platz verfügbar, muss einen Monat später ein neuer Antrag gestellt werden, und zwar so lange, bis ein Platz für die jeweilige(n) Person(en) frei wird. In dieser Wartezeit steht der Person/den Personen keine Unterkunft zur Verfügung (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 55), so dass den Antragstellern schon beim Wechsel von einer Erstaufnahmeeinrichtung in eine solche der „Zweitaufnahme“ erstmals Obdachlosigkeit drohen könnte.
Spätestens aber, wenn die Antragsteller im Falle ihrer Schutzberechtigung die maximale Aufenthaltsdauer in einer Zweitaufnahmeeinrichtung erreicht hätten, würde ihnen vom italienischen Staat keine Unterkunft oder finanzielle Unterstützung mehr zur Verfügung gestellt (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 56). Dann droht ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Ergänzung „Aktuelle Entwicklungen“ vom 10.06.2021, S. 12), ungewiss ist lediglich, wann dies der Fall sein würde. Nicht ersichtlich ist für das Gericht, wie lange Schutzberechtigte in den Zweitaufnahmeeinrichtungen verbleiben dürfen. Die gesetzliche Regelung zum Aufnahmesystem enthält insoweit keine verlässliche Regelung (aida, Country Report Italy 2020, S. 182). Nach den Richtlinien, die das vorherige Zweitaufnahmesystem SIPROIMI betrafen, und die offenbar trotz der Änderungen im Aufnahmesystem bisher nicht ersetzt worden sind (vgl. aida, Country Report Italy 2020, S. 182; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Ergänzung „Aktuelle Entwicklungen“ vom 10.06.2021, S. 12; Auskunft der SFH vom 29.10.2020 auf eine Anfrage des Hess. VGH; Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zu Italien vom 18.09.2020), können Schutzberechtigte sechs Monate untergebracht werden. Diese Zeit kann um sechs Monate verlängert werden für vulnerable Schutzberechtigte, bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände (z.B. gesundheitlicher Probleme) oder falls es für die Integration unerlässlich ist, sofern die Notwendigkeit dokumentiert und begründet ist. Eine letztmalige Verlängerung um weitere maximal sechs Monate kann nur ganz ausnahmsweise erfolgen (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 55; aida, Country Report Italy 2020, S. 182; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien vom 18.09.2020).
Danach wird von Personen mit Schutzstatus erwartet, dass sie selbstständig für sich sorgen können. Es wird keine staatliche Anschlusslösung bereitgestellt. Zwar soll es nach der Einschätzung eines Mitarbeiters der Diözese Bozen-Brixen wahrscheinlich sein (auf Nachfrage durch ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien vom 18.09.2020), dass für eine Familie mit minderjährigen Kindern über die Sozialdienste der Gemeinde/Region eine Lösung gefunden wird. Seiner Ansicht nach müssten die Sozialdienste der Stadt, die die Aufenthaltserlaubnis erlassen hat, eine Unterkunft finden, umso mehr, wenn minderjährige Kinder betroffen sind, und hat jede Provinz in Italien ein Netzwerk von Sozialdiensten.
Dieser Einschätzung eines einzelnen Mitarbeiters einer Diözese stehen allerdings Auskünfte gegenüber, nach denen das Risiko der Obdachlosigkeit nach Ausschluss aus dem Zweitaufnahme-System sehr hoch ist (Auskunft der SFH/Pro Asyl vom 29.10.2020 auf eine Anfrage des Hess. VGH). Auch hat sich diese Wahrscheinlichkeit im Zuge der Covid-19-Pandemie noch zusätzlich erhöht (vgl. VG Hamburg, Beschl. vom 30.08.2021 - 9 AE 820/21 -, juris S. 17 unter Bezugnahme auf das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Ausgewählte Dublin-Länder, Balkan und Ukraine, Aktuelle Lage in Zusammenhang mit COVID-19, Stand: 18.05.2020). Italien hat keinen nationalen Plan, der eine Erhöhung der Anzahl von Plätzen für die vorübergehende Unterbringung von Obdachlosen vorsieht und überlässt das Problem den Gemeinden. Letztere haben aufgrund der Wirtschaftskrise im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie einen starken Anstieg an Unterstützungsanfragen von Bedürftigen zu verzeichnen, und die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person mit Schutzstatus beachtet und unterstützt wird, ist sehr gering (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, ergänzt um „Aktuelle Entwicklungen“ vom 10.06.2021, S. 12). Von einer solchen Obdachlosigkeit sind auch Familien betroffen (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 62).
Diese Auskunftslage führt jedenfalls im Falle der Antragsteller dazu anzunehmen, dass ihnen die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Italien droht. Wenig wahrscheinlich ist, dass es dem Antragsteller zu 1) als Familienvater einer Familie mit dann sechs minderjährigen Kindern gelingen kann, während der Unterbringung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung eine Arbeit zu finden, die es ihm ermöglicht, nach dem Ablauf der Zeit in der Einrichtung eine Unterkunft für die Familie zu finanzieren (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Ergänzung „Aktuelle Entwicklungen“ vom 10.06.2021, S. 13: Im Allgemeinen sind die wenigen Arbeitsplätze, die Asylsuchenden und Schutzberechtigten zur Verfügung stehen, schlecht bezahlt und zeitlich begrenzt. Der Lohn reicht in der Regel nicht aus, um eine Wohnung zu mieten oder einer Familie ein sicheres Einkommen zu bieten; vgl. auch VG Hamburg, Beschl. vom 30.08.2021 - 9 AE 820/21 -, juris S. 17 unter Bezugnahme auf USDOS, 2020 Country Report Italy).
Auch soweit Schutzberechtigte unter den gleichen Bedingungen wie italienische Staatsangehörige das Recht haben, staatliche Wohnungen zu beziehen (vgl. aida, Country Report Italy 2020, S. 183), ließe sich für die Antragsteller damit eine Obdachlosigkeit nicht abwenden, denn staatliche Wohnungen oder Sozialwohnungen gibt es nur sehr wenige und die Wartezeit beträgt mehrere Jahre (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 66 f.; Auskunft der SFH/Pro Asyl vom 29.10.2020 auf eine Anfrage des Hess. VGH, S. 3). Nach Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen waren bereits im Februar 2018 – aktuellere Zahlen sind offenbar nicht bekannt – in Italien tatsächlich mindestens 10.000 Personen, sowohl Asylsuchende als auch international Schutzberechtigte, vom Aufnahmesystem ausgeschlossen (aida, Country Report Italy 2019, S. 109). Sie lebten über das italienische Staatsgebiet verteilt mit eingeschränktem oder ohne Zugang zur Basisversorgung in informellen Siedlungen, besetzten Häusern oder unter freiem Himmel. Angesichts der Corona-Pandemie geht das Gericht nicht davon aus, dass sich an der für das Jahr 2018 beschriebenen Situation etwas zum Besseren geändert haben könnte.
Wenn die Antragsteller in die Obdachlosigkeit geraten, werden sie auch ihre Bedürfnisse, sich zu ernähren und zu waschen, nicht mehr befriedigen können.
Soweit im April 2019 ein sogenanntes Bürgergeld („reddito di cittadinanza“) – Sozialhilfeleistungen – eingeführt wurde, hätten die Antragsteller darauf keinen Anspruch, da die Leistungen einen mindestens zehnjährigen Aufenthalt in Italien voraussetzen (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 64 und die Ergänzung „Aktuelle Entwicklungen“ vom 10.06.2021, S. 14; aida, Country Report Italy 2020, S. 185; Raphaelswerk, Juni 2020, S. 14-15, zitiert nach ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien vom 18.09.2020). Weitere Fürsorgeleistungen liegen in der Zuständigkeit der Regionen oder Kommunen. Diese haben unterschiedliche Regelungen, ob überhaupt Leistungen gezahlt werden, sowie hinsichtlich deren Höhe und Empfängerkreis. Mittellose Geflüchtete sind daher weitgehend auf sich allein gestellt (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien vom 18.09.2020). Unterstützungsleistungen für obdachlose Personen bestehen in Italien hauptsächlich aus den Notfallprogrammen im Winter (emergenza freddo, jeweils Dezember bis April) (SFH Aufnahmebedingungen in Italien, Ergänzung „Aktuelle Entwicklungen“ vom 10.06.2021, S. 13).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).