Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 12.11.2021, Az.: 5 B 4169/21

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
12.11.2021
Aktenzeichen
5 B 4169/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 70767
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt.

Sie ist 1960 geboren, polnische Staatsangehörige und lebt nach eigenen Angaben gegenüber der Antragsgegnerin seit Mai 2013, nach Annahme der Antragsgegnerin und ihren Angaben in der Antragsschrift dagegen seit Juli 2012 oder länger dauerhaft im Bundesgebiet. Sie ist verwitwet und lebt mit ihrem Lebensgefährten in einer Mietwohnung. Neben einer polnischen Rente bezieht sie Leistungen nach dem SGB XII. In A-Stadt bzw. D. leben Kinder und Enkel der Antragstellerin. Kontakte nach Polen hat sie nach eigenen Angaben nicht mehr.

Seit ihrer Einreise hat die Antragstellerin als Hotelreinigungskraft gearbeitet. Im Jahr 2015 erlitt sie neben einem degenerativen Rückenleiden (Spondylarthrosen und Bandscheibenprotrusionen) einen Wirbeldeckplatteneinbruch, war seitdem nur noch eingeschränkt erwerbstätig und wurde entlassen. Vom 11. August 2014 bis 30. November 2020 bezog sie ergänzende Leistungen nach dem SGB II, seitdem Leistungen nach dem SGB XII.

Mittlerweile litt bzw. leidet die Antragstellerin neben dem chronisch schmerzhaften Rückenleiden an einer Osteoporose, einer Netzhautablösung und einer Nierenerkrankung in deren Folge ihr im Mai 2021 eine Niere entfernt werden sollte. Die Operation ist auf den 21. September 2021 verschoben worden; ob sie zwischenzeitlich stattgefunden hat, haben die Beteiligten nicht mitgeteilt.

Nach dem Versicherungsverlauf der Antragstellerin bei der Deutschen Rentenversicherung war sie vom 31. Juli 2012 bis 31. August 2013 geringfügig beschäftigt mit 400 Euro Monatsverdienst, vom 22. August 2013 bis 25. Februar 2014 und vom 29. Mai 2014 bis 23. August 2014 sowie vom 3. Dezember 2015 bis 31. Dezember 2015 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Vom 9. Mai 2016 bis 31. Dezember 2016 und vom 1. März 2017 bis 31. März 2018 war die Antragstellerin wieder geringfügig beschäftigt. Nach einem Arbeitsvertrag vom 9. Mai 2016 betrug die Arbeitszeit 15 Stunden monatlich.

Nach Anhörung der Antragstellerin stellte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 27. Mai 2021 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet fest, forderte sie zur Ausreise innerhalb eines Monats ab Zustellung der Verfügung auf und drohte ihr ansonsten die Abschiebung in die Republik Polen oder einen anderen aufnahmebereiten Staat an. Zur Begründung führt sie aus, dass die Antragstellerin nicht mehr gem. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU als Arbeitnehmerin, aber auch unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU i. V. m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU nicht freizügigkeitsberechtigt sei, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen sichern könne. Sie habe auch kein Daueraufenthaltsrecht i. S. d. § 2 Abs. 2 Nr. 7, § 4a FreizügG/EU erworben, weil sie infolge ihrer Beschäftigungsverhältnisse bei günstigster Betrachtung nur vom 31. Juli 2012 bis zum 23. Februar 2015 durchgehend freizügigkeitsberechtigt gewesen sei und sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. Die Verlustfeststellung stehe im Ermessen der Antragsgegnerin, die dabei die Bindungen der Antragstellerin ins Bundesgebiet gewürdigt habe, ihnen aber kein besonderes Schutzbedürfnis zugemessen habe. Sie habe ihr Heimatland erst im fortgeschrittenen Alter verlassen und könne sich dort wieder integrieren. Im Bundesgebiet sei sie nur mäßig integriert und habe insbesondere ihren Lebensunterhalt nicht durchgehend selbst sichern können. Ihre Rente in Polen genüge nicht, um eine Unterkunft zu finanzieren. Das Preisniveau in Polen sei kaum niedriger als in Deutschland.

Am 15. Juni 2021 hat die Antragstellerin Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, dass sie zur Aufnahme einer Berufstätigkeit nach Deutschland gereist sei. Die Antragsgegnerin habe verkannt, dass ihre Tochter und ihr Sohn in Deutschland lebten. Sie kümmere sich um die Kinder ihres Sohnes, die fünf und sechs Jahre alt seien und sei fest in Deutschland verwurzelt. Ihr Sohn leide an einer (stressbedingten) Epilepsie und dürfe die Kinder nicht allein betreuen. Er sei deshalb auf ihre Hilfe angewiesen. Auch ihr Lebensgefährte, mit dem sie seit zehn Jahren zusammenlebe, habe hier seinen gewöhnlichen Aufenthalt. Sie habe ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, ihren Lebensabend in Deutschland verbringen zu können.

Sie habe sich, solange es ihr gesundheitlich möglich war, um eine eigenständige Sicherung ihres Lebensunterhalts bemüht und ihre Enkelkinder mit betreut. Insoweit sei der jetzt eingetretene Bezug von Sozialleistungen nicht unangemessen, so dass ihrem Bleibeinteresse der Vorrang zu geben sei. Das fiskalische Interesse, jährlich ca. 6.000 Euro an öffentlichen Leistungen einzusparen, stehe außer Verhältnis zu der persönlichen Belastung, die eine Ausreise nach Polen für sie begründen würde. Dass Ihre Freizügigkeit und damit ihr Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet in Frage stehe, sei ihr zu keiner Zeit von den Behörden vorgehalten worden. Dass dies jetzt geschehe, wo sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten könne, belaste sie zusätzlich.

Infolge der körperlichen Beschwerden und der ungeklärten Aufenthaltssituation sei sie seelisch eingeschränkt belastbar und wegen Verdachts auf eine Depression an einen Facharzt für Psychiatrie überwiesen worden. Sie habe Suizidgedanken. Schließlich sei sie akut an der Niere erkrankt und auf eine kurzfristige Operation angewiesen, die sie in Polen im Rahmen der dort für sie erreichbaren medizinischen Grundversorgung nicht erhalten würde. Die Operation sei mehrfach verschoben worden, was sie zusätzlich belaste. Sie müsse Stress vermeiden und eine strikt nierenschonende Diät einhalten. Sie fürchte, aus dem Krankenhaus heraus abgeschoben zu werden und in Polen keine Unterkunft zu haben. Ob sie nach der Operation reisefähig sein werde, sei noch nicht abzusehen.

Die Antragstellerin beantragt,

die aufschiebende Wirkung ihrer Klage vom 15. Juni 2021 wiederherzustellen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie verteidigt die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeitsrechte und die Anordnung der sofortigen Vollziehung. Die Antragstellerin habe trotz vorheriger Anhörung erstmals mit ihrer Klage- und Antragsschrift gesundheitliche und familiäre Gründe für ihren weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet geltend gemacht. Auch diese Gründe geböten jedoch nicht, von der Verlustfeststellung abzusehen. Die Kinder der Antragstellerin seien volljährig und in der Lage, ein eigenständiges Leben zu führen. Eine Beistandsgemeinschaft, die von der Mithilfe der Antragstellerin zwingend abhängig sei, habe die Antragstellerin nicht dargelegt. Auch der Lebensgefährte der Antragstellerin sei im Übrigen polnischer Staatsangehöriger und auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen.

Die Reisefähigkeit der Antragstellerin sei im Verfahren um den Verlust oder Fortbestand der Freizügigkeitsrechte nicht zu prüfen. Die Antragstellerin habe auch ein krankheitsbezogenes Abschiebungsverbot im Hinblick auf die Republik Polen nicht dargelegt. Sie leide an Erkrankungen, die auch in Polen behandelbar seien. Die Versorgung des Rückenleidens erfolge nach stationärer Schmerztherapie durch Physiotherapie, Bandagen und Elektrotherapie im Wesentlichen ambulant. Der augenärztliche Befund sei nach dem Attest lediglich kontrollbedürftig, ein akuter Behandlungsbedarf ergebe sich aus dem Attest nicht. Die geplante Operation an der Niere werde voraussichtlich noch während des gerichtlichen Eilverfahrens erfolgen.

Dass sie zur allgemeinen Gesundheitsversorgung in Polen keinen Zugang habe, habe sie nicht dargelegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat keinen Erfolg. Er ist zulässig, aber unbegründet.

1. Die Klage gegen die Verlustfeststellung hat gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung entfällt gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i. V. m. § 64 Abs. 4 NPOG. Nach dem Antrag und Vorbringen der Antragstellerin besteht kein Anlass für die Annahme, dass sie darüber hinaus auch die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen das verfügte und befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU i. V. m. § 11 Abs. 1 AufenthG im Eilverfahren beantragt.

2. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 AufenthG ist unbegründet.

a. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung genügt in formeller Hinsicht den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, wonach das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen ist. Hierzu hat die Antragsgegnerin im Wesentlichen ausgeführt, dass die Antragstellerin seit 2014 öffentliche Leistungen in Anspruch nehme. Ihre weitere Anwesenheit drohe außerdem die Reintegration in Polen zu erschweren und damit die Durchsetzung des Bescheides zu beeinträchtigen. Dabei hat die Antragstellerin die erforderliche Folgenabwägung zwischen der aufschiebenden Wirkung der Klage und der vorläufigen Vollziehung getroffen. Ob diese inhaltlich tragfähig ist, ist für die Begründungspflicht nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO unerheblich. Denn § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO verlangt nicht, dass die für das besondere Vollzugsinteresse angeführten Gründe auch materiell überzeugen, also inhaltlich die getroffene Maßnahme rechtfertigen. Dies ist stattdessen Gegenstand der gesonderten, folgenden (materiellen) Prüfung nach § 80 Abs. 5 VwGO (Nds. OVG, Beschluss vom 18.3.2021 – 12 ME 40/21 – n. V.).

b. Auch in materieller Hinsicht erweist sich der angefochtene Bescheid nach dem im Eilverfahren anzulegenden Prüfungsmaßstab als rechtmäßig. Die bei einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO durch das Gericht zu treffende Ermessensentscheidung setzt eine Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen voraus, in die auch die Erfolgaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs in der Hauptsache mit einzubeziehen sind. Bei einem nach summarischer Prüfung offensichtlich Erfolg versprechenden Rechtsbehelf überwiegt im Hinblick auf die Art. 19 Abs. 4 GG zu entnehmende Garantie effektiven Rechtsschutzes das Suspensivinteresse des Betroffenen jedes öffentliche Vollzugsinteresse, so dass die aufschiebende Wirkung grundsätzlich wiederherzustellen ist. Ergibt eine summarische Einschätzung des Gerichts hingegen, dass der Rechtsbehelf in der Hauptsache erfolglos bleiben wird, ist der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz unbegründet, denn ein begründetes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung entfällt nicht dadurch, dass der Verwaltungsakt offenbar zu Unrecht angegriffen wird.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder – wie hier – Entscheidung des Tatsachengerichts (BVerwG, Urteil vom 9.5.2019 – BVerwG 1 C 21.18 –, juris Rn. 11; Urteil vom 22.2.2017 – BVerwG 1 C 3.16 –, juris Rn. 18; Urteil vom 10.7.2012 – BVerwG 1 C 19.11 –, juris Rn. 12).

aa. Rechtsgrundlage für die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechtes ist § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU. Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder nicht vorliegen. Das ist hier der Fall.

Die Antragstellerin erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, weil sie nicht im Sinne von § 2 Abs. 2 FreizügG/EU unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt ist. Sie hielt sich nicht mehr als Arbeitnehmerin oder zu Berufsausbildung im Bundesgebiet auf (Nr. 1) und ist auch nicht mehr auf Arbeitssuche (Nr. 1a), selbständig erwerbstätig (Nr. 2) oder selbständige Erbringerin oder Empfängerin von Dienstleistungen (Nr. 3 und Nr. 4). Weil die Antragstellerin neben einer geringen polnischen Rente über keine weiteren Einkünfte verfügt und Leistungen nach dem SGB XII bezieht, ist sodann nicht ersichtlich, dass ein ausreichender Krankenversicherungsschutz oder ausreichende Existenzmittel gegeben sind, sodass die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU nicht vorliegen (Nr. 5).

Da die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU nicht gegeben sind und die Antragstellerin auch nicht im Bundesgebiet aufhältige, freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger als Familienangehörige im Sinne der § 1 Abs. 2 Nr. 3, § 3 FreizügG/EU begleitet oder ihnen nachzieht, erfüllt sie auch nicht die Voraussetzungen von § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU. Familienangehörige sind danach die Verwandten in gerader absteigender Linie der Antragstellerin, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von ihr Unterhalt gewährt wird. Die Kinder der Antragstellerin haben das 21. Lebensjahr vollendet. Dass ihre Enkel aus eigenem Recht nach § 2 Abs. 2 Nrn. 1 bis 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich.

Schließlich verfügt die Antragstellerin auch über kein Daueraufenthaltsrecht (§ 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU), weil sie sich auch bei günstigster Betrachtung nicht über fünf Jahre durchgehend rechtmäßig, insbesondere nach § 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt im Bundesgebiet aufgehalten hat. Dabei ist die Berechnung der Antragsgegnerin, dass die Antragstellerin nur vom Beginn ihrer geringfügigen Beschäftigung am 31. Juli 2012 bis zum 23. Februar 2015 durchgehend freizügigkeitsberechtigt war, nicht zu beanstanden. Die Antragstellerin war in diesem Zeitraum vom 31. Juli 2012 bis zum 25. Februar 2014 und vom 29. Mai 2014 bis zum 23. August 2014 durchgehend beschäftigt. Ohne dass die Antragstellerin die dafür erforderliche Bescheinigung des Arbeitsamts über unfreiwillige Arbeitslosigkeit vorgelegt hat, nimmt die Antragsgegnerin sodann zu ihren Gunsten an, dass das durch diese Beschäftigungen begründete Freizügigkeitsrecht gem. § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU jeweils für sechs weitere Monate bestanden hat, so dass die Lücke zwischen dem 25. Februar 2014 und dem 29. Mai 2014 und der Zeitraum vom 24. August 2014 bis 23. Februar 2015 ebenfalls gedeckt sind. Eine längere bzw. unbefristete Fortdauer gem. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU kommt nicht in Betracht, weil die letzte Beschäftigung vom 29. Mai 2014 bis 23. August 2014 weniger als ein Jahr dauerte.

Nach dem 23. Februar 2015 war die Antragstellerin erst ab dem 3. Dezember 2015 wieder bis 31. Dezember 2015 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die danach vom 9. Mai 2016 bis 31. Dezember 2016 und vom 1. März 2017 bis zum 31. März 2018 ausgeübten Tätigkeiten summieren sich, auch wenn die dazwischenliegenden Zeiträume aufgrund von § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU überbrückt würden – wofür die Antragstellerin wiederum die tatsächlichen Voraussetzungen nicht dargelegt hat – nicht auf fünf zusammenhängende Jahre.

Dass sie über die dabei berücksichtigten Zeiten hinaus beschäftigt oder behördlich bescheinigt arbeitsuchend war, hat die Antragstellerin weder geltend gemacht noch nachgewiesen.

bb. Die Entscheidung über den Verlust der Rechte nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU steht nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU im Ermessen der Behörde und ist hinsichtlich dieses Ermessens nach dem Maßstab des § 114 Satz 1 VwGO nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar. Danach prüft das Gericht, ob die Grenzen des Ermessens überschritten sind und ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Gemessen daran begegnet die Ermessensausübung keinen rechtlichen Bedenken. Zunächst hat die Antragsgegnerin ihr Ermessen erkannt und in dem angefochtenen Bescheid ausdrücklich dazu ausgeführt. Dabei hat die Antragsgegnerin eine Interessenabwägung vorgenommen und hat die schutzwürdigen Interessen der Antragstellerin berücksichtigt. Insofern ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden, dass sie der gesellschaftlichen Integration der Antragstellerin ein geringes Gewicht beigemessen hat und dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung den Vorrang gegeben hat.

Soweit die Antragstellerin demgegenüber geltend macht, dass sich die von ihr in Anspruch genommenen Leistungen auf kaum mehr als 6.000 Euro jährlich beschränkten, werden die Erwägungen der Antragsgegnerin bzw. deren Tragfähigkeit dadurch nicht erschüttert. Denn dem öffentlichen Sozialsystem entstehen auch durch die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung an die Antragstellerin erhebliche Belastungen. Wie die Antragstellerin selbst ausführt, leidet sie unter verschiedenen, teils chronifizierten, teils akuten Erkrankungen mit erkennbarem Behandlungsbedarf. Auch der Einwand der Antragstellerin, dass ihre Rente in Polen nicht genüge, um dort ihren Lebensunterhalt zu sichern, greift angesichts dessen zu kurz, weil die Rente hier ebenso wenig auskömmlich ist, um ihren Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu bestreiten. Dass das öffentliche Sozialsystem in der Bundesrepublik ergänzende Leistungen bereitstellt und deren Umfang ggf. das in Polen gewährte Hilfeniveau übersteigt, begründet kein eigenständiges Aufenthaltsinteresse der Antragstellerin.

Soweit die Antragstellerin die Bindung zu ihrer Familie geltend macht, führt sie weder mit ihren Kindern noch mit ihren Enkelkindern eine so intensive Beistandsgemeinschaft, dass diese unter dem Gesichtspunkt der Art. 8 EMRK/Art. 6 GG gegenüber dem Interesse an der Aufenthaltsbeendigung vorrangig wäre.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z. B. Beschluss vom 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 –, juris) gewährt Art. 6 Abs. 1 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Die Vorschrift verpflichtet jedoch als wertentscheidende Grundsatznorm die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen eines Ausländers an sich im Bundesgebiet berechtigterweise aufhaltende Personen pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.5.2011 – 2 BvR 1367/10 –, InfAuslR 2011, 1133 = NVwZ-RR 2011, 286). Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 Abs. 1 GG jedoch nicht bereits aufgrund formal-rechtlicher Bindungen; vielmehr ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern entscheidend, die in einer Beistands- oder Erziehungsgemeinschaft zum Ausdruck kommt und die von der bloßen Begegnungsgemeinschaft abzugrenzen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 –, juris).

Nicht jede familiäre Beziehung führt danach zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.4.2001 – 13 S 555/01 –, InfAuslR 2001, 381 f.), vielmehr muss im Einzelfall eine unzumutbare Beeinträchtigung der Familieneinheit durch die (vorübergehende) Trennung von Familienangehörigen vorliegen, wie bspw. im Falle der Trennung kleiner Kinder von ihren Eltern oder auch bei kranken und pflegebedürftigen Familienangehörigen.

Die (auf das erstmalige Vorbringen der Antragstellerin im gerichtlichen Verfahren ergänzten) Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin erweisen sich auch insofern als tragfähig. Die Antragsgegnerin konnte insbesondere ermessensfehlerfrei annehmen, dass die Beziehung der Antragstellerin zu ihren Verwandten nicht über eine reine Begegnungsgemeinschaft hinausgeht, weil die Antragstellerin schon die tatsächlichen Voraussetzungen einer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG hinreichend engen Beistands- und Erziehungsgemeinschaft zu ihren Kindern und Enkeln nicht dargelegt hat. Ihre Kinder sind erwachsen und bedürfen ihrer Betreuung nicht. Auch hinsichtlich ihres Sohnes, der eine stressbedingte Epilepsie erlitten habe, hat die Antragstellerin eine solche Betreuung nicht dargelegt. Soweit sie geltend macht, dessen Kinder zu betreuen, hat die Antragstellerin weder dargelegt, dass sie diese Betreuung über eine Begegnungsgemeinschaft hinaus tatsächlich in derartiger Intensität erbringt, dass sie schlechthin unverzichtbar wäre, noch hat sie dargelegt, dass sie diese Betreuung in ihrem gegenwärtigen Gesundheitszustand überhaupt noch leistet oder auch nur dazu in der Lage wäre. Insofern ist das Vorbringen der Antragstellerin zu berücksichtigen, dass sie über ihre Rückenbeschwerden hinaus jeden Stress vermeiden müsse, kaum belastbar, depressiv und suizidgeneigt und insgesamt nicht reisefähig sei. Sie hat im Übrigen nur geltend gemacht, dass ihre Hilfe gefragt sei, ohne näher zu beschreiben, durch wen und wie die Betreuung der Kinder tatsächlich erfolgt.

Auch die Gemeinschaft mit ihrem Lebensgefährten hat die Antragsgegnerin ermessensfehlerfrei berücksichtigt; dass sie auch insofern dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung den Vorrang gegeben hat, ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Der Schutz des Art. 6 GG greift nur bei rechtsgültig geschlossenen, staatlich anerkannten Ehen, nicht hingegen bei eheähnlichen Lebensgemeinschaften. Dagegen schützt Art. 8 EMRK grundsätzlich auch das Recht auf ein familiäres Zusammenleben, und nichteheliche Lebensgemeinschaften können eine „Familie“ im Sinne von Art. 8 EMRK bilden. Ob eine kinderlose nichteheliche Beziehung unter Art. 8 EMRK fällt, ist je nach Dauer, Stabilität, Intensität, finanzieller Verflochtenheit etc. in jedem Einzelfall zu prüfen. Sollte die Beziehung nicht über das für ein „Familienleben“ erforderliche Ausmaß verfügen, kann sie immer noch dem Schutz des Privatlebens unterliegen. Auch insofern gewährt Art. 8 EMRK jedoch keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, denn es handelt sich hierbei in erster Linie um ein Abwehrrecht (BeckOK AuslR/Hofmann, EMRK, Art. 8 Rn. 14). Aus Art. 8 EMRK ergibt sich deshalb keine allgemeine Verpflichtung für die Konventionsstaaten, die Wahl des Aufenthaltsstaates durch Zuwanderer anzuerkennen und eine Familienzusammenführung zu ermöglichen. Insofern durfte die Antragsgegnerin berücksichtigen, dass der Lebensgefährte der Antragstellerin ebenfalls polnischer Staatsangehöriger ist und jedenfalls nach dem Erkenntnisstand der Antragsgegnerin ohne anrechenbares eigenes Einkommen Leistungen nach dem SGB II bezieht. Angesichts dessen ist der Antragstellerin zuzumuten, die Lebensgemeinschaft mit ihrem Lebensgefährten in Polen aufrechtzuerhalten. Dass der Lebensgefährte der Antragstellerin selbst freizügigkeitsberechtigt oder auch nur nachhaltig wirtschaftlich im Bundesgebiet integriert ist, ist angesichts des Leistungsbezugs nicht erkennbar. Ein Daueraufenthaltsrecht ihres Lebensgefährten hat die Antragstellerin weder geltend gemacht noch substantiiert dargelegt.

cc. Soweit die Antragstellerin geltend macht, dass sie infolge ihrer Erkrankungen reiseunfähig sei, hat sie ein daraus folgendes Abschiebungsverbot schon nicht mit einer den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genügenden ärztlichen Bescheinigung glaubhaft gemacht. Danach sollen ärztliche Bescheinigungen insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 enthalten sowie die Folgen beschreiben, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Zur Behandlung der Erkrankung erforderliche Medikamente müssen mit der Angabe ihrer Wirkstoffe und diese mit ihrer international gebräuchlichen Bezeichnung aufgeführt sein.

Die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen lassen auch den Schluss auf eine Reiseunfähigkeit als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis nicht zu. Die Antragstellerin hat weder substantiiert glaubhaft gemacht, dass bei ihr gesundheitliche Beeinträchtigungen in Bezug auf ihre eigentliche Reisefähigkeit im Sinne einer Transportfähigkeit vorliegen (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), noch, dass die Gefahr besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung ein Gesundheitsschaden eintreten oder sich verfestigen würde (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn, vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 29.03.2011 – 8 LB 121/08 –, juris Rn. 47 m. w. N.). Die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen verhalten sich in keiner Weise zu einer möglichen Reiseunfähigkeit der Antragstellerin. Der im April 2021 erlittene Niereninfekt ist nach der ärztlichen Bescheinigung vom 20. August 2021 ausgeheilt, die Entfernung der funktionslosen Niere zur Vermeidung erneuter Komplikationen angezeigt. Ein akuter, zur Reiseunfähigkeit führender Krankheitszustand wird daraus nicht deutlich. Die weiterhin geltend gemachte Depression ist nach dem ärztlichen Attest eine Verdachtsdiagnose und Gegenstand einer Überweisung; suizidale Gedanken sind darin gar nicht erwähnt. Der Hinweis, dass eine eventuelle Abschiebung zur Manifestation einer Depression beitragen könnte, reicht für die Annahme einer Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne nicht aus. Weitere, der Überweisung nachgehende fachärztliche Bescheinigungen hat die Antragstellerin nicht vorgelegt.

3. Die Abschiebungsandrohung ist voraussichtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Sie entspricht den gesetzlichen Anforderungen der §§ 58, 59 AufenthG. Mit der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt ist die Antragstellerein vollziehbar ausreisepflichtig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU).

Die Frist zur freiwilligen Ausreise hat die Antragsgegnerin zwar mit dem nach § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU gesetzlich vorgesehenen Mindestmaß bemessen. Sie ist vor dem Hintergrund, dass die Antragstellerin keine durchgreifenden Hindernisse einer geordneten Ausreise substantiiert geltend gemacht hat, nach dem gegenwärtigen Sachstand noch ausreichend. Sofern die Ausreisefrist noch mit der geplanten mehrfach verschobenen Operation der Antragstellerin kollidieren sollte, wäre dies allerdings von der Antragsgegnerin nachträglich zu berücksichtigen.

Soweit die Antragstellerin aufgrund ihrer Erkrankungen ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Hinblick auf Polen geltend macht, steht das der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nicht entgegen (§ 59 Abs. 3 AufenthG) und wäre in einem gesonderten Verfahren zu prüfen.

4. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist nicht begründet. Prozesskostenhilfe erhält gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hier fehlt es nach den vorstehenden Ausführungen an hinreichenden Erfolgsaussichten.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an Nr. 1.5 i. V. m. Nr. 8.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NordÖR 2014, 11).