Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 10.07.2003, Az.: 6 B 174/03
Ausnahmegenehmigung; Gehgeschwindigkeit; Schulbezirkseinteilung; Schulweg; unzumutbare Härte
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 10.07.2003
- Aktenzeichen
- 6 B 174/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48136
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 63 Abs 3 S 4 Nr 1 SchulG ND
- § 123 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein Schulweg von 1,9 km ist auch einem Schüler der ersten Klasse zumutbar.
Tenor:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Der am 19.05.1997 geborene Sohn L. der Antragsteller wird ab dem Beginn des Schuljahres 2003/2004 eingeschult. Nach der Satzung über die Festlegung von Schulbezirken in der Stadt Braunschweig muss er mit Blick auf seinen Wohnsitz die Grundschule D. in der E. in Braunschweig besuchen.
Mit Schreiben vom 14.01.2003 beantragten die Antragsteller, ihrem Sohn den Besuch der Grundschule F. in der G. zu gestatten, da sie wegen ihrer Berufstätigkeit bis 14.30 Uhr weiterhin die Tagesmutter benötigen würden, die im H. 30, wesentlich näher zur gewünschten Schule, wohne und deren Tochter ebenfalls auf diese Schule gehe.
Nachdem die betroffenen Schulleiter diesem Antrag nicht zugestimmt hatten, weil sie übereinstimmend der Auffassung waren, dass der mittägliche Rückweg zur Betreuungsperson im Bereich einer zumutbaren Belastung für einen Schulanfänger liege, lehnte die Antragsgegnerin den Antrag mit Bescheid vom 04.03.2003 mit der Begründung ab, weder lägen pädagogische oder psychologische Gründe noch liege eine unzumutbare Härte im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen vor.
Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 14.04.2003 als unbegründet zurück. Über die dagegen erhobene Klage (Az.: 6 A 210/03) ist noch nicht entschieden worden.
Mit dem bereits am 21.05.2003 gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung machen die Antragsteller im Wesentlichen geltend:
Ihr Sohn sei wie sie in den Stadtteil I. eingebunden. Er sei in den unmittelbar neben der dortigen Grundschule F. gelegenen Kindergarten gegangen und habe dabei mit seiner kleinen Schwester und den Kindern der Tagesmutter mittags unmittelbar zu dieser gehen bzw. von dieser abgeholt werden können. Wenn ihr Sohn nunmehr gemeinsam mit der gleichaltrigen Tochter der Tagesmutter eingeschult werde, könnten die entstandenen Gemeinsamkeiten fortgesetzt werden. Demgegenüber würde er bei einer Beschulung in der Grundschule J. nicht nur mit einem völlig neuen Umfeld, sondern darüber hinaus mit einen Rückweg zur Tagesmutter konfrontiert, der mit etwa 1,9 km für einen Grundschüler nicht zumutbar sei, da er nicht in den als Obergrenze anerkannten 45 Minuten zurückgelegt werden könne.
Die Antragsteller beantragen,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO zu verpflichten, ihrem Sohn vorläufig den Besuch der Grundschule K. zu gestatten.
Die Antragsgegnerin verteidigt die ergangenen Entscheidungen und beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um von dem Rechtsuchenden wesentliche Nachteile abzuwenden. Ihrer Natur nach darf eine solche Anordnung jedoch nur eine einstweilige Regelung treffen oder einen vorläufigen Zustand schaffen. Dieser Sicherungszweck der einstweiligen Anordnung verbietet es im Allgemeinen, einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorzugreifen. Von diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung Ausnahmen zugelassen, wenn wirksamer Rechtsschutz im Klageverfahren nicht oder nicht rechtzeitig erreichbar ist und dies für den oder die Antragsteller zu schlechthin unzumutbaren Nachteilen führen würde. Darüber hinaus setzt die von den Antragstellern angestrebte einstweilige Anordnung voraus, dass sie in dem Klageverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben werden. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
Zwar kann von einer Eilbedürftigkeit der Sache ausgegangen werden, weil bis zum Beginn des Schuljahres 2003/2004 eine Klärung im Klageverfahren über die Erteilung der Ausnahmegenehmigung nicht möglich sein wird. Es besteht jedoch kein Anordnungsanspruch.
Nach § 63 Abs. 2 Satz 1 NSchG legen die Schulträger mit Genehmigung der Schulbehörde im Primar- sowie im Sekundarbereich I für jede Schule, erforderlichenfalls für einzelne Bildungsgänge, jeden Schulzweig oder einzelne Schuljahrgänge gesondert, einen Schulbezirk fest. Nach § 2 Abs. 1 und der dazu beschlossenen Anlage der Satzung über die Festlegung von Schulbezirken in der Stadt Braunschweig (Schulbezirkssatzung) in der Fassung der Bekanntmachung vom 10.12.2002 (Amtsbl. 2003, 8) hat der Sohn der Antragsteller die Grundschule L. zu besuchen.
Der Besuch einer anderen Schule kann gestattet werden, wenn der Besuch der zuständigen Schule für den betreffenden Schüler oder dessen Familie eine unzumutbare Härte darstellen würde (§ 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 NSchG) oder der Besuch der anderen Schule aus pädagogischen Gründen geboten erscheint (§ 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 NSchG). Diese die Erfüllung der Schulpflicht betreffende Regelung lässt nach dem aus der Verschärfung der Gesetzesvorschrift im 6. Änderungsgesetz zum NSchG erkennbaren Willen des Gesetzgebers nur Ausnahmeentscheidungen zu, die sich an dem Sinn und Zweck dieser Regelungen ausrichten (LT.-Drucksache 13/3635 S. 3; Sten. Ber. 7/9963, 7/9965). Die Befugnis des Schulträgers zu bestimmen, an welcher Schule die Schulpflicht zu erfüllen ist, schränkt die Grundrechte der Eltern und Schüler aus Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG in zulässiger Weise ein. Das vom Gesetzgeber grundsätzlich als vorrangig zu bewertende Interesse an einer sinnvollen Nutzung der mit öffentlichen Mitteln geschaffenen schulischen Einrichtungen steht dem Interesse des schulpflichtigen Kindes und seiner Eltern gegenüber, die nach ihren persönlichen Wünschen und familiären Gegebenheiten am besten entsprechende Schule besuchen zu können. Dieser Interessenkonflikt ist in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des erzieherischen Erfordernisses in Bezug auf das betroffene Kind zu lösen.
Nach Maßgabe dieser Grundsätze kann eine besondere individuelle Ausnahmesituation im Sinne des § 63 Abs. 3 NSchG nicht bereits dann angenommen werden, wenn aus der Sicht besorgter und um das Wohl ihres Kindes bemühter Eltern respektable Gründe dafür sprechen, den Schulbesuch in einer anderen Schule zu wünschen. Vielmehr liegt sie nur vor, wenn die Nachteile des Besuchs der zuständigen Pflichtschule auch mit Blick auf das vom Gesetzgeber vorrangig bewertete öffentliche Interesse an der Erfüllung der Schulbezirkseinteilung im Einzelfall wegen einer „unzumutbaren Härte“ nicht hinnehmbar oder aus pädagogischen Gründen geboten ist. Soweit aufgrund der glaubhaft gemachten Tatsachen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO) im Rahmen des nur auf eine summarische Prüfung der Sachlage angelegten Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes ersichtlich, ist eine derartige für die Antragsteller sprechende Sachlage indessen nicht gegeben.
Der Umstand, dass der Sohn der Antragsteller die Grundschule J. wahrscheinlich nicht zusammen mit den ihm aus dem Kindergarten bekannten Freunden wird besuchen können, begründet einen hinreichenden Ausnahmegrund nicht. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Notwendigkeit, sich ggf. in eine völlig unbekannte Klassengemeinschaft einfügen und während des Schulbesuchs auf Unterstützung aus der bisherigen Freundschaftsgruppe verzichten zu müssen, für einen Schüler oder eine Schülerin grundsätzlich weder besondere pädagogische Schwierigkeiten mit sich bringt noch eine unzumutbare Härte begründet. Die Erfahrung, sich auf eine unbekannte Klassengemeinschaft einstellen zu müssen, kann keineswegs nur als eine Belastung wahrgenommen und soll auch nach der Intention des Gesetzgebers, der einen entsprechenden Ausnahmetatbestand nicht formuliert hat, nicht stets vermieden werden. Ein normal entwickeltes Kind ist durchweg an Neuem interessiert. Es gewinnt durch die neue Umgebung wertvolle, nicht immer negative Erfahrungen, sodass der Wechsel auch in eine völlig unbekannte Klasse einer Schülerin bzw. einem Schüler grundsätzlich zuzumuten ist, zumal keinesfalls ausgemacht ist, dass durch schulische Veränderungen bestehende Freundschaften zerbrechen; es können auch neue Freundschaften entstehen (vgl. etwa VG Braunschweig, Beschl. vom 06.08.1999 - 6 B 147/99 -; Urt. vom 22.07.1996 – 6 A 61240/96; Nds. OVG, Beschl. vom 29.01.1995 – 13 M 5328/95; vgl. ferner Brockmann in: Seyderhelm/ Nagel/ Brockmann, Niedersächsisches Schulgesetz, § 63 Anm. 5.2.2, S. 401).
Eine unzumutbare Härte für die Antragsteller oder ihren Sohn liegt auch nicht darin, dass die Betreuung in der Zeit nach Schulschluss bis etwa 14.30 Uhr erschwert wird. Die Betreuung zu organisieren ist grundsätzlich Sache der Antragsteller, und nichts spricht dafür, dass dies nur unter unzumutbarem Aufwand möglich wäre. Die Kammer verkennt nicht, dass es den Antragstellern insbesondere entgegen käme, wenn ihr Sohn zusammen mit der gleichaltrigen Tochter der Tagesmutter eingeschult würde, sodass beide den Rückweg aus der Schule gemeinsam antreten könnten, was fraglos für alle Beteiligten bequemer wäre. Indessen spricht nichts dafür, dass der Sohn der Antragsteller den Rückweg von der Grundschule D. nicht auch ohne die Tochter der Tagesmutter und binnen zumutbarer Zeit absolvieren könnte. Die Antragsteller und die Antragsgegnerin nehmen die Länge dieses Weges mit maximal 1,9 km an. Die Kammer hat keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser Wert zu hoch angesetzt ist. Nach der der Kammer in digitalisierter Form zur Verfügung stehenden Stadtkarte, die eine Entfernungsmessung entlang markierter Wegstrecken erlaubt, könnte eher angenommen werden, dass insoweit lediglich ein Fußweg von weniger als 1,5 km in Rede steht. Das braucht indessen hier nicht vertieft zu werden, da keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür glaubhaft gemacht sind, dass der Sohn der Antragsteller einen 1,9 km langen Fußweg bis zu seiner Tagesmutter nicht binnen der als Obergrenze anzunehmenden 45 Minuten (vgl. dazu Brockmann in: Seyderhelm/ Nagel/ Brockmann, Niedersächsisches Schulgesetz, § 63 Anm. 5.2.1, S. 399) wird zurücklegen können. Der Sache nach haben die beteiligten Schulleiter dies angenommen, und auch nach den Erfahrungen der Kammer spricht nichts dagegen, dass ein normal entwickelter Erstklässler diese nicht durch besondere Schwierigkeiten gekennzeichnete Strecke in dieser Zeit wird zurücklegen können. In Anlehnung an die nicht mehr gültige Neufassung der Verordnung des Nds. Kultusministers über den Schülertransport vom 17.08.1978 (SchVBl. 1978, 295) kann bei der Berechnung der Gehgeschwindigkeit davon ausgegangen werden, dass je 200 m Fußweg 3 Minuten benötigt werden (vgl. dazu auch Nds. OVG, Urt. vom 20.02.2002, 13 L 3502/00, Nds. VBl. 2003, 83). Die Kammer hat keinen Zweifel, dass ein 6 bis 7-jähriger motorisch normal entwickelter Junge auch mit einer Schultasche beladen diese Gehgeschwindigkeit erreichen kann.
Der Antrag ist deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG und berücksichtigt wegen der Vorläufigkeit der Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Hälfte des für die Hauptsache anzunehmenden Wertes.