Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 28.04.2005, Az.: 2 A 455/03

Abschiebung; Abschiebungsschutz; abschließende Regelung; Abwägungsvorgang; allgemeine Rücknahmevorschriften; Angabe falscher Tatsachen; Asyl; Asylberechtigung; Aufenthaltsbefugnis; Aufenthaltserlaubnis; Aufenthaltsgenehmigung; ausreichende Tatsachengrundlage; entscheidungserheblicher Zeitpunkt; Ermessen; Ermessensentscheidung; Ermessenserwägung; Grundsatz der Gesetzmäßigkeit; Irak; Irak; politisches Asyl; Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns; Rücknahme; Rücknahme der Asylberechtigung; unbefristete Aufenthaltserlaubnis; unrichtige Angaben; Widerruf; Würdigung persönlicher Belange; Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
28.04.2005
Aktenzeichen
2 A 455/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 50683
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG Niedersachsen - 10.09.2008 - AZ: 13 LB 82/07
BVerwG - 13.04.2010 - AZ: BVerwG 1 C 10.09

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zu den Anforderungen an die Ermessensentscheidung über den Widerruf der Aufenthaltserlaubnis nach Rücknahme bzw. Widerruf der Asylberechtigung und von Abschiebungsschutz.

Tatbestand:

1

Der Kläger wehrt sich gegen die Rücknahme bzw. den Widerruf der ihm von der Beklagten erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis.

2

Der am ... geborene, verheiratete Kläger ist irakischer Staatsangehöriger. Nach einem über vierjährigen Aufenthalt in Österreich reiste er am 8. Juni 1995 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag, den er damit begründet, er sei zwischen 1990 und 1995 im Irak in Haft gewesen. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge erkannte ihn daraufhin mit Bescheid vom 06.12.1995 als asylberechtigt an und stellte fest, dass bei ihm die Voraussetzungen von § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Am 23.01.1996 erteilte die Beklagte ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.

3

Mit Bescheid vom 18.02.2000 nahm das Bundesamt die Asylanerkennung des Klägers zurück und widerrief den ihm gem. § 51 Abs. 1 AuslG gewährten Abschiebungsschutz; dem Bundesamt war bekannt geworden, dass sich der Kläger im Dezember 1990 in Österreich und im Jahre 1996 (zum Besuch seines Vaters) im Irak aufgehalten hatte. Nachdem dieser Bescheid im April 2002 bestandskräftig geworden war, widerrief die Beklagte nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 02.10.2002 die ihm erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis, forderte ihn zur Ausreise aus dem Bundesgebiet auf und drohte seine Abschiebung in den Irak an. Den Widerspruch des Klägers dagegen vom 31.10.2002 wies die Bezirksregierung Braunschweig mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2003 als unbegründet zurück.

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Am 16.12.2003 hat der Kläger Klage erhoben, zu deren Begründung er im Wesentlichen geltend macht: Die Beklagte habe bei ihrer Entscheidung sein persönliches Interesse, im Bundesgebiet zu verbleiben, nicht ausreichend gewürdigt; er habe alle Beziehungen im Irak außer derjenigen zu seinem Vater vollständig abgebrochen; bei seinem Besuch im Jahre 1996 habe er nach seiner Ehefrau geforscht, diese jedoch nicht mehr aufgefunden, weil sie wohl zusammen mit anderen Dorfbewohnern infolge einer großen Kurdenverfolgungsaktion durch das Saddam-Regime verschwunden gewesen sei; in Deutschland habe er enge persönliche Bindungen an seinen Großcousin und dessen deutsche Lebensgefährtin; er habe von 1996 bis 1999 und wieder ab 01.09.2003 in Deutschland gearbeitet und sei hier integriert, während er im Irak keine Existenzgrundlage für sich finden könne.

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Der Kläger beantragt,

6

den Bescheid der Beklagten vom 02.10.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 17.11.2003 aufzuheben.

7

Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

9

Sie bezieht sich auf die Begründung des angefochtenen Widerspruchsbescheides vom 17.11.2003 und führt ergänzend aus: Der Kläger habe zweimal deutsche Behörden getäuscht, und zwar einmal im Asylverfahren und ein zweites Mal, indem er am 01.12.1997 versucht habe, mittels eines gefälschten irakischen Führerscheins eine deutsche Fahrerlaubnis zu erlangen; er sei mithin offenbar nicht bereit, die deutsche Rechtsordnung zu beachten; von seiner Integration in Deutschland könne nicht gesprochen werden; es sei auch unglaubhaft, dass er zu seiner Familie im Irak keinen Kontakt mehr habe.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze und auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Bezirksregierung Braunschweig Bezug genommen. Die Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

11

Die Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid ist in der Fassung, die er durch den Widerspruchsbescheid erhalten hat (§ 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

12

Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid ist § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG (in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung). Danach kann die Aufenthaltsgenehmigung nur widerrufen werden, wenn (neben drei anderen Fallvarianten, die hier nicht einschlägig sind) die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter, seine Rechtsstellung als ausländischer Flüchtling, seine Rechtsstellung nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge oder die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 vorliegen, erlischt oder unwirksam wird. Entgegen der Auffassung der Beklagten vertritt die Bezirksregierung Braunschweig in dem angefochtenen Widerspruchsbescheid die Meinung, im Falle einer Rücknahme der Asylberechtigung in Anwendung von § 73 Abs. 2 AsylVfG, unter der Voraussetzung also, dass die Anerkennung als Asylberechtigter aufgrund unrichtiger Angaben oder infolge Verschweigens wesentlicher Tatsachen erteilt worden ist, sei die gem. § 68 Abs. 1 S. 1 AsylVfG erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis nicht gem. § 43 AuslG widerrufbar, sondern in Anwendung von § 48 VwVfG zurücknehmbar. Dem folgt das Gericht nicht. In § 43 Abs. 1 AuslG wird nicht danach differenziert, ob und ggf. aus welchen Gründen die Asylberechtigung zurückgenommen oder widerrufen worden ist, so dass die Norm auch einschlägig ist, wenn die Aufenthaltsgenehmigung seinerzeit zu Unrecht erteilt wurde (vgl. Gemeinschaftskommentar zum Ausländergesetz, § 43, Rn. 8). Zwar ist die Anwendung von § 48 VwVfG neben § 43 AuslG nicht generell ausgeschlossen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.05.1995 - 1 C 3.94 - Informationsbrief Ausländerrecht 1995 S. 349); allerdings enthält § 43 Abs. 1 AuslG für die dort genannten Fallgruppen eine abschließende Regelung, so dass für die Anwendung der allgemeinen Vorschrift des § 48 VwVfG nur Raum ist, wenn die Aufenthaltsgenehmigung aus einem anderen Grunde aufgehoben werden soll. Mithin ist die angefochtene Verfügung (in der Fassung des Widerspruchsbescheides) an § 43 Abs. 1 AuslG zu messen.

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Erforderlich ist danach eine Ermessensentscheidung der Behörde, in der das Interesse des betroffenen Ausländers, im Bundesgebiet zu verbleiben, gegen das öffentliche Interesse, seinen Aufenthalt in Deutschland infolge der weggefallenen Asylberechtigung zu beenden, sorgfältig gegeneinander abzuwägen sind. Dabei sind u. a. die Gründe für das Erlöschen der Asylberechtigung (vgl. dazu OVG Lüneburg, Beschluss vom 13.08.2003 - 13 LA 246/03 - AUAS 2004, S. 2), die Aufenthaltsdauer des Ausländers und seine Inte-grationsbemühungen in die hiesige Gesellschaft, seine bisherige Führung und eine ggf. ungesicherte oder gefährdete Lage im Heimatstaat zu berücksichtigen (vgl. Kanein/Renner, AuslG, 7. Aufl., § 43, Rn. 9; GK zum Ausländergesetz, § 43, Rn. 14). Diesen Anforderungen genügt der angefochtene Widerspruchsbescheid (der gegenüber dem Ausgangsbescheid eigenständige, umfassende Ermessenserwägungen enthält) in mehrfacher Hinsicht nicht.

14

Der Abwägungsvorgang der Widerspruchsbehörde beruht zunächst nicht vollständig auf vorhandenen bzw. hinreichend aus ermittelten Tatsachen. So wird zunächst (auf Seite 5) davon ausgegangen, der Kläger habe sich vor seiner Ausreise 30 Jahre lang in seinem Heimatland aufgehalten, während dies tatsächlich (von 1965 bis 1990) nur 25 Jahre waren. Ferner wird unterstellt, der Kläger habe noch Kontakt zu seiner Frau und seinen Kindern, jedenfalls könne er diesen Kontakt nach einer Rückkehr in den Irak jederzeit herstellen; dabei wird dem Vorbringen des Klägers, er habe gar keine Kinder (was lediglich in dem Widerspruchsschreiben seines Prozessbevollmächtigten anders dargestellt wird und auf einem Irrtum des Prozessbevollmächtigten beruhen dürfte) und seine Ehefrau sei schon 1996 verschwunden gewesen, nicht nachgegangen. Insoweit dürfte der Sachverhalt aber ohne weiteres aufklärbar sein (was - das sei zur Vermeidung von Missverständnissen hervorgehoben - nicht Aufgabe des Gerichts ist, sondern von der Behörde hätte geleistet werden müssen, um sich eine ausreichende Tatsachengrundlage für ihre Ermessensentscheidung zu schaffen).

15

Was den Abwägungsvorgang selbst betrifft, ist der Bezirksregierung Braunschweig zunächst der Fehler unterlaufen (auf Seite 10 Mitte des Widerspruchsbescheides), dass sie als entscheidungserheblichen Zeitpunkt denjenigen annimmt, in dem der Erstbescheid ergangen ist; die Widerspruchsbehörde hat jedoch gem. § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des ihr vorgelegten Verwaltungsaktes nachzuprüfen und dabei auf den Zeitpunkt abzustellen, an dem sie selbst entscheidet (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 113, Rn. 31 m.w.N.). In der Sache ist der Umstand nicht berücksichtigt worden, dass der von der Beklagten eingeholte Zentralregisterauszug über den Kläger keine Eintragung enthält, er also als unbestraft zu behandeln ist. Ferner hat das Gericht beträchtliche Zweifel daran, ob sich die Bezirksregierung Braunschweig überhaupt darüber bewusst war, dass sie eine Ermessensentscheidung (und keine rechtlich gebundene Entscheidung) trifft. Es ist zwar durchaus angemessen (und weiter oben bereits erwähnt worden), auf die Gründe abzustellen, die zum Erlöschen der Asylberechtigung geführt haben; dies hat die Bezirksregierung Braunschweig auch (auf Seite 8/9 des Widerspruchsbescheides) getan, nachdem sie die persönlichen Belange des Klägers gewürdigt hat. Es folgen dann allerdings einige Passagen, die darauf hindeuten, dass die Angabe falscher Tatsachen zur Begründung seines Asylgesuchs eine andere Entscheidung als die Beendigung seines Aufenthalts in Deutschland rechtlich nicht zulassen würde. Es handelt sich um folgende Passagen:

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„Es kann nicht hingenommen werden, dass Ausländern, die sich entgegen der ausdrücklichen Erklärung der Bundesrepublik Deutschland zur Zuwanderungsbegrenzung durch unrichtige Angaben ein Aufenthaltsrecht erschlichen haben, das ihnen ohne die entsprechende Täuschung nicht zugestanden hätte, der weitere Aufenthalt erlaubt wird...

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Es kann aber nicht hingenommen werden, dass ihr Mandant sein Ziel durch unrichtige Angaben erreicht, während andere Ausländer, die wahrheitsgemäße Angaben machen, wieder ausreisen müssen.

18

Auch der Grundsatz des rechtmäßigen Verwaltungshandelns verlangt hier eine Rücknahme, da nur das rechtmäßige Handeln der öffentlichen Verwaltung einen Garant für die Akzeptanz der Entscheidungen von allen darstellt.

19

Der Fortbestand der rechtswidrig unbefristeten Aufenthaltserlaubnis würde gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit verstoßen.“

20

Zwar wird anschließend wieder von Ausübung von Ermessen gesprochen, es fragt sich jedoch, ob hier angesichts der zuvor gefundenen recht deutlichen Worte nicht nur eine Worthülse vorliegt.

21

Schließlich wird in dem Widerspruchsbescheid nicht danach differenziert, dass der dem Kläger neben politischem Asyl gem. § 51 Abs. 1 AuslG gewährte Abschiebungsschutz nicht zurückgenommen, sondern (wegen zwischenzeitlich veränderter Verhältnisse im Irak) lediglich widerrufen wurde. Insoweit kann dem Kläger nicht der Vorwurf gemacht werden, er habe sich eine Rechtsstellung durch unrichtige Angaben erschlichen. Mithin hätte erwogen werden müssen, ob dem Kläger nicht wenigstens der ausländerrechtliche Status belassen werden kann, der ihm aufgrund der Feststellung, er genieße Abschiebungsschutz gem. § 51 Abs. 1 AuslG, zugestanden hätte. Dies wäre nach dem bis zum 31.12.2004 gültigen Recht eine Aufenthaltsbefugnis gewesen (§ 70 Abs. 1 AsylVfG).

22

Das Gericht weist ausdrücklich daraufhin, dass die Beklagte durch diese Entscheidung nicht gehindert ist, nach sorgfältiger Aufklärung aller entscheidungserheblichen Umstände erneut über den Fortbestand der dem Kläger erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis zu befinden. Sie hätte dann § 52 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vom 30.07.2004 (BGBl. I S. 1950) anzuwenden und auf den Zeitpunkt ihrer Entscheidung abzustellen.

23

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.