Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 23.09.2014, Az.: S 49 AS 582/12

Erstattung von Leistungen für Unterkunft und Heizung i.R.v. Rückzahlungen und Guthaben (hier: Gutschriften aus Betriebskostenabrechnungen)

Bibliographie

Gericht
SG Braunschweig
Datum
23.09.2014
Aktenzeichen
S 49 AS 582/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 29399
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGBRAUN:2014:0923.S49AS582.12.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
LSG Niedersachsen-Bremen - 24.11.2015 - AZ: L 7 AS 1148/14

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Ein Fall des § 22 Abs. 3 SGB II liegt nicht vor, wenn zwar zu Gunsten der Leistungsbezieherin Gutschriften aus zwei Betriebskostenabrechnungen bestehen, diese Beträge aber wegen einer erfolgten Aufrechnung der Vermieterin mit Mietschulden von vornherein nicht zur Auszahlung kamen und mithin nicht der Bedarfsdeckung der Leistungsbezieherin dienen konnten.

  2. 2.

    Die Kammer schließt sich nicht der Auffassung des LSG Berlin-Brandenburg im Urteil vom 12.06.2014, Az.: L 23 SO 68/12 an, nach der eine Aufrechnungserklärung des Vermieters in diesen Fällen nach § 394 BGB nichtig sei und der Leistungsberechtigte das Guthaben hätte realisieren und sich mit guter Aussicht auf Erfolg auf dem Zivilrechtsweg gegen die Aufrechnung der Vermieterin hätte zur Wehr setzen können, so dass das Guthaben deshalb als Einkommen anzurechnen sei.

  3. 3.

    Anders läge der Fall aber dann, wenn ein Mieter den eigenen Vermieter auffordert, ein Guthaben, das dieser eigentlich auszahlen wollte, mit bestehenden Mietschulden zu verrechnen. Eine solche Konstellation könnte so interpretiert werden, dass der Leistungsempfänger tatsächlich über das Guthaben - sein Einkommen - verfügen konnte und es zur Schuldentilgung einsetzte.

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid vom 24.11.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.01.2012 wird aufgehoben.

  2. 2.

    Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger trägt der Beklagte.

  3. 3.

    Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Kläger wenden sich im Rahmen von Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) gegen Erstattungsforderungen des Beklagten.

Mit Bescheiden vom 19.08.2008, 27.08.2008, 25.09.2008 und 09.07.2009 hatte der Beklagte den Klägern Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum der Monate August 2008 bis einschließlich Januar 2009 bewilligt. Für den Monat November 2008 gewährte er dabei 635,28 EUR.

Mit weiteren Bescheiden vom 25.06.2009, 08.07.2009, 01.12.2009 und 22.12.2009 gewährte der Beklagte sodann Leistungen für die Monate August 2009 bis einschließlich Januar 2010. Für den Monat Dezember 2009 gewährte er dabei 389,91 EUR.

Auf Aufforderung des Beklagten legte die Klägerin zu 1. am 28.10.2011 die Betriebskostenabrechnungen für das Jahr 2007 und 2008 vor. Aus der Nebenkostenabrechnung vom 01.10.2008 für das Jahr 2007 ergab sich ein Guthaben in Höhe von 66,78 EUR. Aus der Nebenkostenabrechnung vom 12.11.2009 für das Jahr 2008 ergab sich ein Guthaben in Höhe von 554,43 EUR. In den Abrechnungen heißt es u.a., da die Bankverbindung der Klägerin zu 1. nicht bekannt sei, werde sie gebeten, diese für die Überweisung des Guthabens mitzuteilen. Falls das Mietkonto einen Rückstand aufweise, werde das Guthaben mit diesem verrechnet.

Nach erfolgten Anhörungen erließ der Beklagte am 24.11.2011 einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid. Dabei hob er die Bewilligungsbescheide für den Monat November 2008 teilweise auf und forderte von den Klägern insgesamt 73,35 EUR zurück. Die Bewilligungsbescheide betreffend den Monat Dezember 2009 hob er vollständig auf und forderte von den Klägern insgesamt 557,02 EUR zurück. Zur Begründung verwies er auf die Betriebskostenguthaben aus den vorgelegten Jahresabrechnungen. Sie seien im Folgemonat der Gutschrift anzurechnen. Rechtsgrundlage der Aufhebung sei § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 SGB X. Die Kläger seien ihrer Verpflichtung, alle Änderungen der Verhältnisse mitzuteilen mindestens grob fahrlässig nicht nachgekommen und hätten wissen müssen, dass ihr Anspruch ganz oder teilweise weggefallen ist.

Hiergegen erhoben die Kläger ohne Begründung am 21.12.2011 Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 30.01.2012 zurückgewiesen wurde.

Am 29.02.2012 haben die Kläger Klage erhoben.

Die Klägerin führt zur Begründung ihrer Klage aus, sie habe kein Guthaben auf ihrem Konto erhalten. Zudem seien die betreffenden Bescheide seien nicht aufgehoben, sondern nur genannt worden. Überdies sei unklar, ob alle Bescheide genannt wurden, die in diesem Zeitraum ergangen waren. Von Ratenzahlungsvereinbarungen habe sie keine Kenntnis. Auch bei Nichtvorliegen einer Ratenzahlungsvereinbarung hätte die Vermieterin von sich aus vollstreckt. Der Beklagte übernehme im Übrigen auch nicht die komplette Miete der Kläger.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid vom 24.11.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.01.2012 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er führt aus, er sei bisher davon ausgegangen, dass das jeweilige Guthaben der Klägerin noch im Monat der Abrechnung zugeflossen war und dieses Guthaben im Folgemonat die Kosten der Unterkunft und Heizung minderte. Aus der Stellungnahme der Vermieterin ergebe sich zwar, dass der Klägerin zu 1. das Guthaben nicht zufloss, allerdings habe diese der Verrechnung mit den Mietschulden zugestimmt und somit freiwillig Schulden bei ihrem Vermieter getilgt. Eine freiwillige Schuldentilgung auf Kosten der Allgemeinheit finde im SGB II jedoch keine Grundlage. Dies gelte auch für eine freiwillige Verrechnung von Betriebskostenguthaben mit Mietrückständen. Entgegen der Behauptung der Klägerin würden die vollständigen Kosten der Unterkunft übernommen.

Das Gericht hat im Klageverfahren mit Verfügung vom 15.08.2013 die Vermieterin der Kläger, die Nibelungen Wohnbau GmbH, angeschrieben. Diese teilt mit Schreiben vom 05.09.2013 (Bl. 26 ff. der Gerichtsakte) mit, dass die Kläger wiederholt mit den Mietzahlungen in Rückstand geraten waren. Zum Zeitpunkt der Abrechnung des Jahres 2007 am 01.10.2008 sei das Mietkonto der Kläger nicht ausgeglichen gewesen, sie hätten aus der Miete für Januar 2008 noch 306,65 EUR geschuldet. Gemäß einer bestehenden Ratenzahlungsvereinbarung sei das Betriebskostenguthaben mit diesen Rückständen aufgerechnet worden. Im Januar 2009 sei bis einschließlich April 2009 zu neuen Rückständen bei den Mietzahlungen gekommen. Nach Erlass eines Vollstreckungsbescheids sei erneut eine Ratenzahlungsvereinbarung getroffen worden. Zum Zeitpunkt der Betriebskostenabrechnung 2008 habe noch eine Forderung in Höhe von 784,53 EUR bestanden. Das Guthaben in Höhe von 554,43 EUR sei hierauf angerechnet worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten (5 Bände) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist als isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) zulässig und begründet.

Der Bescheid vom 24.11.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.01.2012 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in eigenen Rechten.

Rechtsgrundlage des angegriffenen Bescheids war § 22 Abs. 3 SGB II. Danach mindern Rückzahlungen und Guthaben, die dem Bedarf für Unterkunft und Heizung zuzuordnen sind, die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Monat der Rückzahlung oder der Gutschrift.

Diese Tatbestandsvoraussetzungen waren im hiesigen Fall nach Auffassung der Kammer nicht erfüllt. Zwar entstanden zu Gunsten der Klägerin Gutschriften aus zwei Betriebskostenabrechnungen. Maßgeblich ist aber, dass diese Beträge wegen einer erfolgten Aufrechnung der Vermieterin mit Mietschulden von vornherein nicht zur Auszahlung kamen und mithin nicht der Bedarfsdeckung der Klägerin dienen konnten.

Das Bundessozialgericht (Urteil vom 16.05.2012, Az.: B 4 AS 132/11 R) führte insoweit aus (Orientierungssatz):

"Eine Betriebskostenrückzahlung, die dem Hilfebedürftigen nach dem SGB 2 nicht ausgezahlt wird, sondern mit aufgelaufenen oder künftigen Mietforderungen des Vermieters von diesem verrechnet wird, bewirkt bei ihm dennoch einen "wertmäßigen Zuwachs", weil sie wegen der damit gegebenenfalls verbundenen Schuldbefreiung oder Verringerung anderweitiger Verbindlichkeiten aus der Vergangenheit oder Zukunft einen bestimmten, in Geld ausdrückbaren wirtschaftlichen Wert besitzt (vgl BSG vom 22.3.2012 - B 4 AS 139/11 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 55)."

Weiter erklärte das BSG (, Rn. 22):

"Handelt es sich demnach um grundsätzlich zu berücksichtigendes Einkommen, wird das SG noch zu prüfen haben, ob die Kläger das Guthaben aus der Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2008 - auch wenn es (zunächst) an einer "tatsächlichen Verfügungsgewalt" fehlte - auch aus Rechtsgründen überhaupt nicht oder nicht ohne Weiteres realisieren konnten. Nur wenn dies festgestellt worden ist, standen den Klägern bereite Mittel zur Bedarfsdeckung nicht zur Verfügung und muss - in gleicher Weise wie bei gepfändeten Teilen des Alg II - die mögliche Folge einer Tilgung von Mietschulden aus der Vergangenheit durch Rückzahlungen aus Betriebskostenabrechnungen hingenommen werden."

Nach diesen Maßgaben war hier zu Gunsten der Kläger zu befinden. Bereits in beiden Betriebskostenabrechnungen erklärte die Vermieterin, sie werde ein Guthaben mit etwaigen Mietschulden verrechnen. Damit erklärte die Vermieterin bereits zu diesem Zeitpunkt einseitig die Aufrechnung des Guthabens mit den bestehenden Mietschulden im Sinne des § 388 BGB.

In einer vergleichbaren Konstellation entschied das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg (Urteil vom 12.06.2014, Az.: L 23 SO 68/12) jüngst, dass eine Aufrechnungserklärung des Vermieters in diesen Fällen nach § 394 BGB nichtig sei. Das LSG folgert hieraus, dass der Leistungsberechtigte das Guthaben hätte realisieren können und er sich mit guter Aussicht auf Erfolg auf dem Zivilrechtsweg gegen die Aufrechnung der Vermieterin hätte zur Wehr setzen können. Das Guthaben sei deshalb als Einkommen anzurechnen.

Dieser Auffassung schließt sich die Kammer nicht an. Die zivilrechtliche Wertung des LSG mag zwar zutreffend sein. Sie erscheint aber nicht zwingend und ohnehin ergäbe sich hieraus keine Verpflichtung von Amts- oder Landgerichten, ihr zu folgen. Einen bedarfsdeckenden Einkommenszufluss zu fingieren kommt dann nicht in Betracht. Dem LSG zufolge soll die Beschreitung des Zivilrechtswegs der Weg sein, das Betriebskostenguthaben "ohne weiteres" realisieren zu können. Dabei lässt das LSG sowohl faktische Umstände wie etwa die Erfordernisse der Zahlung von Gerichtskosten und der Formulierung einer Klageschrift und eines Klageantrags als auch den Umstand außer Acht, dass auch Verfahren vor den Zivilgerichten einige Zeit in Anspruch nehmen. Vor diesem Hintergrund dem SGB II- Leistungsempfänger das Risiko eines Prozesses bei gleichzeitiger Unterdeckung seines existenzsichernden Bedarfs aufzubürden, erscheint nicht vertretbar. Ein - möglicher - Zahlungsanspruch gegen einen Vermieter ist nicht geeignet, den täglichen Bedarf zu sichern.

Anders läge der Fall dann, wenn ein Mieter den eigenen Vermieter auffordert, ein Guthaben, das dieser eigentlich auszahlen wollte, mit bestehenden Mietschulden zu verrechnen. Eine solche Konstellation könnte so interpretiert werden, dass der Leistungsempfänger tatsächlich über das Guthaben - sein Einkommen - verfügen konnte und es zur Schuldentilgung einsetzte. Dann wäre denkbar zu erklären, der Leistungsempfänger habe hier einen "ohne weiteres" zu realisierenden Auszahlungsanspruch gegen den Vermieter gehabt. Da in der hiesigen Konstellation aber bereits bei der Abrechnung der Betriebskosten seitens der Vermieterin die Aufrechnung erklärt wurde, war wie soeben dargestellt zu entscheiden.

Auf die Problematik, dass der Beklagte seinen Berechnungen nicht das tatsächliche Guthaben zugrunde legte (66,78 EUR aus der Nebenkostenabrechnung 2007 und 554,43 EUR aus der Nebenkostenabrechnung 2008), sondern fiktive Beträge von 73,35 EUR und 557,02 EUR berechnete, kam es deshalb im Ergebnis nicht an (vgl. hierzu etwa BSG, Urteil vom 16.05.2012, Az.: B 4 AS 159/11 R).

Aus der Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheids ergibt sich auch die Verletzung der Kläger in eigenen Rechten, § 54 Abs. 2 S. 1 SGG.

Nach alledem war der Klage zu entsprechen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

Im Hinblick auf die soeben aufgezeigte Divergenz zur Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg war hier nach § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG die Berufung zuzulassen.