Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 15.10.2014, Az.: S 46 SO 227/11

Bibliographie

Gericht
SG Braunschweig
Datum
15.10.2014
Aktenzeichen
S 46 SO 227/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 42433
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 4.518,66 € festgesetzt.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Kostenerstattung für die Finanzierung eines Einzeltrainings zum Erlernen der Blindenschrift, wofür Kosten in Höhe von 4.518,66 € entstanden sind.

Leistungsempfänger ist E., geb. am 1. April 1981. Dieser leidet an einer leichten Intelligenzminderung mit deutlichen und behandlungsbedürftigen Verhaltensstörungen und an einer Blindheit beider Augen. Mit Vollendung des 27. Lebensjahres wurde die Gewährung einer Waisenrente eingestellt. Seit Mai 2007 erhielt der Leistungsempfänger von der Beklagten Leistungen der Eingliederungshilfe für die Betreuung in einem Wohnheim.

Am 17. Juni 2008 beantragte die Betreuerin des Leistungsempfängers bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für eine Schulung der lebenspraktischen Fähigkeiten, hier: Einzeltraining zum Erlernen der Punktschrift, und reichte eine ärztliche Verordnung vom 21. Juli 2008 nach. Mit Schreiben vom 27. Juni 2008 leitete die Beklagte diesen Antrag nach § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX an Klägerin weiter, weil das Trainieren lebenspraktischer Fähigkeiten und das Erlernen der Blindenschrift zu den Leistungen der medizinischen Rehabilitation nach § 26 Abs. 3 Nr. 6 SGB IX ("Training lebenspraktischer Fähigkeiten") gehöre, wofür die Zuständigkeit des Trägers der Sozialhilfe nicht gegeben sei.

Mit Bescheid vom 7. August 2008 bewilligte die Klägerin die Übernahme der Kosten einer Schulung der lebenspraktischen Fähigkeiten und wies in diesem Rahmen schon auf die aus ihrer Sicht bestehende Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers hin. Die Schulung durch eine Rehabilitationslehrerin fand in der Zeit vom 3. November 2008 bis zum 7. Mai 2009 statt. Hierfür entstanden Gesamtkosten in Höhe von 4.518,66 € (vergleiche Abrechnung vom 19. August 2009).

Mit Schreiben vom 15. August 2008 meldete die Klägerin bei der Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch an. Mit Schreiben vom 6. Oktober 2009 lehnte die Beklagte eine Kostenerstattung ab.

Am 29. Dezember 2011 hat die Klägerin beim Sozialgericht Braunschweig Klage eingereicht. Sie ist weiterhin der Auffassung, dass der Leistungsanspruch des Hilfeempfängers den Leistungen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach auf § 55 Abs. 1, insbesondere Abs. 2 Nr. 3 SGB IX zuzuordnen sei und es nicht um Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sei in § 26 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX gehe. Nur für den letztgenannten Bereich seien die gesetzlichen Krankenkassen nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX zuständig.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, ihr Kosten in Höhe von 4.518,66 € zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist weiterhin der Auffassung, dass mit dem Erlernen der Blindenschrift gerade die Sehbehinderung ausgeglichen werden soll und nicht primär die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft gefördert werden soll. Deshalb sei sie als Trägerin der Eingliederungshilfe nicht zuständig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen. Diese sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der Verhandlung und Beratung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Kostenerstattung.

Ein solcher Anspruch ergibt sich nicht aus § 14 Abs. 4 SGB IX i.V.m. § 102 SGB X. Wird nach Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger nach § 14 Absatz 1 Satz 2 bis 4 SGB IX festgestellt, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist, erstattet dieser dem Rehabilitationsträger, der die Leistung erbracht hat, dessen Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen nicht vor, weil die Klägerin der sachlich zuständige Rehabilitationsträger für die hier streitige Leistung an den Hilfeempfänger ist.

Bei der hier streitige Hilfeleistungen zum Erlernen der Blindenschrift handelt es sich um eine Leistung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX i.V.m. § 5 Nr. 1 SGB IX vor (Leistungen zur medizinischen Rehabilitation) mit Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenkasse und nicht um eine Leistung nach § 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX i.V.m. § 5 Nr. 4 SGB IX (Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft), für die die Beklagte zuständig wäre.

Rechtsprechung zu dieser Problematik liegt soweit ersichtlich nicht vor, dadurch hat die Rechtssache jedoch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG, denn aus der reinen Wortlautinterpretation ergibt sich das oben genannte Ergebnis.

Nach § 26 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX werden im Rahmen der medizinischen Rehabilitation die erforderlichen Leistungen erbracht, um u.a. Behinderungen zu mindern und auszugleichen. Dazu gehört nach § 26 Abs. 3 Nr. 6 SGB IX auch das Training lebenspraktischer Fähigkeiten.

Dazu gehört bei Blindheit auch das Erlernen der Blindenschrift. Dabei handelt es sich um das Erlernen lebenspraktischer Fähigkeiten. Dieses ist vergleichbar mit dem Erlernen der Gehfunktion nach einer Amputation. Es geht somit um das Erlernen von Grundfertigkeiten, um den Lebensalltag auch unter Berücksichtigung der vorliegenden Behinderung bestmöglich bewältigen zu können, dagegen steht der Gesichtspunkt der Teilhaben am Leben in der Gemeinschaft deutlich im Hintergrund. Letzterer Bereich ist sodann erst berührt, wenn der Blinde alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, mit seiner Blindheit als solcher umzugehen und es um seine Integration in die Gemeinschaft geht. Hier geht es dagegen zentral darum, mit dem Erlernen der Blindenschrift unabhängig vom Leben in der Gemeinschaft sein Leben bestmöglich allein meistern zu können und nicht auf fremde Hilfestellung angewiesen zu sein.

Dieses Ergebnis wird auch bestätigt durch die Regelungen über die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach §§ 55 ff SGB IX. Dazu gehören nach § 55 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Dieses ist eine völlig andere Zielrichtung als das Erlernen lebenspraktischer Fähigkeiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG. Weder die Klägerin noch die Beklagte gehören zu dem Personenkreis, für die das Verfahren vor den Sozialgerichten kostenfrei ist, so dass gemäß § 197a SGG i.V.m. § 52 GKG der Streitwert festzusetzen ist.

Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus § 63 Abs. 2 i. V. m. § 52 Abs. 1 und 3 Gerichtskostengesetz - GKG -. Dieser richtet sich nach der Bedeutung der Sache für die Klägerin und ist nach Ermessen zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG). Die wirtschaftliche Bedeutung des Verfahrens für die Klägerin wird durch die Höhe des geltend gemachten Kostenerstattungsbegehrens in Höhe von 44.518,66 € bestimmt, so dass der Streitwert entsprechend festzusetzen war.

Die Berufung ist nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG nicht statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes bei der vorliegenden Erstattungsstreitigkeit 10.000,00 € nicht übersteigt, der Rechtsstreit nicht wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG) und Zulassungsgründe gemäß § 144 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.