Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 15.05.2014, Az.: S 14 U 91/13

Anspruch der Verwandten der aufsteigenden Linie (hier: Elternteil) auf Hinterbliebenenrente i.R.d. SGB VII

Bibliographie

Gericht
SG Braunschweig
Datum
15.05.2014
Aktenzeichen
S 14 U 91/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 17867
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGBRAUN:2014:0515.S14U91.13.0A

Fundstelle

  • ZfSH/SGB 2014, 568-571

Redaktioneller Leitsatz

Wurde die Betroffene über mehrere Jahre hinweg von ihrem Kind in erheblichem Umfang finanziell unterstützt, weil sie selbst nicht in der Lage war, über eine Witwenrente hinaus eigene Einnahmen zu generieren, hat sie nach dem Tod des Kindes einen Anspruch auf Zahlung einer Hinterbliebenenrente aus § 69 Abs. 1 SGB VII.

Tatbestand

Die Klägerin macht im Rahmen von Leistungen nach dem Siebten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) die Gewährung einer Hinterbliebenenrente geltend.

Die 1956 geborene Klägerin ist die Mutter der am 05.02.2007 getöteten Frau G., deren Ehemann in Sittensen ein Chinarestaurant betrieb. Am 05.02.2007 kam es zu einem Überfall auf das Restaurant, bei welchem die Tochter der Klägerin, ihr Ehemann und weitere fünf Personen getötet wurden.

Nach den Morden wurden die Klägerin und ihre 2004 geborene Enkelin, Tochter der Getöteten, zunächst in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Die Klägerin wurde in der Folgezeit als Vormund ihrer Enkelin eingesetzt. Sie bezieht eine Witwenrente in Höhe von monatlich 464,29 EUR (vgl. Bescheid vom 01.07.2012); ihre Enkelin erhält eine Waisenrente und eine Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz. Gemeinsam bezogen beide sodann Leistungen nach dem SGB II (Bescheid vom 26.06.2007).

Der Raubmord an der Tochter der Klägerin wurde von der Beklagten als Versicherungsfall anerkannt. Im Rahmen der sodann eingeleiteten Ermittlungen zur Prüfung eines Anspruchs auf eine Hinterbliebenenrente trug die Klägerin vor, dass sie lediglich eine Witwenrente bezieht und aufgrund ihrer Erwerbsunfähigkeit auch nicht in der Lage sei, eigene Einkünfte zu erzielen. Schon die Miete von 548,90 EUR habe sie nicht alleine zahlen können. Sie habe deshalb einen Unterhaltsanspruch gegen ihre Tochter gehabt. Diese habe sie - gemeinsam mit ihrem Ehemann - mit monatlichen Zahlungen in Höhe von 500,00 EUR bis 1.000,00 EUR auch tatsächlich unterstützt. Die Zahlungen seien teilweise als Bareinzahlungen, teilweise in Form von Überweisungen erfolgt. Hierzu legte die Klägerin 4 Kontoauszüge aus dem Jahr 2005 und weitere 8 Einzahlungsbelege aus den Jahren 2005 und 2006 vor. Weitere Unterlagen seien aufgrund der Beschlagnahme durch die polizeilichen Ermittlungsbehörden und das Finanzamt nicht mehr vorhanden.

Mit Bescheid vom 01.02.2013 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente ab. Zur Begründung führte sie aus, bereits die Unterhaltsfähigkeit der Tochter der Klägerin sei nicht erwiesen, weil diese in dem Nachweis zur Beitragsberechnung an die Beklagte im Jahr 2005 nicht genannt wurde. Eine Entlohnung der Tochter sei daher nicht belegt. Das Einkommen des Ehemanns sei bei der Prüfung der Unterhaltsfähigkeit nicht zu berücksichtigen. In einer Gesamtschau seien zudem auch keine regelmäßigen und auf Dauer angelegten Unterhaltsleistungen nachgewiesen.

Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 04.03.2013 Widerspruch und erklärte, zwar habe der verheiratete Partner des unterhaltspflichtigen Ehegatten keine originäre Unterhaltspflicht, bei der Einkommensermittlung des Unterhaltspflichtigen sei jedoch auch dessen Anspruch auf Familienunterhalt gegen den Ehegatten zu berücksichtigen. Bei Einkünften aus dem Restaurantbetrieb von ca. 100.000,00 EUR jährlich sei auch die Tochter leistungsfähig gewesen. Neben monatlichen Beträgen von 600,00 EUR bis 1.000,00 EUR habe die Klägerin auch Geld für Urlaube erhalten. Zudem habe die Tochter die Mietzahlungen übernommen. Die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin, die auf eine Krebserkrankung zurückgeht, sei gerade der Grund gewesen, warum sie im Oktober 2006 von Hannover nach Sittensen, in die Nähe ihrer Tochter, verzog. Dort sei sie dann von ihrer Tochter im Alltag umfänglich unterstützt worden.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 30.05.2013 aus den Gründen der Ausgangsentscheidung zurückgewiesen.

Am 02.07.2013 hat die Klägerin Klage erhoben.

Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr Vorbringen hinsichtlich der Unterhaltsfähigkeit ihrer Tochter aufgrund der im Betrieb ihres Ehemanns erzielten Einkünfte. Hinsichtlich der Unterhaltszahlungen führt sie ergänzend aus, diese seien teilweise in bar erfolgt, weil im Restaurant offenbar - ohne Wissen der Klägerin - in erheblichem Umfang Schwarzeinnahmen erzielt wurden. Nach dem Tod der Eheleute und der Beschlagnahme von Unterlagen habe deshalb das Finanzamt für die Jahre 2002 bis 2005 neue Steuerbescheide erlassen. Ihre Tochter habe nicht nur die Miete in der zuletzt bewohnten Wohnung in Sittensen, sondern auch die Miete der zuvor bewohnten Wohnung in Laatzen übernommen. Die Mietverträge besitze die Klägerin jedoch nicht mehr. Auch die damaligen Vermieter könnten die Übernahme der Miete durch die Tochter der Klägerin nicht bestätigen, weil die Zahlungen unmittelbar über die Klägerin erfolgten. Als Unterhaltsleistung habe die Klägerin auch einen PKW nutzen können, der auf ihren Schwiegersohn zugelassen gewesen sei. Auch hierzu verfüge sie jedoch über keinerlei Unterlagen mehr. Bereits aus dem Umstand heraus, dass die Klägerin mit ihrer Witwenrente nicht in der Lage war, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ergebe sich, dass diese auf die Unterhaltszahlungen ihrer Tochter angewiesen war. Zum Nachweis ihrer Angaben hat die Klägerin zwei Zeuginnen benannt.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 01.02.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.05.2013 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin eine Rente nach § 69 SGB VII zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf seine Ausführungen im Verwaltungsverfahren und meint, ein Nachweis für Unterhaltsfähigkeit und Unterhaltszahlungen der Tochter sei nach wie vor nicht erbracht.

Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten (1 Band) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1, 4, 56 SGG) zulässig und begründet.

Der Bescheid vom 01.02.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.05.2013 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung einer Hinterbliebenenrente. Ihr Anspruch ergibt sich aus § 69 Abs. 1 SGB VII. Danach erhalten Verwandte der aufsteigenden Linie, die von den Verstorbenen zur Zeit des Todes aus deren Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen wesentlich unterhalten worden sind, eine Rente, solange sie ohne den Versicherungsfall gegen die Verstorbenen einen Anspruch auf Unterhalt wegen Unterhaltsbedürftigkeit hätten geltend machen können.

Diese Voraussetzungen waren hier erfüllt.

Die Klägerin ist als Mutter der Verstorbenen und damit als Verwandte in gerader Linie grundsätzlich anspruchsberechtigt. Der Klägerin kam auch ein gesetzlicher Unterhaltsanspruch gegen ihre Tochter zu. Nach § 1601 BGB sind Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Unterhaltsberechtigt ist nach § 1602 Abs. 1 BGB nur, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Die Unterhaltsberechtigung richtet sich also nach der Bedürftigkeit. Da hier die Klägerin nach eigenen - von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen - Angaben als Einkommen lediglich über eine Witwenrente in Höhe von 464,29 EUR monatlich verfügt, was nur wenig über dem aktuellen Regelsatz nach dem SGB II liegt, ist sie zweifellos als unterhaltsberechtigt anzusehen.

Nach § 1603 Abs. 1 BGB ist nicht zum Unterhalt verpflichtet, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Die Unterhaltspflicht richtet sich mithin nach der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen. Nach Auffassung der Kammer ist hier die Hausmann-/Hausfrauenrechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) einschlägig. Danach ist bei der Frage der Unterhaltsverpflichtung eines Ehegatten nicht nur dessen Einkommen zu berücksichtigen, sondern auch der Umstand, dass sein Unterhalt durch den Familienunterhaltsanspruch gedeckt ist (st. Rspr., z.B. BGH, Urteil vom 20.03.2002, Az.: XII ZR 216/00 und Urteil vom 29.10.2003, Az.: XII ZR 115/01). Das bereinigte Einkommen beider Eheleute ist zusammenzurechnen; der Anspruch auf Familienunterhalt beläuft sich dann auf die Hälfte dieses Gesamteinkommens (BGH, Urteil vom 20.03.2002, Az.: XII ZR 216/00). In dieser Höhe war die Tochter der Klägerin auch leistungsfähig. Die von der Beklagten zitierte Rechtsprechung des BGH zur Unterhaltsverpflichtung des Schwiegersohns war aus den erläuterten Gründen nicht einschlägig.

Gegenstand der Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung vom 15.05.2014 war die Frage der tatsächlichen Unterhaltszahlung von der Tochter an die Klägerin über eine nicht unerhebliche Zeit und deren Höhe. Nach Anhörung der Klägerin und der Zeuginnen ist die Kammer dabei zu der Überzeugung gelangt, dass die Verstorbene - gemeinsam mit ihrem Ehemann - die Klägerin über mehrere Jahre hinweg in erheblichem Umfang finanziell unterstützte.

Dabei waren bereits die Ausführungen der Klägerin selbst von erheblicher Überzeugungskraft. Schlüssig, widerspruchsfrei und insgesamt überaus glaubhaft führte die emotional stark belastete Klägerin aus, dass sie von ihrer Tochter bereits seit - letztlich mehr als zehn - Jahren finanziell unterstützt wird. Nach Aufgabe ihres eigenen Restaurants in Laatzen und nachdem der Verkaufserlös verbraucht war, verfügte die Klägerin offenbar - entgegenstehende Anhaltspunkte gibt es keine - lediglich noch über die Witwenrente. Da diese ihrer Höhe nach bereits kaum den alltäglichen Bedarf decken konnte, ist es plausibel, wenn die Klägerin vorträgt, monatlich von ihrer Tochter ca. 500,00 EUR bis 1.000,00 EUR bekommen zu haben. Die Kammer verfügt zwar über keine Kenntnisse der chinesischen Kultur, welche die Klägerin anführte, um zu begründen, dass normalerweise die Übergabe in bar erfolgte und keine Überweisungen vorgenommen oder gar ein Dauerauftrag eingerichtet wurden. Dennoch ist für die Kammer nachvollziehbar, dass eine Überweisung als unpersönlich und mit engen familiären Verhältnissen als nur schwer vereinbar empfunden werden könnte.

Nachvollziehbar und schlüssig waren auch die Ausführungen der Klägerin hinsichtlich des von ihr zuletzt - nach dem Umzug nach Sittensen - benutzten PKW. Danach hatte sie zunächst ihr eigenes Auto verkauft, weil auf den Rücksitz kein Kindersitz passte. Die Kammer hat zwar keine Kenntnis vom genauen Autotyp, hält es aber für plausibel, dass ein Modell der Marke Honda deutlich kleiner ist als der sodann von der Klägerin angeschaffte Mercedes. Auch das von der Klägerin angeführte Motiv, nämlich das Erfordernis, den Kindersitz unterzubringen, ist plausibel, denn die Möglichkeit, in Sittensen ihre Enkelin in stärkerem Maße als zuvor betreuen zu können, war ein Beweggrund des Umzugs. Plausibel sind auch die von der Klägerin erläuterten Umstände des Kaufs und der Finanzierung des Mercedes. Es ist nachvollziehbar, dass der Erlös des Verkaufs eines gebrauchten Hondas nicht ausreicht, um hiervon einen Mercedes anzuschaffen. So blieb also nach Einsatz des Verkaufserlöses von 6.000,00 EUR ein Fehlbetrag der finanziert werden musste. Es ist schlüssig, dass die Klägerin selbst hierzu angesichts der geringen Höhe ihrer Rente nicht in der Lage war. Wenn die Klägerin dann vorträgt, der Restbetrag sei über ihre Tochter und ihren Schwiegersohn mit monatlichen Raten finanziert worden, so entspricht dies gängigen Finanzierungsmodellen für PKW und ist plausibel. Da zu Unterhaltsleistungen auch Sachleistungen gehören (Schmitt, SGB VII, 4. Aufl., § 69 Rn. 8), gehörte mithin auch die Zurverfügungstellung und Finanzierung eines PKW zu den Unterhaltsleistungen der Tochter an die Klägerin.

Die Ausführungen der Klägerin wurden dann im Wesentlichen von beiden Zeuginnen übereinstimmend bestätigt. Beide waren nach Auffassung der Kammer als vollkommen glaubwürdig einzustufen, konnten sie doch differenziert - auch mit Erinnerungslücken - schlüssig und wiederum widerspruchsfrei zu den Fragen der Kammer Auskunft geben. Glaubwürdigkeit erfuhren beide Zeuginnen auch durch den Umstand, dass sie hier keine eigenen finanziellen Interessen verfolgten.

Beide Zeuginnen bestätigten, dass die Verstorbene nach dem Umzug der Klägerin nach Sittensen diese in erheblichem Umfang unterstützte. Dabei kaufte die Verstorbene für ihre Mutter regelmäßig z.B. Lebensmittel und Kleidung. Die Zeugin H. erklärte, die Verstorbene habe ihr erklärt, die Miete ihrer Mutter zu übernehmen. Angesichts einer Miete von 548,90 EUR passt dies zu den Angaben der Klägerin, ihre Tochter habe sie mit monatlichen Beträgen von ca. 500,00 EUR unterstützt. Mehrfach verwies die Zeugin H. in Bezug auf Unterstützungsleistungen zu Gunsten der eigenen Eltern auf die besonderen Gepflogenheiten in chinesischen Familien und bestätigte auch damit Ausführungen der Klägerin. Da die Zeugin hiernach nicht explizit gefragt worden war, erhält dieser Umstand besonderen Beweiswert. Beide Zeuginnen konnten auch die Ausführungen der Klägerin hinsichtlich der Umstände der Anschaffung und Finanzierung eines PKW bestätigen. Der Aussagen stimmten hier auch im Detail - bis hin zur Automarke - mit den Angaben der Klägerin überein.

Zwar könnte den vorstehenden Ausführungen entgegengehalten werden, dass beide Zeuginnen keine bzw. nur vage Auskünfte zu möglichen Unterhaltsleistungen der Verstorbenen an ihre Mutter vor deren Umzug nach Sittensen machen konnten. Da allerdings die wirtschaftliche Situation der Klägerin vor und nach dem Umzug unverändert geblieben war, ist es plausibel, dass die Tochter auch vor dem Umzug ihrer Mutter bereits entsprechende Unterstützungsleistungen erbracht hatte. Ein Grund, mit den ganz erheblichen Unterstützungsleistungen erst nach dem Umzug nach Sittensen zu beginnen, ist nicht ersichtlich. Ohnehin dürften die - nach Auffassung der Kammer als bewiesen anzusehenden - Unterhaltszahlungen der Verstorbenen in den Monaten Oktober 2006 (Umzug der Klägerin nach Sittensen) bis einschließlich Januar 2007 bereits ausreichen, um die Leistungsvoraussetzungen des § 69 SGB VII zu erfüllen.

Aus der Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheids ergibt sich auch die Verletzung der Klägerin in eigenen Rechten, § 54 Abs. 2 S. 1 SGG.

Nach alledem war dem Klageantrag vollumfänglich zu entsprechen. Der Beginn der Rentenzahlung ist der Todestag der Tochter der Klägerin, § 72 Abs. 2 Satz 1 SGB VII. Die Beklagte wird noch die Höhe der Rente nach Maßgabe der §§ 69 Abs. 4 Nr. 1, 70 und 82 SGB VII zu berechnen haben. Grundlage der Berechnung ist bei Selbstständigen der steuerrechtlich zu ermittelnde Gewinn aus der selbstständigen Tätigkeit (§ 15 Abs. 1 SGB IV, vgl. Schmitt in: SGB VII, 4. Aufl., § 82 Rn. 8).

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.