Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 12.12.2014, Az.: S 11 SB 95/13

Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) wegen einer Lesestörung

Bibliographie

Gericht
SG Braunschweig
Datum
12.12.2014
Aktenzeichen
S 11 SB 95/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 30323
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGBRAUN:2014:1212.S11SB95.13.0A

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).

Die am 20.12.1989 geborene Klägerin stellte mit einem Schreiben vom 24.09.2012, beim Beklagten eingegangen am 25.09.2012, einen Antrag auf Feststellung der Behinderung nach dem SGB IX. Sie trug vor, dass bei ihr wegen einer ausgeprägten Legasthenie/Dyslexie eine Schwerbehinderung mit einem Grad von mindestens 50 bestehe. Während ihres seit dem Sommersemester 2010 betriebenen Studiums der Humanmedizin seien die Störungen aufgrund der Erkrankung stark ausgeprägt.

Durch Bescheid vom 08.11.2012 stellt der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 30 ab dem 01.01.2010 wegen einer Lesestörung fest.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin mit Schreiben vom 20.11.2012 Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21.02.2013 als unbegründet zurückwies. Zur Begründung führte der Beklagte im Widerspruchsbescheid aus: Ein höherer GdB als 30 könne nicht anerkannt werden. Die Prüfung der beigezogenen Unterlagen habe ergeben, dass der GdB mit 30 zutreffend festgestellt worden sei. Bei der Bewertung des GdB seien die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit berücksichtigt worden. Weitere Funktionsbeeinträchtigungen mit Auswirkung auf die Höhe des Gesamt-GdB lägen nach versorgungsärztlicher Beurteilung bei der Klägerin nicht vor. Art und Umfang der Funktionsbeeinträchtigungen rechtfertigten keinen GdB von wenigstens 50.

Die Klägerin hat am 04.03.2013 Klage beim Sozialgericht Braunschweig erhoben, mit der sie die Feststellung eines GdB von mindestens 50 begehrt.

Zur Klagebegründung trägt sie im Wesentlichen vor: Bei ihr bestehe eine hochgradige Leseschwäche. Daher habe sie das Abitur 2009 mit einer ihrer intellektuellen Begabung nicht entsprechenden Durchschnittsnote von 3,3 bestanden. Sie sei infolge der Legasthenie in besonders schwerer Weise betroffen. Ein Ausgleich der Teilleistungsstörung habe bislang nicht stattgefunden. Im Rahmen ihres Medizinstudiums habe sie das Physikum wegen ihrer Behinderung erst im dritten Versuch bestanden. Es könne daher von einem drohenden Versagen im Studium gesprochen werden. Die Voraussetzungen für einen GdB von 50 lägen vor.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 08. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 2013 zu verurteilen, bei ihr einen GdB von mindestens 50 ab dem 25. September 2012 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verteidigt die angefochtenen Bescheide und verweist im Wesentlichen auf die Gründe des Widerspruchsbescheides. Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes einen Befundbericht des behandelnden Arztes der Klägerin eingeholt, auf dessen Inhalt verwiesen wird. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Schwerbehindertenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der Bescheid vom 08.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2013 verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Die Klägerin erfüllt nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen für einen GdB von mindestens 50. Vielmehr dürfte der vom Beklagten anerkannte GdB von 30 für die Lesestörung/Legasthenie die Klägerin rechtswidrig begünstigen.

Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden - hier das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie - das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest.

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft sind gem. § 69 Abs. 1 Satz 4, 5 SGB IX abgestuft als Grad der Behinderung in Zehnergraden von 20 bis 100 entsprechend den Maßstäben des § 30 Abs. 1 BVG in Verbindung mit der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festzustellen. Nach der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (Anlageband zum Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 57 vom 15. Dezember 2008, G 5702) "Versorgungsmedizinische Grundsätze (VG)", Teil A: Allgemeine Grundsätze, Abschnitt 2 d) sind die in der GdS-Tabelle (GdS = Grad der Schädigungsfolgen) aufgeführten Werte aus langer Erfahrung gewonnen und stellen altersunabhängige (auch trainingsunabhängige) Mittelwerte dar. Je nach Einzelfall kann von den Tabellenwerten mit einer die besonderen Gegebenheiten darstellenden Begründung abgewichen werden. Nach der Vorbemerkung zu der genannten Regelung wird einheitlich die Abkürzung GdS benutzt, wenn mit dem Grad der Behinderung und dem Grad der Schädigungsfolgen das Maß für die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gemeint ist.

Ausgehend von diesen Rechtsgrundlagen hat die Klage keinen Erfolg. Die angefochtenen Bescheide beschweren die Klägerin nicht. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mindestens 50. Es kann auch zur Überzeugung der Kammer nach den durchgeführten gerichtlichen Ermittlungen nicht festgestellt werden, dass die Voraussetzungen für einen GdB von mindestens 50 bei der Klägerin vorliegen.

Die Kammer bezieht sich zunächst auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Beklagten vom 19.02.2013 und 15.12.2013. Die Lesestörung der Klägerin ist nicht mit einem höheren GdB als 30 zu bewerten. Die Klägerin beruft sich zur Begründung ihrer Klage ohne Erfolg auf die Regelung in Teil B Nr. 3.4.2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG). Danach gilt u. a. für eine Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit im Schul- und Jugendalter in Form kognitiver Teilleistungsschwächen (z. B. Lese-Rechtschreib-Schwäche [Legasthenie], isolierte Rechenstörung) Folgendes: - leicht, ohne wesentliche Beeinträchtigung der Schulleistungen: GdS 0-10 - sonst - auch unter Berücksichtigung von Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen - bis zum Ausgleich: GdS 20-40 - bei besonders schwerer Ausprägung (selten): GdS 50. Wie aus der Überschrift zu der Regelung in Nr. 3.4.2 VG und aus der zum dazugehörigen Teil B Nr. 3.4 VG hervorgeht, bezieht sich die Vorschrift nur auf geistige Beeinträchtigungen im Schul- und Jugendalter. Bei Antragstellung im September 2012 war die Klägerin aber bereits 22 Jahre alt und damit nicht mehr im Schul- und Jugendalter. Das Jugendalter dürfte hier analog § 7 Abs. 1 Nr. 2 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) mit der Vollendung des achtzehnten Lebensjahres enden.

Damit kann die Klägerin schon aufgrund ihres Alters von dem persönlichen Geltungsbereich der Norm in Teil B Nr. 3.4.2 VG nicht erfasst sein. Die Regelungen in Teil B Nr. 3.4 VG können nach Überzeugung der Kammer auch nicht analog auf Erwachsene mit den gleichen geistigen Beeinträchtigungen angewandt werden. Insoweit fehlt es bereits an einer planwidrigen Regelungslücke durch den Verordnungsgeber. Offensichtlich hat der Verordnungsgeber sich in diesem Bereich bewusst für eine weitergehende Anerkennung von Behinderungen bei Kindern und Jugendlichen entschieden. Denn diese können wegen ihrer noch nicht abgeschlossenen Schulausbildung durch kognitive Beeinträchtigungen wie Legasthenie in besonderer Weise in der Teilhabe am Gesellschaftsleben betroffen sein. Damit fehlt es auch an einer vergleichbaren Interessenlage zwischen schulpflichtigen Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen, so dass eine analoge Anwendung der Norm aus diesem Grunde ebenfalls abzulehnen ist.

Selbst wenn man Teil B Nr. 3.4.2 VG entgegen den vorstehenden Ausführungen hier für entsprechend anwendbar hält, kann das der Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Insoweit kann nach dem vorliegenden Sachverhalt nur von kognitiven Teilleistungsschwächen mit leichter Beeinträchtigung der Schulleistungen ausgegangen werden, die mit einem GdB von 0-10 zu bewerten wären (vgl. auch zu einem Fall der Bewertung einer Legasthenie: Landessozialgericht -LSG- Bayern, Urteil v. 02.12.2008, L 15 SB 67/08, zitiert nach Rn. 28).

Eine wesentliche Beeinträchtigung der Schulleistungen kann nicht angenommen werden, da die Klägerin das Abitur bestanden und ein Studium aufgenommen hat. Eine wesentliche Beeinträchtigung der Schulleistungen dürfte z. B. eine ernsthafte Gefährdung der Versetzung in die nächste Klasse sein. Wenn trotz einer Legasthenie mit dem Abitur der höchste Schulabschluss erworben wird, ist eine solche wesentliche Beeinträchtigung der Schulleistung in keinem Fall gegeben. Im Übrigen hat der Beklagte in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 19.02.2013 zutreffend darauf verwiesen, dass nach der Versorgungs-Medizinverordnung der GdB grundsätzlich unabhängig vom ausgeübten oder angestrebten Beruf zu beurteilen ist (vgl. Teil A Nr. 2 b) der VG).

Daraus folgt, dass es für die Beurteilung des GdB ohne Bedeutung ist, ob und inwieweit der behinderte Mensch durch seine Behinderung eine bestimmte Berufsausbildung nicht bzw. nicht optimal absolvieren kann. Demnach kann die Forderung nach der Feststellung eines höheren GdB nicht damit gerechtfertigt werden, dass die Klägerin aufgrund der Lesestörung das Studium der Humanmedizin nur mit großen Mühen absolvieren könne. Nach alledem kann bei der Klägerin ein GdB von mindestens 50 nicht festgestellt werden. Vielmehr hätte nach Ansicht der Kammer für die Lesestörung ein GdB von unter 20 angesetzt und die Feststellung eines GdB mithin gem. § 69 Abs. 1 S. 6 SGB IX abgelehnt werden müssen. Somit ist die Klägerin durch die angefochtenen Bescheide nicht in ihren Rechten verletzt. Ein Gesamt-GdB von mindestens 50 liegt nicht vor. Die Klage war daher abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.