Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 29.05.2002, Az.: 1 A 61/97

Abschiebungshindernis; Asyl; Asylrecht; Aufenthaltsbefugnis; Auffangtatbestand; Ausländer; Ausreise; Dauerduldung; Ermessensreduzierung; freiwillige Ausreise; humanitärer Grund; Härteklausel; Kettenduldung; Pakistan; Regelversagungsgrund; Unzumutbarkeit

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
29.05.2002
Aktenzeichen
1 A 61/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 43860
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. § 30 Abs. 3 AuslG stellt einen Auffangtatbestand für Fälle dar, in denen eine Abschiebung aus humanitären Gründen ausscheidet und deshalb bereits langjährig "Kettenduldungen" erteilt wurden.

2. Das Ermessen in § 30 Abs. 3 AuslG ist in Übereinstimmung mit dem Erlass des Nds.MI v. 21.1.2002 zwecks Reduzierung von "Kettenduldungen" großzügig zu handhaben und bei Unzumutbarkeit einer Rückkehr und Bestehen von Duldungspflichten möglichst auszuschöpfen.

3. Vom Regelversagungsgrund des § 7 Abs. 2 Nr. 2 AuslG kann im Einzelfall abgesehen werden.

Tatbestand:

1

Die Kläger - pakistanische Staatsangehörige und Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft - erstreben Aufenthaltsgenehmigungen in Form der Aufenthaltsbefugnis (§ 30 AuslG).

2

Die Kläger zu 1) und 2) reisten mit ihren beiden Kindern D. (Kläger zu 4) und E. (Kläger zu 5), die wegen cerebraler Anfallsleiden und Hirnfehlbildungssyndromen körperlich und geistig schwer behindert sind, im Oktober 1988 ohne Visum in das Bundesgebiet ein und beantragten hier wegen ihrer Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glau-bensgemeinschaft und daraus ableitbaren Verfolgungsmaßnahmen (Anzeigen, Verhaftungen, Plünderung seines Geschäftes) die Gewährung von Asyl. Das wurde mit Bescheid v. 11. Januar 1989 (461-14337-88) abgelehnt. Hierauf forderte der Beklagte die Kläger zu 1) und 2) mit Bescheid vom 20. Januar 1989 unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise auf. Der gegen die Versagung von Asyl gerichteten Klage wurde zunächst stattgegeben (Urt. des VG Stade v. 25.7.1990 - 6 A 43/89 -); sie blieb aber, nachdem das Nds. Oberverwaltungsgericht noch die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG zuerkannt hatte (Urteil v. 11.8.1994 - 12 L 7307/91 -), letztlich doch erfolglos (Aufhebung und Zurückverweisung durch Urt. des Bundesverwaltungsgerichts v. 24.4.1995 - 9 C 414.94 - , abschlägiges Urt. des Nds. OVG - Einzelrichter - v. 27.11.1995 - 12 L 3699/95 - und Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht, Beschl. v. 27.3.1996 - 9 B 83.96 - ). Die Kläger zu 3), zu 6) und zu 7) wurden 1989, 1991 und 1994 in der Bundesrepublik geboren; für sie wurde bislang kein Asylverfahren durchgeführt.

3

Im August 1996 prüfte der Beklagte daraufhin, ob die Kläger zu 3) und 4) reisefähig seien, ihre Erkrankung akut lebensbedrohlich und ihr Verbleib im Bundesgebiet auf Dauer notwendig sei. Ohne aktuellen ärztlichen Befund beantwortete der Amtsarzt in F.. die aufgeworfenen Fragen mit Stellungnahme vom 15. August 1996 G. u.a. wie folgt:

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"1. Bei cerebralen Anfallsleiden besteht Reisefähigkeit, wenn zur Prophylaxe 1 Rectiole Diazepam 10 mg mitgeführt wird.

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2. Es handelt sich bei beiden Kindern um ein chron. Leiden. Mit einer Verbesserung des Gesundheitszustandes ist nicht zu rechnen.

6

Eine Behandlung bzw. Grundversorgung der Kinder wäre auch im Heimatland möglich. Die medizinische und pflegerische Versorgung der Kinder ist jedoch in der BRD um ein Vielfaches besser.

7

3. Da es sich um ein chron. Leiden handelt, besteht u.E. keine akute Lebensgefahr.

8

4. Ein Verbleib in der BRD auf Dauer wäre aus Gründen der besseren medizinisch-therapeutischen und pflegerischen Versorgung angezeigt."

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Mit Schreiben vom 24. September 1996 beantragten die Kläger die Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen. Das wurde durch Bescheid vom 30. September 1996 mit der Begründung abgelehnt, die Behinderung der beiden Kläger zu 4) und 5) stellten keinen Duldungsgrund iSv § 55 Abs. 2 AuslG dar, weil eine medizinisch-pflegerische Grundversorgung auch in Pakistan möglich sei. Im Übrigen ergebe sich auch aus § 32 AuslG kein Anspruch auf eine Aufenthaltsbefugnis, weil der Lebensunterhalt der beiden Kinder nicht sichergestellt sei. Die Klägerin zu 2) sei als Mutter mit der Betreuung der beiden Kindern überfordert, so dass diese in einem heilpädagogischen Heim versorgt werden müssten, was entsprechende Sozialhilfemittel von 202,20 DM pro Person und Tag erfordere. Auch unter Berücksichtigung eines Beitrages des Bruders des Klägers zu 1) von 700,- DM mtl. blieben die entstehenden Kosten ungedeckt. Selbst bei einer Rückkehr nur der behinderten Kinder nach Pakistan (und Ausscheiden der entstehenden Kosten) ergebe sich kein Aufenthaltsrecht für die Restfamilie, weil die Familie dann auseinandergerissen werde.

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Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hinsichtlich der Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen blieben 1996 erfolglos (Beschl. des VG Lüneburg v. 22.11.1996 - 2 B 81/96 - und des Nds. OVG v. 19.12.1996 - 12 M 6850/96 -), weil die Kläger zu 3) und 4) damals auf Kosten des Sozialhilfeträgers betreut wurden und die Voraussetzungen des § 32 AuslG damit nicht erfüllt zu sein schienen.

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Der Widerspruch der Kläger wurde durch den Widerspruchsbescheid vom 26. Febr. 1997 mit der Begründung zurückgewiesen, Asylgründe lägen nicht vor und eine Versorgung der behinderten Kinder ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfemitteln sei nicht erkennbar. Eine akute Lebensgefahr aber bestehe - entgegen den anders lautenden Stellungnahmen von Privatärzten - nach dem amtsärztlichen Gutachten v. 15. August 1996 für die beiden behinderten Kinder der Kläger in Pakistan nicht. Damit liege auch kein Abschiebungshindernis hinsichtlich dieser beiden Kinder vor.

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Wegen dieser Entscheidungen wandten sich die Kläger im Januar 1997 an den Petitionsausschuss des Nds. Landtages, der den Beklagten dazu aufforderte, weitere Ermittlungen durchzuführen, nachdem das Diakoniekrankenhaus H. mitgeteilt hatte, die "Abschiebung beider Kinder würde sicherlich ihren baldigen Tod bedeuten" (Schr. v. 28.1.1997). Mit Schreiben vom 21. Jan. 1997 nahm in ähnlicher Weise Dr. I., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie u. Psychotherapie, u.a. wie folgt Stellung:

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"Sollte auch nur eine dieser Maßnahmen entfallen, ist von einer lebensbedrohenden Gefährdung auszugehen. Wir dürfen aber auch davon ausgehen, daß diese notwendigen und umfassenden Maßnahmen in dem Heimatland Pakistan nie gewährleistet werden können, zumindest nicht in einem übersehbaren Zeitraum. Würde eine der erforderlichen Hilfen nicht gegeben sein, sind lebensbedrohliche Zustände zu erwarten."

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Im April 1997 wurde daher die Dt. Botschaft in Pakistan um Stellungnahme gebeten. Die Kläger erhielten seitdem Duldungen (vgl. u.a. Mitteilung des Beklagten v. 23.Febr. 2000).

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Zur Begründung ihrer am 27. März 1997 erhobenen Klage tragen die Kläger vor, die Kläger zu 4) und 5) seien wegen eines cerebralen Anfallsleidens und eines Hirnfehlbildungssyndroms körperlich und geistig schwer behindert und seit 1995 in einem heilpädagogischen Heim untergebracht. Im Falle der Abschiebung nach Pakistan seien die beiden Kinder aus gesundheitlichen Gründen existenziell gefährdet, was durch die zuständigen Ärzte im gen. Heim bestätigt werde. Lebensnotwendige Medikamente für die beiden Kinder seien in der pak. Kleinstadt Sialkot wie auch in deren Umgebung nicht verfügbar. Das gelte besonders auch deshalb, weil sie als Angehörige der Ahmadiyya-Glaubensgemein-schaft in Pakistan überall ausgegrenzt, ja verfolgt würden. Falls der Kläger zu 1) hier eine Arbeitserlaubnis erhalte, könnten die beiden Kinder auch in den Familienhaushalt wieder aufgenommen werden, da sie inzwischen dem Säuglingsalter entwachsen seien. Dann sei der Sozialhilfebedarf der Familie neu und anders zu berechnen. Im April 1999 wurden Vergleichsgespräche geführt, die u.a. dazu führten, dass dem Kläger zu 1) durch 6-mona-tige Duldungen und eine Bescheinigung für das Arbeitsamt die Arbeitsaufnahme erleichtert wurde; außerdem wurde eine Prüfung der wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Erfüllung der zu erwartenden Bleiberechtsregelung vereinbart. Die Kläger beantragen,

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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 30.09.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6.11.1998 zu verpflichten, den Klägern Aufenthaltsbefugnisse gemäß § 30 AuslG zu erteilen,

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

19

Er ist der Auffassung, jedenfalls grundsätzlich sei - bei allen Schwierigkeiten - eine ärztliche Versorgung und Unterbringung der beiden behinderten Kinder der Kläger auch in Pakistan möglich, u.zw. auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die gesamte Familie der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehöre, so dass die Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen nicht in Betracht komme.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet.

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Die Kläger haben Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis gemäß § 30 AuslG.

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1. Eine Erteilung der begehrten Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 1 und 2 AuslG scheidet aus, weil Abs. 1 dieser Vorschrift nicht für Ausländer gilt, die sich - wie die Kläger - bereits lange im Bundesgebiet aufhalten. Hinsichtlich des Abs. 2 der Vorschrift fehlt es an dem erforderlichen rechtmäßigen Aufenthalt.

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2. Da die Kläger bisher nicht ausgewiesen oder abgeschoben worden sind, die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 AuslG also nicht zum Zuge kommt, können sie jedoch eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG beanspruchen. Diese Vorschrift kann ebenso wie die anderen Absätze als Auffangvorschrift und allgemeine Härteklausel neben § 70 AsylVfG betrachtet werden (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 30 AuslG Rdn. 2), die u.a. dann eingreift, wenn Abschiebungshindernisse vorliegen und die Abschiebung (aus rechtlichen oder auch nur tatsächlichen Gründen) für einige Zeit - nicht nur vorübergehend - unmöglich ist. Dabei ist der gesetzlich bestehende Ermessenspielraum zwecks Reduzierung von "Dauerduldungen" "möglichst auszuschöpfen, insbesondere in den Fällen, in denen sich eine Rückkehrmöglichkeit weiterhin nicht abzeichnet" (so ganz ausdrücklich der Erlass des Nds.MI v. 21.1.2002 - 45.2-12230/ 1-1 , § 30).

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§ 30 Abs. 3 AuslG fungiert auch in den Fällen als Auffangvorschrift, in denen eine Ausreise zwar grundsätzlich möglich, im Hinblick auf Art. 6 GG und die EMRK jedoch lediglich unzumutbar ist (BVerwG, EZAR 21 Nr. 6 und EZAR 20 Nr. 8 und Nr. 10; vgl. Nds. OVG in InfAuslR 2001, S. 333; Renner, a.a.O., § 30 Rdn. 9; BVerwG, EZAR 021 Nr. 6; Erlass des Nds. MI v. 21.1.2002 / Pkt. 3 letzter Absatz). Solche Unzumutbarkeit liegt hier vor. In diesem Rahmen sind dann die Schwere zu erwartender Beeinträchtigungen für den Fall der Ausreise, die Art und Dauer der Abschiebungshindernisse sowie die Art der Duldungsgründe abwägend zu berücksichtigen. Dabei ist auch eine etwaige politische Verfolgung einzubeziehen (Renner, aaO., § 30 Rdn. 10). Soweit Regelversagungsgründe aus § 7 AuslG zum Zuge kommen sollten, ist im Rahmen des § 30 Abs. 3 AuslG bei entsprd. besonderen Umständen, zu denen vor allem - wie hier - humanitäre Gründe zählen, eine Erteilung in Betracht zu ziehen und dementsprechend "großzügiger" zu verfahren (Renner, aaO., § 7 Rdn. 27).

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Die Süssmuth-Kommission hat damit übereinstimmend unter Pkt. 1.9 ihres Berichtes folgendermaßen Stellung genommen:

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"Der Regelversagungsgrund des § 7 Abs. 2 Nr. 2 AuslG sollte im Anwendungsbereich von § 30 Abs. 3 und 4 AuslG spürbar gelockert werden. Die Kommission begrüßt die derzeit in Vorbereitung befindliche Ergänzung der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu § 30 Abs. 3 AuslG. Danach ist vorgesehen, dass die mangelnde Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne des § 7 Abs. 2 Nr. 2 bei Familien mit Kindern grundsätzlich kein Hindernis für eine Aufenthaltsbefugnis darstellt, wenn ergänzende Sozialhilfe bezogen wird und diese über einen potenziellen Kindergeldanspruch nicht hinaus geht.

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Die Kommission hält diese Modifikation jedoch für nicht ausreichend. Der Situation geduldeter Ausländer sollte - sowohl im Anwendungsbereich des § 30 Abs. 3 wie des Abs. 4 AuslG - durch eine stärkere Befreiung vom Regelversagungsgrund des § 7 Abs. 2 Nr. 2 AuslG Rechnung getragen werden. Dies betrifft vor allem Personen, die durch die derzeitigen Beschränkungen des Arbeitsgenehmigungsrechts gehindert sind, selbst ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Insofern sollten Befreiungsmöglichkeiten vom Regelversagungsgrund für geduldete Ausländer geprüft werden, die sich nachweislich und ernsthaft um Arbeit bemüht haben. Einbezogen werden sollten aber auch Personen, die nicht in der Lage sind, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und bei denen eine Befreiung vom Regelversagungsgrund des § 7 Abs. 2 Nr. 2 AuslG gerechtfertigt erscheint.

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Im vorliegenden Fall ist nach Auffassung der Kammer bei Abwägung aller Besonderheiten und der vorliegenden ärztlichen Berichte und Gutachten im Rahmen des § 30 Abs. 3 AuslG ausnahmsweise aus humanitären Gründen von Regelversagungsgründen des § 7 AuslG abzusehen und den Klägern eine Aufenthaltsbefugnis anstelle von "Ketten"-Duldungen zu erteilen.

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2.1 Die Kläger sind ohne Frage unanfechtbar ausreisepflichtig: Hierfür reicht es aus, dass sie kraft Gesetzes vollziehbar ausreisepflichtig iSv § 42 AuslG ist (VG Stuttgart, InfAuslR 1996, 423 [VG Stuttgart 07.10.1996 - 5 K 3183/95]). Hier kommt hinzu, dass die Kläger aufgrund des Bescheides v. 20.1.1989 - ab Rechtskraft des entsprd. Asylurteils - ausreisepflichtig sind und ihr Antrag v. 24.9.1996 wg. § 69 Abs. 2 Nr. 2 AuslG (sonstiger Verwaltungsakt) keine Fiktionswirkung mehr entfalten kann.

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2.2 Für einen Anspruch aus § 30 Abs. 3 AuslG kommt es auf die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 AuslG an, nämlich u.a. auf die Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen. Insoweit enthält § 30 Abs. 3 AuslG eine Rechtsgrundverweisung (Nds. OVG v. 19.4.1996 - 4 M 625/96 -, NVwZ-Beilage 1996, 87 m.w.N.; Nds. OVG v. 20.1.1997 - 4 M 7062/96 -, NVwZ-Beilage 1997, 28 = AuAS 1997, 154-155; Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, Bd. 1, Loseblattsammlung/Std. Juli 2001, § 30 Rdn. 107), deren Voraussetzungen hier gegeben sind, zumal es bei § 55 Abs. 2 AuslG nicht darauf ankommt, ob der Ausländer auch freiwillig ausreisen könnte (BVerwG, NVwZ 1998, 297 [BVerwG 25.09.1997 - BVerwG 1 C 3/97]). Im Übrigen ist es nach dem gen. Erlass des Nds.MI v. 21. Januar 2002 bei fortbestehenden Ausreisehindernissen (aller Art) so, dass dann,

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"wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen, ...diese Gründe regelmäßig auch einer freiwilligen Ausreise entgegen(stehen). Dies ist auch der Fall, wenn die Rückkehr unter Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation unzumutbar ist " - Pkt. 3 letzter Absatz d. Erl.

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Hierbei ist der Ermessenspielraum "grundsätzlich zugunsten der ausländischen Staatsangehörigen auszuschöpfen, um langjährige Duldungszeiten möglichst zu vermeiden" (Pkt. 3 vorletzter Abs. d. Erl.). Somit ist nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes (Renner, aaO., § 55 Rdn. 1 und 2 m.w.N.) und mit dem gen. Erlass davon auszugehen, dass schon bei Unzumutbarkeit einer Rückreise eine Rückkehrmöglichkeit für den betreffenden Ausländer nicht mehr angenommen werden kann. Seine Rückkehr ist damit im gesetzlich vorausgesetzten Sinne "unmöglich".

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Hier liegt es so, dass den Klägern eine Rückreise nach Pakistan nicht zugemutet werden kann und sie einen Rechtsanspruch auf Duldung aus § 55 Abs. 2 AuslG haben. Soweit es im Rahmen dieser Vorschrift auf Abschiebungsverbote und -hindernisse ankommt, ist zunächst festzustellen, dass in den gerichtlichen Verfahren zwar die Frage einer politischen Verfolgung (iSv Art. 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG) geprüft worden ist, nicht aber auch die Frage von Abschiebungshindernissen iSv § 53 AuslG. Denn das war nicht Streitgegenstand dieser Verfahren (Urt. des Nds. OVG v. 27.11.1995 - 12 L 3699/95 -, S. 12 u. S. 23 d. Urt-Abdr. / § 51 Abs. 1 AuslG). Deshalb steht die Rechtskraft der negativen Entscheidungen im Asylverfahren insoweit, als es um § 53 AuslG geht, auch nicht entgegen. Zu Recht ist deshalb auch im Widerspruchsbescheid v. 26.2.1997 noch die Frage geprüft worden, ob mit Blick auf die Behinderung der beiden Kläger zu 3) und zu 4) Abschiebungshindernisse vorliegen. Diese Frage ist - entgegen den angefochtenen Bescheiden - auf der Grundlage der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen zu bejahen (vgl. dazu unten). Unabhängig hiervon bestehen aber auch unter dem Blickwinkel der Art. 1, 2 und 6 GG im vorliegenden Fall weitergehende Duldungspflichten iSv § 55 Abs. 2 AuslG, so wie das von Renner (Ausländerrecht, 7. Auflage, § 55 Rdnr. 6) angenommen wird. Damit aber sind den Klägern zur Vermeidung langjähriger Duldungszeiten, welche nach dem gen. Erlass und der Gesetzeslage ausdrücklich vermieden werden sollen, die entsprechenden Aufenthaltsbefugnisse zu erteilen.

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Die Süssmuth-Kommission hat dazu unter Pkt. 1.9 ihres Berichtes ausgeführt:

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"Die zeitliche Beschränkung der Duldung auf ein Jahr liegt auch dem gesetzlichen Leitbild zugrunde (vgl. § 56 Abs. 2 S. 1 AuslG). Die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz (vgl. unter Nr. 56.2.1 AuslG-VwV) formulieren es noch deutlicher: "Die Duldungsfrist ist auf den Zeitraum zu beschränken, der für die Erfüllung des Duldungszwecks unbedingt erforderlich ist. Die Höchstdauer von einem Jahr darf nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen überschritten werden."

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Mit Blick auf diese gesetzlich angelegte Kurzfristigkeit von Duldungen einerseits und die Funktion des § 30 Abs. 3 AuslG als Auffangtatbestand andererseits sowie die im allgemeinen restriktive Auslegung der §§ 51, 53 AuslG sind weitergehende Duldungspflichten des Beklagten anzuerkennen, die sich hier auf die Art. 1 und 2 GG und humanitäre Grundsätze gründen. Nachdem die beiden schwer behinderten Kinder inzwischen über viele Jahre in einem Heim betreut worden sind und dort Sozialbeziehungen geknüpft werden konnten (vgl. den Entwicklungsbericht des Heilpädag. Heimes J. v. 2.4.1997), erscheint es als ein Gebot der Menschlichkeit, die in Pakistan drohenden Versorgungsengpässe, Risiken und Lebensgefährdungen von den schwerstbehinderten Kindern fern zu halten und ihnen die Umgebung zu erhalten, die sie in dem Heim hier gefunden haben. Das gilt auch angesichts des Grundrechts auf eine freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) der beiden Kinder. Deren Ausstrahlungen und daraus ableitbare Pflichten führen zu einem Rechtsanspruch auf Duldung iSv § 55 Abs. 2 und damit - zur Vermeidung langjähriger Duldungen - über Art. 6 GG zu einem Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen für die klägerische Familie. Somit liegen die Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen vor. Denn diese kommen gem. § 30 Abs. 3 AuslG

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"vorrangig dann in Betracht, wenn die Abschiebung ... aus rechtlichen Gründen auf einen längeren Zeitraum gesehen unmöglich erscheint. Denn mit Hilfe einer Duldung kann die Abschiebung nur zeitweise ausgesetzt werden...; auch kommt ihr nicht die Funktion .... eines vorbereitenden oder ersatzweise gewährten Aufenthaltsrechts zu" (OVG Bautzen, InfAuslR 2000, 76/77).

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Ein Abschiebungshindernis ergibt sich hier für die Kläger zu 3) und 4) und damit - gem. Art. 6 GG - für die gesamte Familie aus § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG. Nach den ärztlichen Attesten vom 21. und 28.1.1997 (K. und Diakoniekrankenhaus L.) liegt es so, dass die beiden Kinder der Kläger zu 1) und 2) durch eine Rückkehr nach Pakistan einer erheblichen, ja sogar existenziellen Bedrohung ausgesetzt würden, die u.U. auch ihren Tod herbeiführen könnte. Einem solchen, ggf. sich auch erst später realisierenden Risiko können die beiden Kinder nicht ausgesetzt werden. Die Stellungnahme der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Islamabad vom 1. Dezember 2000 nebst ärztlicher Auskunft vom 30. November 2000 steht dieser Risikoeinschätzung nicht entgegen: Danach gibt es in "ganz Pakistan" nur zwei - private - Organisationen, welche die behinderten Kinder der Kläger überhaupt (ausnahmsweise, da normalerweise nur Kinder unter 12 Jahren betreut werden) gegen Bezahlung aufnehmen könnten. Abgesehen davon, dass die Zustände in diesen beiden Heimen nach Auskunft der Frau M., die diesbezüglich mit der pakistanischen Ärztin gesprochen und das von ihr so erfahren haben will, "verheerend" und ca. auf einem vergleichbaren Stand wie 1950 in der Bundesrepublik sein sollen (Protokoll der mündl. Verhandlung v. 29.5.2002), ist die Betreuung durch Dr. N., der sich dazu bereit erklärt hat, jedoch ausdrücklich auf den Zeitraum nur eines Jahres begrenzt worden. Auch die unterzeichnende Ärztin grenzt durch Bezugnahme u.a. auf Pkt. B) ihres Schreibens ihre Bereitschaft, sich um die medizinische Versorgung zu bemühen, auf den genannten Zeitraum ein. Für die Zeit danach sollen die Eltern "auf ihre spätere Aufgabe" vorbereitet werden, wobei die Zugehörigkeit der Kläger zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft formell akzeptiert wurde. Insoweit ist jedoch bedeutsam, dass die beiden Heime von "fundamentalistischen Moslems geführt" sein sollen (Stellungnahme der Frau O. v. 12.1.01), was religiös motivierte Ausgrenzungen und Behinderungen vermuten lassen könnte (vgl. Lagebericht Ausw. Amt v. 2.1.2002, II 1 b). Mit Blick auf die unzureichenden finanziellen Möglichkeiten der Kläger dürfte eine langfristige Betreuung der schwerstbehinderten Kinder in den Heimen ohnehin ausscheiden. Dieses Gesamtkonzept einer auf 1 Jahr begrenzten Betreuung ist nach Auffassung der Kammer nicht geeignet, nach dem Krankheitsbild absehbare Risiken schon im unmittelbaren Anschluss an eine Rückkehr nach Pakistan und deutlicher noch für die Zeit nach Ablauf eines Jahres und nach Überführung der behinderten Kinder in die Familie der Kläger auszuscheiden oder nur zu minimieren.

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Die amtärztliche Stellungnahme vom August 1996 steht dazu nicht im Widerspruch, sondern ist so zu verstehen, dass bei den Kindern die Art der - chronischen - Erkrankung für sich genommen (nach seiner Einschätzung / "u.E.") noch nicht auf eine "akute Lebensbedrohung" hinweist (Pkt 3 der Stellungnahme), auch eine Reisefähigkeit medikamentös hergestellt werden kann (Pkt 1 der Stellungnahme), dass aber ein Verbleib in der Bundesrepublik - trotz der grds. möglichen Versorgung in Pakistan - nach Lage der Dinge doch "angezeigt" erscheint (Pkt. 4 der Stellungnahme). Damit ist auch der Amtsarzt der Auffassung, dass die beiden stark behinderten Kinder der Kläger in Deutschland bleiben sollten. Bei Würdigung seiner Stellungnahme ist also davon auszugehen, dass sich der Amtsarzt mit den Gefährdungen und den Bedingungen eines Überlebens in Pakistan im einzelnen nicht befasst hat, diese Gefährdungen also nicht zum Maßstab seiner Stellungnahme gemacht hat, sich aber doch aufgrund einer mehr pauschalen Betrachtung der von ihm angenommen Versorgungslage in Pakistan für einen "Verbleib" der beiden Kinder hier in der Bundesrepublik ausgesprochen hat, u.zw. weil die Versorgung hier um ein "Vielfaches" besser sei. Die konkrete Gefährdung in der Heimatstadt der Kläger - Gebiet Chawinda / Landkreis Sialkot - unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Versorgung und vor allem die aus der Religionszugehörigkeit - der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft - zusätzlich ableitbaren Ausgrenzungen und Bedrohungen der Kläger (vgl. Ausw. Amt v. 2.1.02, II 1 b) und die erst hieraus resultierende weitere Gefährdung z.B. wegen Ausbleibens von Medikamenten pp. hat der Amtsarzt ersichtlich nicht in seine Erwägungen aufgenommen. Bei einer auch diese Umstände einbeziehenden Würdigung der amtsärztlichen Stellungnahme ist ein Verbleib der beiden Kinder nicht nur "angezeigt", sondern vielmehr dringend geboten. Die übrigen ärztlichen Stellungnahmen unterstreichen das mit den Hinweisen auf Krampfanfälle und die naheliegende Möglichkeit eines Erstickungstodes sehr deutlich (Diakoniekrankenhaus P. v. 28.1.1997). Sämtliche ärztliche Stellungnahmen zusammen ergeben somit das Bild, dass den Klägern nach der Art ihrer Erkrankung in Pakistan konkret und individuell ganz erhebliche, u.U. existentielle Gefahren drohen. Ihnen steht dort nämlich offenbar nicht die - lebenserhaltende und -notwendige - Versorgung zur Verfügung, die hier in der Bundesrepublik um ein "Vielfaches" besser und gesicherter vorhanden ist.

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Unter diesen Umständen gehört es nicht mehr zu den Obliegenheiten der Kläger, eine Rückkehr nach Pakistan tatsächlich zu versuchen - mit dem Risiko, dass die beiden Kinder dort nicht angemessen versorgt werden können und ihnen gesundheitliche Schäden, u.U. ein Erstickungstod droht. Denn solche Versuche sind den Klägern nicht abzuverlangen, vielmehr unzumutbar (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.2. 2001 - BVerwG 1 C 23.00 - ). Ist den Klägern ein Verlassen der Bundesrepublik Deutschland aber insgesamt nicht zumutbar, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (BVerfG, InfAuslR 2002, 171/173 m.w.N.).

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Diese tatsächlichen wie rechtlichen Hindernisse für eine freiwillige Ausreise bzw. Abschiebung haben die Kläger auch nicht etwa zu vertreten: Es ist ihnen nicht zuzurechnen, dass die beiden Kinder in diesem Maße krank sind und die Verhältnisse in Pakistan eine angemessene medizinische Betreuung und Versorgung der beiden Kinder nicht zulassen.

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Da der Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen an die Kläger hier mithin ausnahmsweise keine Regelversagungsgründe - vor allem nicht der Grund des § 7 Abs. 2 Nr. 2 AuslG - entgegenstehen, die Kläger bereits seit vielen Jahren immer wieder Duldungen erhalten haben und dieser Zustand aller Voraussicht nach noch fortbestehen wird, was u.a. dem Sinn des Gesetzes und dem des gen. Erlasses des Nds.MI v. 21.2.2002 - Reduktion von Dauerduldungen - eindeutig widerspricht, ist nach Auffassung der Kammer unter Berücksichtigung aller Gesamtumstände eine sog. Ermessensreduzierung auf Null festzustellen - mit der Folge, dass die Kläger einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis gem. § 30 Abs. 3 AuslG haben.

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3. Im Übrigen haben die Kläger auch aus § 30 Abs. 4 AuslG einen Anspruch auf Erteilung der erstrebten Aufenthaltsbefugnis. Diese Vorschrift gibt einen entsprd. Anspruch in Fällen, in denen der seit mind. 2 Jahren ausreisepflichtige Ausländer mit einer Duldung im Bundesgebiet lebt und seine Abschiebung lange Zeit erfolglos geblieben ist - aus welchen Gründen auch immer . Im vorliegenden Fall fehlt es dabei auch nicht an der Voraussetzung, dass ein unanfechtbarer Verwaltungsakt und nicht nur eine Ausreisepflicht aufgrund des Gesetzes (§ 42 Abs. 1 AuslG) gegeben sein muss. Die Ausreisepflicht soll eindeutig - mittels eines entsprd. Verwaltungsaktes - feststehen (BVerwG, InfAuslR 2001, 350 / 352).

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Die Kläger sind aufgrund des Bescheides des Beklagten vom 20. Jan. 1989, mit dem sie zur Ausreise aufgefordert und ihnen auch die Abschiebung angedroht worden ist, ausreisepflichtig, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 30 Abs. 4 AuslG gegeben sind. Eine Ermessensausübung auf der Rechtsfolgeseite kommt damit auch nach dieser Vorschrift in Betracht. Dabei ist dem Sinngehalt der Vorschrift Rechnung zu tragen, demgemäß ja doch "gut integrierten Ausländerinnen und Ausländern die selbst geschaffenen Ausreisehindernisse nicht dauerhaft vorgehalten werden" (so Erlass des Nds.MI v. 21.1.2002, Pkt. 4), vielmehr "Dauerduldungen" reduziert werden sollen (Pkt. 1 Abs. 2 des gen. Erlasses). Zumutbare Anforderungen an die Beseitigung der Abschiebungshindernisse, die ihren Grund in medizinischen Gegebenheiten haben, sind den Klägern - s.o. - nicht mehr abzuverlangen, so dass auch nach § 30 Abs. 4 AuslG Aufenthaltsbefugnisse zu erteilen sind.