Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 22.05.2002, Az.: 1 A 204/99
Ahmadiyya; Ahmadiyya-Gemeinschaft; Asyl; Asylberechtigung; beachtliche Wahrscheinlichkeit; Folter; Gruppenverfolgung; mittelbare Verfolgung; Pakistan; politisches Asyl; Priester; Verfolgungsfurcht; Vorverfolgung; Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 22.05.2002
- Aktenzeichen
- 1 A 204/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 43706
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 16a Abs 1 GG
- § 4 AsylVfG
- § 31 Abs 3 S 2 AsylVfG
- § 51 Abs 1 AuslG
Tatbestand:
Der am 21. August 1952 in Lahore geborene Kläger, pakistanischer Staatsangehöriger, reiste im März 1998 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 12. März 1998 seine Anerkennung als Asylberechtigter mit der Begründung, er sei Angehöriger der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft, habe 7 Jahre lang die Missionarsschule in Rabwah besucht, 1977 das Abitur abgelegt und sei dann als Ahmadi-Missionar tätig gewesen. Als solcher sei er dann 1991 aufgrund von § 298 des pak. StGB der Verfolgung und Foltermaßnahmen ausgesetzt gewesen. Nach Zahlung einer Kaution sei er aus der Haft entlassen worden. Das gegen ihn geführte Strafverfahren, in dem er Atteste vorgelegt und ihn sein Anwalt vertreten habe, in dem auch mehrere Termine anberaumt worden seien, sei nach wie vor anhängig. Bei der Anhörung durch das Bundesamt am 2. Juni 1998 ergänzte und vertiefte er sein Vorbringen u.a. dahin, dass seine Ehefrau 1995 und er dann - er habe sich in dieser Zeit stets verstecken müssen - 1998 per Flugzeug nach Deutschland geflohen sei. Er sei nach den Folterungen in Pakistan mehrfach ärztlich behandelt worden und im Rollstuhl nach Deutschland gekommen, was nur durch die Hilfe seiner Verwandten und Bekannten möglich geworden sei.
Durch Bescheid vom 17. Juni 1999 - zugestellt per Einwurfeinschreiben am 24. Juni 1999 - wurde sein Asylantrag abgelehnt und festgestellt, daß Abschiebungsverbote (§ 51 Abs. 1 AuslG) oder -hindernisse (§ 53 AuslG) nicht vorliegen. Zugleich erging eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung für Pakistan bzw. für einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist.
Zur Begründung seiner dagegen gerichteten, am 6. Juli 1999 erhobenen Klage bezieht sich der Kläger auf seinen bisherigen Vortrag, den er unter Vorlage von Dokumenten erläutert und um Ausführungen zu seiner Verfolgung als Ahmadi-Missionar in Pakistan ergänzt. Der Kläger beantragt,
den Kläger unter Aufhebung des Bescheides vom 17. Juni 1999 als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Pakistan vorliegen bzw. Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG gegeben sind.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den Bescheid vom 17. Juni 1999.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die vorgelegten Verwaltungsvorgänge, dort insbesondere den Asylantrag und die Anhörung beim Bundesamt, sowie die Gerichtsakten Bezug genommen. Die genannten Vorgänge und die vom Gericht in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse zur Lage in Pakistan waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Denn der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter (unten 1) und damit zugleich auch einen solchen auf die Feststellung, daß hinsichtlich seiner Person das Abschiebungsverbot des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegt (unten 2).
1. Der Kläger hat aus Art. 16 a Abs. 1 des Grundgesetzes einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter, weil er politisch verfolgt ist im Sinne dieses verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechts.
Für die Frage, ob einem Asylbewerber nach Art und Schwere staatliche oder dem Staat zuzurechnende (mittelbare) Verfolgung in asylrelevanter Form mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit gedroht hat bzw. droht, ist maßgeblich, ob ihm bei lebensnaher und verständiger Würdigung der gesamten Entwicklung und Umstände in seinem Heimatland zuzumuten ist, dort zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Hierbei ist - im Sinne einer „qualifizierenden“ Betrachtung - eine Gewichtung und Abwägung aller asylrelevanten Umstände einschließlich ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob angesichts der Lage im Heimatstaat bei einem vernünftig und besonnen wertenden Menschen, der sich in die Lage des Asylsuchenden versetzt, begründete Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn auf der Grundlage einer nur quantitativen (mehr mathematischen) Betrachtung weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgungsfurcht spricht, aber qualitativ wichtige Ereignisse bei zusammenfassender Wertung ein großes Gewicht besitzen und behalten, die deshalb gegenüber den dagegen sprechenden - nur zahlenmäßig ins Gewicht fallenden - Umständen überwiegen. Entscheidend ist letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit, wobei keine unumstößliche Gewißheit verlangt werden kann, sondern es ausreicht, wenn Zweifeln Schweigen geboten wird - auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, DVBl. 1985, 956; BVerwG, DVBl. 1991, 1o89 / 1o92; OVG Lüneburg, Urt. v. 25.1.1996 - 12 L 3695/95 -, m.w.N.). Ist der Asylbewerber bereits einmal Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen, so kann ihm asylrechtlicher Schutz grundsätzlich nur noch dann verwehrt werden, wenn eine Wiederholung solcher Maßnahmen realistischerweise mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann (BVerwGE 70, 169; herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab).
Bei zusammenfassender Wertung und Würdigung der hier maßgeblichen (asylrelevanten) Umstände besteht eine derartige beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung des Klägers.
Eine solche läßt sich allerdings nicht schon daraus herleiten, daß der Kläger als Mitglied der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft etwa einer Gruppenverfolgung ausgesetzt war oder werden könnte. Denn nach allen der Kammer zugänglichen Erkenntnissen liegt es so, dass zwar Angehörige dieser Glaubensgemeinschaft in Pakistan immer wieder erhebliche Nachteile und Übergriffe hinzunehmen haben, aber dass die Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung letztlich nicht vorliegen (VGH Baden-Württ., Beschl. v. 24. Nov. 2000 - A 6 S 672/99 - ; ebenso BVerwG, Urt. v. 25.1.1995 - 9 C 279.94 - ; BVerwG, NVwZ 1994, 4oo; Hess.VGH, Urt. v. 3o.1.1995 - 10 UE 2626/92 - ;OVG Rheinland-Pfalz, InfAuslR 1995, 211 [BVerfG 19.12.1994 - 2 BvR 1426/91]; OVG Lüneburg, Urt. v. 25.1.1996 - 12 L 3695/95 - ; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 30.1.1996 - 6 A 13364/95 - ; VG Köln, Urt. v. 2.9.1997 - 2 K 4692/97.A - ;OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 4.11.1997 - 6 A 12234/96.OVG - ).
Das gilt auch angesichts der Islamisierung des Rechtslebens in Pakistan unter der Regierung des ehemaligen Premierministers Nawaz Sharif auf der Grundlage der Shariah-Ordinance vom Mai 1991. Zwar ist dieses Gesetz als markanter, bisher nicht revidierter Schritt im Zuge der islamisch-orthodoxen Entwicklung und Ausrichtung Pakistans zu werten, jedoch ist die Regierung mit diesem Gesetz damals noch zugleich (bewußt) hinter dem Entwurf der Islamisten zurückgeblieben und hat damit Interesse daran gezeigt, einer weiteren religiösen Radikalisierung entgegenzuwirken. Allerdings ist derzeit - auch unter der neuen Regierung des Generals Pervez Musharraf - nicht zu verkennen, dass die Ahmadis durch eine speziell gegen sie gerichtete Gesetzgebung in Pakistan „als Abtrünnige“ nach wie vor „diskriminiert“ werden (so Lagebericht des Ausw. Amtes v. 2.1.2002) und sie - wie früher auch - im Alltagsleben immer wieder erheblichen Benachteiligungen und Übergriffen ausgesetzt sind. Das ergibt sich aus der allgemeinen Anwendung des pakistanischen Strafgesetzbuches und speziell des Anti-Terror-Gesetzes des Jahres 1997, aus einer Entscheidung des Bundes-Shariah-Gerichtes vom Herbst 1990, in der festgestellt wurde, dass als Sanktion von Verstößen gegen § 295 c PPC allein die Todesstrafe in Betracht komme, aus dem ernst zu nehmenden Druck, der von extremistischen Religionsgruppen zu Lasten der Ahmadis immer wieder auf Richter ausgeübt wird (vgl. II 1 c des Lageberichts des Ausw. Amtes v. 16.1.1998), sowie - last not least - aus dem allgemein feindlichen Klima, das gegen die Ahmadis auch durch Staatsorgane geschürt worden ist (vgl. die Rede des Premierministers Nawaz Sharif vom 17.8.1997 in Islamabad anläßlich des 9. Todestages des Präsidenten Zia ul Haq). In diesem Klima wird die ohnehin weitgehend korrupte Polizei (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 2.1.2002 und I 1 des Lageberichts des Ausw. Amtes v. 16.1.1998) nachhaltig zu einseitig-parteilichem Verhalten ermutigt, etwa zum Verzögern gebotener Amtshandlungen bzw. zur Untätigkeit bei Ausschreitungen gegen Ahmadis, zum strafrechtlichen Vorgehen gegen Opfer statt Störer, zum Legen falscher Spuren und Schaffen von Vorwänden zwecks Verwüstung von Kirchen und Häusern (vgl. NZZ v. 9.5.1998), zu grundlosen Verhaftungen (am 9.5.1997 in Lahore, vgl. „Ahmadi-Muslim-Jamaat“ Nr. 3 v. Dez. 1997), ggf. zu Folterungen mit der Folge „death in custody“ (I 4 des Lageberichts des Ausw. Amtes v. 16.1.1998) oder dem schlichten „Verschwindenlassen“ (Lagebericht, AA v. 2.1.2002, S. 13), so wie das alles schon einmal Ende der 80er-Jahre der Fall war (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, InfAuslR 1995, 211 [BVerfG 19.12.1994 - 2 BvR 1426/91] m. zahlr. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigten, dass Pakistan nicht Unterzeichnerstaat des Intern. Paktes über bürgerl. und politische Rechte und des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe ist. Das Abkommen über die Rechte der Frau ist von Pakistan unter dem Vorbehalt des Vorrangs islamischen Rechts unterzeichnet und damit zugleich „weitgehend entwertet“ worden (Lagebericht des AA v. 2.1.2002). Im Lagebericht des Ausw. Amtes v. 12.5.1997 heißt es demgemäß u.a.:
„Defizite beim Schutz der Menschenrechte gibt es neben der Strafverfolgung, wo es zusätzlich zu den vorgenannten extralegalen Tötungen den Vorwurf von Folter und Mißbrauch durch die Polizei gibt, im Bereich des Strafverfahrens und des Strafvollzugs. Problematischster Bereich ist nach wie vor der Schutz der Rechte der religiösen Minderheiten, hier vor allem der Ahmadis.“
Daran hat sich nichts geändert, wie der Lagebericht des Ausw. Amtes v. 2.1.2002 zeigt:
„Auch 2000 und 2001 wurden Ahmadis Opfer strafrechtlicher Verfolgung (in mindestens 15 Fällen Anklage wegen religiöser Delikte) und gewalttätiger Übergriffe. Im Punjab wurden am 30.10. und 10.11.2000 insgesamt 10 Ahmadis bei Feuerüberfällen auf Ahmadi-Moscheen von religiösen Extremisten getötet.“
An der Gesamteinschätzung, daß auch unter Berücksichtigung dieser Umstände jedenfalls eine Gruppenverfolgung der Ahmadis derzeit nicht vorliege, ändern jedoch auch die jüngsten Vorfälle (noch) nichts. Zwar hat es diskriminierende Maßnahmen pakistanischer Behörden und auch der pakistanischen Justiz (in Art und Form der Strafverfolgung, vgl. Lagebericht AA v. 2.1.2002: „bizarre Ergebnisse“) sowie Über- und Angriffe seitens orthodoxer Moslems mit Unterstützung durch Tageszeitungen gegeben (vgl. etwa die Veröffentlichungen der „Ahmadiyya-Muslim-Jamaat“ Nr. 2 und Nr. 3/97 sowie die Ausführungen des Journalisten J. F. Engelmann vom März 1998 unter Bezug auf Artikel in verschiedenen Tageszeitungen), die allesamt dem deutschen Rechtsstandard hinsichtlich einer freien Religionsausübung ganz eindeutig nicht genügen. Aber diese in das allgemeine Leben in Pakistan einzubettenden Vorfälle zeigen lediglich, dass sich die allgemeine Sicherheitslage der Menschen in Pakistan - nicht nur der Ahmadis, sondern eben auch anderer Gruppen - nicht verändert hat und noch auf demselben Niveau fortbesteht, auf dem diese Lage nun schon seit einiger Zeit verharrt. Es ist insgesamt eher eine ganz allgemeine Tendenz zu einem „religiös motivierten Terrorismus“ feststellbar (II 3 des Lageberichts des Ausw. Amtes v. 16.1.1998), der sich jedoch nicht speziell gegen Ahmadis richtet. Eine Intensivierung oder sich markant häufende Steigerung von Über- und Angriffen auf Ahmadis ist durch die jüngsten Ereignisse nicht festzustellen. Eine höhere „Verfolgungsdichte“ (vgl. S. 18 f. des Urteils d. OVG Lüneburg v. 25.1.1996) gerade gegenüber Ahmadis, die diskriminiert werden, ist nicht ersichtlich.
Unterliegen die Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft somit z.Z. grundsätzlich weder einer unmittelbaren noch einer mittelbaren Gruppenverfolgung (VGH Baden-Württ., Beschl. v. 24.11.2000 - A 6 S. 672/99), so kommt es für das vorliegende Verfahren entscheidend darauf an, ob der Kläger als vorverfolgte oder als bis zur Ausreise politisch noch nicht verfolgte Person sein Heimatland verlassen hat. Denn dass ein bereits einmal (persönlich) verfolgter Ahmadi bei seiner Rückkehr nach Pakistan nicht mehr in die Gefahr der Einleitung eines Strafverfahrens oder von Übergriffen und Überfällen fundamentalistisch-orthodoxer Moslems geraten könnte, ist bei lebensnaher Betrachtung und Wertung aller Umstände unwahrscheinlich, jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen (herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, vgl. BVerfGE 54, 341 f / 361.; BVerfGE 80, 315 f / 345; BVerwGE 70, 169). Dabei ist das Verhalten orthodoxer Moslems dem pakistanischen Staat als mittelbare staatliche Verfolgung zuzurechnen, da eine nur verbal versicherte Schutzbereitschaft des Staates, an der es im übrigen fehlt, nicht ausreicht (OVG Rheinland-Pfalz, InfAuslR 1995, 211 [BVerfG 19.12.1994 - 2 BvR 1426/91]; HessVGH, Urt. v. 15.3.1995 - 1o UE 1o2/94 -).
Der Kläger ist nach seinem Vortrag - beim Bundesamt wie auch bei der Kammer - als Vorverfolgter aus Pakistan ausgereist, so dass er als Asylberechtigter anzuerkennen ist.
Das Gericht hält seine Angaben zu seiner Verfolgung einschließlich gravierender Folterungen aufgrund der Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 22. Mai 2002 und dem dabei vermittelten Eindruck für glaubhaft. Der Kläger - in Pakistan Ahmadi-Priester - hat in der mündlichen Verhandlung nochmals die Umstände und Einzelheiten seiner Verfolgung, nämlich des Vorwurfs, er habe die Moslem-Konferenz v. 18.10.1991 sabotieren wollen, und auch seiner körperlichen Misshandlungen (Fesselung und Auspeitschung mit Lederpeitschen), Schläge von Inhaftierten und von Polizisten, im einzelnen dargelegt. Die Angaben wirkten auf dem Hintergrund der 7-jährigen Ausbildung zum Missionar und der Tätigkeit des Klägers als (ehem.) Ahmadi-Priester in vollem Umfange glaubhaft und nachvollziehbar, was zur Folge hat, dass angesichts des gesamten Klimas in Pakistan, das von extremistischen religiösen Gruppierungen und orthodoxen Mullahs gegen Ahmadis verbreitet wird, auch seine Angaben zu den falschen Beschuldigungen und Vorwänden seiner Verhaftung, die überhaupt zu dem Verfahren gem. § 298 c pak.StGB geführt hat, glaubhaft erscheinen. Sämtliche Angaben werden unterstrichen durch die Stellungnahme des Städt. Klinikums Braunschweig v. 8. April 1998, aus der hervorgeht, dass der Kläger im Bereich des rechten Unterschenkels noch erkennbare Folterspuren trägt (narbige Veränderungen), denen mehrfach mit plastischen Deckungen (Hautübertragungen von anderen Körperpartien) noch in Pakistan begegnet worden war, so wie das der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vom 22. Mai 2002 dargestellt hat. Die vorgebrachten „Probleme mit der Blutzirkulation“ in der mündlichen Verhandlung erscheinen demgemäß nachvollziehbar. In Deutschland sind dann noch zwei Zehen amputiert worden, außerdem ist eine Aorta-Operation durchgeführt worden. Nach der Stellungnahme des Allg. Krankenhauses Harburg v. 27. Juni 2001 befindet sich der Kläger immer noch in einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung. Gestützt wird das alles durch die Mitteilung des Ausw. Amtes v. 15. März 2000, derzufolge die Verfahrensakte des Klägers in Chiniot eingesehen und dabei festgestellt wurde, dass der vorgelegte - aktuelle - Haftbefehl (vgl. Bl. 31 der GA) echt ist und das Verfahren, basierend auf der Anzeige v. 18.10.1991 der Polizeistation R, gegen den Kläger „immer noch vor dem o.g. Gericht anhängig„ sei (Bl. 30 GA).
Es ist somit davon auszugehen, dass die Bemerkung im Haftbefehl, der „Sache soll Nachdruck verliehen werden“, zutrifft und das Verfahren gegen den Kläger nach wie vor betrieben werden soll - mit Nachdruck. Damit erhält dann auch Gewicht, dass der Kläger zum 28. Jan. 2000 gerichtlich geladen worden ist (Bl. 29 der GA) und er - da er nicht erschienen war - offenbar zur Fahndung ausgeschrieben worden ist. Soweit im angefochtenen Bescheid in diesem Zusammenhang davon die Rede ist, dass „an einer Verurteilung des Antragstellers kein ernsthaftes Interesse mehr“ bestehe (S. 4 unten des angef. Bescheides), vermag das unter diesen Umständen nicht zu überzeugen. Dabei wird offenbar die ausdauernde, religiös gespeiste und sehr fanatische Verfolgung herausgehobener Ahmadis in Pakistan völlig unterschätzt. Auch wird die Funktion eines (nur vorgeschobenen) „Strafverfahrens“ als einer Verfolgungsmaßnahme nicht erkannt: Strafverfahren werden gegen Ahmadis - häufig von islamistischen Gruppen (wie der Khatm-e-Nabu-wwat) - mit dem Ziel in Gang gebracht, sie staatlichen Strafen auszusetzen und sie so als Staatsbürger auszugrenzen und zu zerstören. Dabei wird im Bescheid zudem übersehen, dass - nach dem Lagebericht des Ausw. Amtes v. 2.1.2002, S. 8 - bei Verfahren gem. § 298 c pak.StGB „immer“ auch die Gefahr besteht, „dass ein gegen Ahmadis gerichtetes Verfahren um den Vorwurf der Blasphemie nach § 295 c PPC erweitert wird. Für Blasphemie ist die Todesstrafe zwingend vorgesehen, die allerdings häufig in der Berufungsinstanz unter Abänderung des Strafvorwurfs (z.B. Verunglimpfung des Korans) in lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt wird.“
Bei dieser Lage der Dinge kann auf die Verhältnisse in Pakistan nicht einfach nur eine deutsche oder mitteleuropäische Erfahrungswelt angewandt werden, sondern es sind die gezielten, mit Schädigungsabsicht ergriffenen (unstreitigen) Diskriminierungen, Behinderungen und Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Ahmadis, wie sie seit langem bekannt sind, zu erkennen und einzubeziehen, die z.B. damit beginnen, dass es den Ahmadis untersagt ist, Floskeln wie „so Gott will“ oder „Friede mit Dir/Euch“ zu benutzen, da so der Eindruck erweckt werde, sie seien, was die Islamisten bestreiten, rechtmäßige Moslems (so Lagebericht des AA v. 2.1.2002). Auch ist zu berücksichtigen, dass die Gerichtsverfahren in Blasphemie-Fällen keinesfalls fair sind, weil radikale Muslime die Richter regelmäßig mit dem Tode bedrohen, wenn sie die Angeklagten nicht schuldig sprechen: „Vergeblich hoffen die bedrängten Richter auf Schutz durch die Behörden, um die Unparteilichkeit der Justiz zu garantieren“ (Pressebericht der Gesellsch. f. bedrohte Völker v. 18.3.2002). So ist 1998 ein Richter am Obersten Gericht in Lahore ermordet worden, weil er ein Blasphemie-Urteil einer unteren Instanz aufgehoben hatte (Pressebericht, aaO.).
Bei diesen Gegebenheiten kann nicht davon gesprochen werden, dass die Verfolgung des Klägers in Pakistan etwa schon beendet und abgeschlossen sei. Der Haftbefehl aus dem Jahre 1999 und das aufrecht erhaltene Strafverfahren - mit der Gefahr einer Ausweitung auf den Blasphemie-Vorwurf (s.o.) - belegen das Gegenteil. Die anhaltenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers unterstreichen das. Dabei kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass er nicht schon - wie seine Ehefrau - 1995 geflohen ist, sondern erst 1998: Er war gesundheitlich nicht in der Lage, zusammen mit seiner Ehefrau nach Deutschland zu fliehen und konnte das auch 1998 nur in einem Rollstuhl.
Schließlich ist mit Blick auf die Angaben des Klägers einzubeziehen, dass Folterungen als „fester Bestandteil der Polizeirealität“ gelten (so Lagebericht v. 16.1.1998 I 4) - bis hin zum Tod im Polizeigewahrsam („death in custody“). Auch die Beteiligung höherer Polizisten an Straftaten ist in Pakistan bekannt. Angesichts des allgemeinen politischen Klimas der Islamisierung, das von Medien und fundamentalistischen Mullahs erzeugt wird (vgl. dazu Stellungnahme von ai v. 8.9.1997 an VG Wiesbaden), erscheinen die Schilderungen des Klägers auf dem Hintergrund der dargestellten Polizeipraxis in höchstem Maße glaubhaft. Da im Rahmen des Art. 16 a Abs. 1 GG keine unumstößliche Gewißheit, sondern lediglich eine - im Sinne einer qualifizierenden Betrachtung - beachtliche Wahrscheinlichkeit gefordert ist, die hier gegeben ist, reicht es aus, wenn Zweifeln im Lichte des Art. 16 a Abs. 1 GG vernünftigerweise Schweigen geboten wird. Das ist hier der Fall.
Dass es sich bei den vom Kläger geschilderten Übergriffen und Folterungen um solche handelt, die als staatlich geduldete, ja z.T. sogar erwünschte, jedenfalls unbeanstandet und tatenlos hingenommene Maßnahmen zu qualifizieren sind, die sich gegen eine religiöse Minderheit - die Ahmadis - richten und die damit als mittelbare Staatsverfolgung im Sinne der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, InfAuslR 1995, 211 [BVerfG 19.12.1994 - 2 BvR 1426/91]) zu werten sind, braucht unter diesen Umständen nicht mehr betont zu werden. Denn nach den vorliegenden Erkenntnissen (vgl. Lagebericht des AA v. 2.1.2002, NZZ v. 16.9.1995, Die Zeit v. 27.1o.1995, Lagebericht des Ausw. Amtes v. 16.1.1998, Stellungn. von ai v. 8.9.1997) ist ein deutlicher Mangel an Bereitschaft des pakistanischen Staates zu konstatieren, religiöse Minderheiten in einem Land mit 97 % Moslems noch durch strikt rechtsstaatliches, ein die Gleichheit aller vor dem Gesetz betonendes Handeln zu schützen. Die staatlichen Organe wie auch die Justiz versäumen es im Angesicht des „religiös motivierten Terrorismus“ (Die Zeit v. 27.1o.1995, Lagebericht, aaO.), sich konsequent für Rechtsstaatlichkeit und Rechtsschutz auf allen Ebenen zu engagieren, was naturgemäß zu Lasten religiöser Minderheiten geht.
Aufgrund dieses insgesamt glaubhaften Vortrags ist davon auszugehen, dass der Kläger - nach seinen negativen Erfahrungen - Pakistan aus begründeter Furcht vor einer mittelbaren, nämlich dem pakistanischen Staat zuzurechnenden Verfolgung durch fundamentalistische Mullahs und die Polizei verlassen und im Ausland Schutz gesucht hat (vgl. BVerfG, NVwZ 1991, 768). Dass diese Ausreise mit Hilfe eines Schleppers erfolgt ist (S: 4 der Anhörung v. 2.6.1998), erscheint nicht unglaubwürdig und stimmt mit den Angaben anderer Asylantragsteller überein.
Das Gericht hält auch die Angaben des Klägers zu seiner Einreise auf dem Luftwege für glaubhaft, entspricht sie doch bei Asylbewerbern aus Pakistan der Regel. Damit liegen Anhaltspunkte für ein Eingreifen der sog. „Drittstaatenregelung“ (Art. 16 a Abs. 2 GG) nicht vor - gleichgültig, ob und ggf. welche Folgen diese Regelung für den Kläger angesichts von Art. 16 a Abs. 1 GG einschließlich seines unveränderlichen Grundbestandes an asylrechtlichem Schutz überhaupt haben könnte (vgl. Kanein-Renner, Ausländerrecht, 6. Aufl. 1993, Art. 16 a GG Rdn. 93 ff.).
Demgemäß ist der Kläger durch einen entsprechenden - feststellenden - Bescheid des zuständigen Bundesamtes mit den Wirkungen der §§ 2 und 4 AsylVfG als Asylberechtigter anzuerkennen.
2. Unter diesen Umständen liegen auch die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG für ein Abschiebungsverbot vor (§ 51 Abs. 2 Nr. 1 AuslG). Denn eine politische Verfolgung des Klägers ist bei zusammenfassender Würdigung aller Gesichtspunkte und Umstände auch im Falle seiner Rückkehr nach Pakistan beachtlich wahrscheinlich. Das gilt besonders unter Berücksichtigung der vorgelegten (echten) Dokumente über die Fortführung des gegen den Kläger gerichteten Strafverfahrens.
Eine Entscheidung über Abschiebungshindernisse (§ 53 AuslG) ist bei dieser Lage der Dinge entbehrlich (§ 31 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 und 2 AsylVfG analog).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.