Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 29.05.2002, Az.: 1 A 189/00
Aufenthaltsbefugnis; Duldung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 29.05.2002
- Aktenzeichen
- 1 A 189/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 41867
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 30 Abs 3 AuslG
- § 55 Abs 2 AuslG
Tenor:
Die Kläger haben Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen gemäß § 30 AuslG.
Gründe
1. Eine Erteilung der begehrten Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 1 und 2 AuslG scheidet aus, weil Abs. 1 dieser Vorschrift nicht für Ausländer gilt, die sich - wie der Kläger zu 2) - bereits lange im Bundesgebiet aufhalten. Hinsichtlich des Abs. 2 der Vorschrift fehlt es an dem erforderlichen rechtmäßigen Aufenthalt.
2. Da der Kläger zu 2) und mit ihm seine Tochter bisher nicht ausgewiesen oder abgeschoben worden sind, die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 AuslG also nicht zum Zuge kommt, können die Kläger jedoch eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG beanspruchen. Diese Vorschrift kann ebenso wie die anderen Absätze als allgemeine Härteklausel neben § 70 AsylVfG betrachtet werden (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 30 AuslG Rdn. 2), die u.a. dann eingreift, wenn Abschiebungshindernisse vorliegen und die Abschiebung (aus rechtlichen oder auch nur tatsächlichen Gründen) für einige Zeit - nicht nur vorübergehend - unmöglich ist. Dabei ist der gesetzlich bestehende Ermessenspielraum zwecks Reduzierung von "Dauerduldungen" "möglichst auszuschöpfen, insbesondere in den Fällen, in denen sich eine Rückkehrmöglichkeit weiterhin nicht abzeichnet" (so ganz ausdrücklich der Erlass des Nds.MI v. 21.1.2002 - 45.2-12230/ 1-1 , § 30). An einer derartigen "Abzeichnung" fehlt es hier.
2.1 Die Kläger sind ohne Frage unanfechtbar ausreisepflichtig: Hierfür reicht es aus, dass sie kraft Gesetzes vollziehbar ausreisepflichtig iSv § 42 AuslG sind (VG Stuttgart, InfAuslR 1996, 423 [VG Stuttgart 07.10.1996 - 5 K 3183/95]). Hier kommt hinzu, dass der Kläger zu 2) aufgrund des Bescheides v. 14.3.1991 - nach Rechtskraft des Asylurteils - ausreisepflichtig ist und sein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis wg. § 69 Abs. 2 Nr. 2 AuslG (sonstiger Verwaltungsakt) keine Fiktionswirkung mehr entfalten kann. Er ist lediglich - auch nach der eigenen Einschätzung des Beklagten - wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung nach Vietnam über viele Jahre aufgrund von sog. "Kettenduldungen" geduldet worden.
2.2 Für einen Anspruch aus § 30 Abs. 3 AuslG kommt es auf die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 AuslG an, nämlich u.a. auf die Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen. Insoweit enthält § 30 Abs. 3 AuslG eine Rechtsgrundverweisung (Nds. OVG v. 19.4.1996 - 4 M 625/96 -, NVwZ-Beilage 1996, 87 m.w.N.; Nds. OVG v. 20.1.1997 - 4 M 7062/96 -, NVwZ-Beilage 1997, 28 = AuAS 1997, 154-155; Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, Bd. 1, Loseblattsammlung/Std. Juli 2001, § 30 Rdn. 107), deren Voraussetzungen hier gegeben sind, zumal es bei § 55 Abs. 2 AuslG gar nicht darauf ankommt, ob der Ausländer auch - worauf der Beklagte abzustellen versucht - freiwillig ausreisen könnte (BVerwG, NVwZ 1998, 297 [BVerwG 25.09.1997 - BVerwG 1 C 3/97]). Im Übrigen ist es nach dem gen. Erlass des Nds.MI v. 21. Januar 2002 so, dass dann,
"wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen, ...diese Gründe regelmäßig auch einer freiwilligen Ausreise entgegen(stehen). Dies ist auch der Fall, wenn die Rückkehr unter Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation unzumutbar ist " - Pkt. 3 letzter Absatz d. Erl.
Hierbei ist der Ermessenspielraum "grundsätzlich zugunsten der ausländischen Staatsangehörigen auszuschöpfen, um langjährige Duldungszeiten möglichst zu vermeiden" (Pkt. 3 vorletzter Abs. d. Erl.). Damit ist im Gegensatz zu den angefochtenen Bescheiden v. 20.1. und 29.2.2000, denen zufolge die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis "zwingend" ausgeschlossen sei, solange (noch) eine freiwillige Ausreise möglich sei, mit dem gen. Erlass und dem Sinn des Ausländergesetzes (§§ 55 und 30 AuslG, vgl. Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 55 Rdnr. 1 und 2 m.w.N.) vielmehr davon auszugehen, dass schon bei Vorliegen entsprechender Gründe oder aber bei Unzumutbarkeit einer Rückkehr eine tatsächlich gegebene Rückkehrmöglichkeit für den betreffenden Ausländer nicht mehr angenommen werden kann. Seine Rückkehr ist damit im vorausgesetzten Sinne unmöglich. Denn liegen die Dinge so, dass die Ausreisepflicht "erst zu einem völlig ungewissen Zeitpunkt durchgesetzt werden" kann, dann "ist eine AufBef. nach § 30 III in Betracht zu ziehen" (Renner, aaO.) und ggf. zu erteilen.
Nachdem der Kläger zu 2) im Zusammenhang mit seiner Heirat schon keine Ausweisverlängerung von der vietnamesischen Botschaft hat erhalten können (Bl 194 der VerwV.), ist davon auszugehen, dass aus tatsächlichen Gründen - dem Verweigern seitens der vietnamesischen Behörden bzw. dem Fehlen von Ausweispapieren - sowohl eine Ausreise wie auch eine Abschiebung derzeit unmöglich sind. Davon ist der Beklagte im Jahre 1994 selbst unter dem Gesichtspunkt des § 2 Abs. 1 Nr. 2 AsylbLG ohne jede Einschränkung ausgegangen, wenn er vermerkt hat, der Kläger zu 2) erhalte eine Duldung, weil seiner "freiwilligen Ausreise oder ... Abschiebung Hindernisse entgegenstehen, die (er) nicht selbst zu vertreten" habe (Bl. 126 der VerwVorgg.). Davon ist angesichts der Gesamtumstände unverändert auch heute noch auszugehen. Somit liegen die Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltsbefugnisse vor. Denn diese kommen gem. § 30 Abs. 3 AuslG
"vorrangig dann in Betracht, wenn die Abschiebung ... aus rechtlichen Gründen auf einen längeren Zeitraum gesehen unmöglich erscheint. Denn mit Hilfe einer Duldung kann die Abschiebung nur zeitweise ausgesetzt werden...; auch kommt ihr nicht die Funktion .... eines vorbereitenden oder ersatzweise gewährten Aufenthaltsrechts zu" (OVG Bautzen, InfAuslR 2000, 76/77).
2.2.1 Es fehlt hier an der Aufnahmebereitschaft des vietnamesischen Staates, so dass eine Ausreise des Klägers zu 2) wie auch der Klägerin zu 1) insgesamt nicht möglich ist. Nach Auffassung des BMI v. 30.9. 1997 (Az. A 2b - 125 610 VIE / 1) fallen auch vietnamesische Staatsangehörige, die freiwillig nach Vietnam zurückkehren wollen, in den Anwendungsbereich des mit Vietnam geschlossenen Rückübernahmeabkommens, "sofern sie nicht im Besitz von gültigen Heimreisedokumenten (einschließlich Heimreisevisum) sind". In Art. 1 dieses Abkommens ist ein Übernahmeermessen festgelegt, dem sich ein mehrstufiges Verfahren nebst Überprüfung der einschlägigen Unterlagen anschließt (Art. 2 ff. des Protokolls). Von ca. 20.000 an das vietnamesische Innenministerium weitergeleiteten Anträgen auf Rückübernahme sollen so über 5000 zurückgegeben worden sein (Stand 1997, Sitzung der Arbeitsgemeinschaft "Rückführung" am 29./30. Juli 1997 in Düsseldorf). Nach Auskunft der Grenzschutzdirektion Koblenz sind verschiedene Rückführungsanträge (u.a. in der Sache 1 A 135/97) von der vietnamesischen Seite "ohne Einzelfallbegründung" und lediglich mit allgemeinen Ausführungen abgelehnt worden.
Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge stellt jedoch der vietnamesische Staat auch außerhalb des gen. Abkommens die erforderlichen Reisedokumente (u.a. Heimreisevisum) nicht aus, u.zw. vor allem dann nicht, wenn klar wird, dass der Antragsteller früher als Vertragsarbeitnehmer in der CSFR, in Bulgarien, Ungarn usw. tätig war. In diesen Fällen verneint die jeweilige vietnames. Botschaft ihre "Zuständigkeit". Dabei schützt der vietnamesische Staat nach den Informationen der Kammer auch einmal vor, der Name oder das Geburtsdatum des zurückzuführenden vietnamesischen Staatsbürgers seien nicht korrekt angegeben, oder aber er benennt die Gründe seiner Weigerung erst gar nicht im einzelnen (s.o.). Es mag sein, dass die vietnames. Regierung so "den Einfluß westlicher Werte über die RückkehrerInnen unter Kontrolle halten" will (so TAZ v. 22.9. 1998). Auch für eine Rückführung durch die Intern. Organization for Migration - IOM - werden Pässe und Rückreisevisa benötigt, bei deren Beantragung IOM lt. Schreiben vom 21.4.1997 nicht behilflich sein könne. Hier hat die vietnamesische Botschaft sowohl die Ausstellung eines neuen Passes abgelehnt (Bl. 180 der VerwV.) als aber auch die Verlängerung des Reisepasses des Klägers zu 2) (Bl. 194 der VerwV.). Bei dieser Gesamtlage ist weder eine freiwillige Rückkehr im Rahmen des Rückübernahmeabkommens noch aber eine solche außerhalb dieses Abkommens - mangels Visum bzw. Genehmigung der vietnamesischen Seite - tatsächlich möglich (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 7.2.1994, InfAuslR 1994, 236). Von dieser Unmöglichkeit einer Rückkehr nach Vietnam ist auch der Beklagte selbst über viele Jahre ausgegangen (vgl. Bl. 126 VerwVorgg. und die erteilten Duldungen). Die Weigerung Vietnams ist belegt durch die nachhaltigen Bemühungen des Beklagten in einer Reihe von Fällen, die gerichtsbekannt sind und die nicht zu einem Rückführungserfolg geführt haben (vgl. dazu auch VG Stuttgart, InfAuslR 1996, 423/424).
2.2.2 Dabei kommt hier, was von erheblichem Gewicht ist, noch hinzu, dass der Kläger zu 2) nach der vom LKA Niedersachsen übermittelten sogn. "N-Liste" v. 16.1.2002 zu eben jenem Personenkreis gehört, der seitens des Heimatlandes Vietnam zur Rücknahme ausdrücklich abgelehnt worden ist (lfd. Nr. 33947, Listen-Nr. 647/42). Die im Jahre 2002 zu erwartenden Verhandlungen mit einer vietnamesischen Delegation aus Hanoi sind als derzeit völlig offen einzuschätzen und ihr Ausgang keineswegs klar. Damit ist deutlich belegt, dass eine freiwillige Ausreise wie auch eine Abschiebung nach Vietnam an der Haltung dieses Staates gegenüber dem Kläger zu 2) scheitert und damit im Sinne des Gesetzes tatsächlich unmöglich ist.
2.2.3 Diese Unmöglichkeit ergibt sich im vorliegenden Fall aber auch deutlich daraus, dass die Klägerin zu 1) offenbar nicht nur die vietnamesische Staatsangehörigkeit besitzt, sondern auch die polnische (Doppelstaatigkeit). Damit dürfte es für den Kläger zu 2) unzumutbar und damit auch unmöglich sein, mit seiner auch die polnische Staatsangehörigkeit besitzenden Tochter nach Vietnam zurückzukehren - falls das überhaupt noch irgendwie möglich wäre (s.o.). Denn der vietnamesische Staat dürfte dem Kläger zu 2) die Einreise mit einer Tochter, die eine doppelte und nicht nur die vietnamesische Staatsangehörigkeit besitzt, von vorneherein verweigern. - Eine Abschiebung nach Polen aber dürfte bei den Klägern daran scheitern, dass dem Kläger zu 2) kein polnischer Pass ausgestellt werden wird.
2.2.4 Unter diesen Umständen gehört es nicht mehr zu den Obliegenheiten des Klägers, eine Einreise nach Vietnam tatsächlich zu versuchen. Denn solche Versuche sind dann nicht mehr zumutbar, wenn sie von vorneherein aussichtslos sind (BVerwG, Urt. v. 15.2. 2001 - BVerwG 1 C 23.00 - ). So liegt es jedoch angesichts der Gesamtumstände hier, wie der Vermerk des Beklagten v. 25.5.1994 zu § 2 Abs. 1 Nr. 2 AsylbLG (Bl. 126 VerwVorgg.) zeigt, wie die Doppelstaatigkeit der Tochter des Klägers, wie die im Juni 1996 fruchtlos gestellten Anträge auf Rückübernahme des Klägers und wie letztlich die sog. "N-Liste" aufzeigen. Diese Liste hat schon für sich genommen in einer Reihe von Fällen die Unmöglichkeit einer Rückführung nach Vietnam nachhaltig belegt (vgl. dazu Urteile der Kammer v. 20.2.02 - 1 A 141/98, 1 A 144/98, 1 A 137/97, 1 A 377/99).
2.2.5 Diese tatsächlichen wie rechtlichen Hindernisse für eine freiwillige Ausreise bzw. Abschiebung hat der Kläger auch nicht etwa zu vertreten: Es ist gerichtsbekannt, dass vom vietnamesischen Staat Heimreisepapiere an "Renegaten" nicht ausgegeben werden, dieser Staat die Rückreise solcher Personen nicht wünscht bzw. behindert, was angesichts der "N-Liste", in der auch der Kläger zu 2) eingetragen ist, plausibel erscheint. Art und Umfang einer - freiwilligen - Mithilfe des Klägers haben dabei letztlich dann kein Gewicht, da die Grenzschutzdirektion Koblenz die Angaben in allen Rückübernahmeanträgen selbständig ohnehin noch in die Form des Selbstangabe-Vordrucks umsetzt (so Antwort des Staatssekretärs Schapper auf Frage 13 der Kl. Anfrage gem. Presseinformation des Nds. MI v. 5.8.1997), um eine Bearbeitung durch die vietnamesische Seite überhaupt sicher zu stellen. Alle diese Hindernisse hat der Kläger nicht zu vertreten, da sie objektiver Art sind
Die konkrete Möglichkeit der Rückführung/Abschiebung der Kläger ist damit z.Z. und für absehbare Zeit nicht gegeben - wenngleich es immer noch nicht ausgeschlossen zu sein scheint, dass der Zielstaat Vietnam sich (ohne rechtliche Verpflichtung) zu einer Aufnahme entschließt, was dann ausreichte (Renner, Ausländerrecht, Komm. 7. Aufl. 2000, § 55 Rdn. 8). Derzeit jedenfalls gibt es dafür angesichts der Doppelstaatigkeit der Klägerin zu 1) aber keinerlei Anzeichen, so dass eine entsprechende Prognose (vgl. Renner, aaO.) negativ ausgeht und damit zu Gunsten der Kläger ausschlägt.