Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 11.10.2006, Az.: 1 B 43/06
Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zum Wiederaufgreifen des Asylverfahrens; Maßgeblicher Zeitpunkt der Veränderung tatsächlicher Grundlagen bzw. der Erkenntnisfortschritte hinsichtlich des synergetischen Zusammenspiels exilpolitischer Betätigungen und Bedrohungsreaktionen; Abweisbarkeit des Wiederaufgreifens eines Asylverfahrens; Berücksichtigung selbstgeschaffener Nachfluchtgründe; Bedrohung durch staatliche Maßnahmen
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 11.10.2006
- Aktenzeichen
- 1 B 43/06
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 32749
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGLUENE:2006:1011.1B43.06.0A
Rechtsgrundlagen
- Art. 19 Abs. 4 GG
- § 123 VwGO
- § 28 Abs. 2 AsylVfG
- § 71 Abs. 1 AsylVfG
- § 48 VwVfG
- § 51 Abs. 1 Nr. 1 - 3 VwVfG
- § 51 Abs. 2 VwVfG
- § 51 Abs. 3 VwVfG
- § 60 Abs. 1 AufenthG
Fundstelle
- InfAuslR 2007, 41-44 (Volltext mit red. LS)
Gründe
Die 1979 geborene Antragsteller vietnamesischer Staatsangehörigkeit kam im Jahre 2000 nach Deutschland und stellte einen Asylantrag, der nach der Anhörung vom 18. April 2000 durch Bescheid des Bundesamtes vom 28. April 2000 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde; zugleich wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote oder -hindernisse i.S.d. §§ 51 und 53 AuslG nicht vorliegen. Ihm wurde die Abschiebung für den Fall angedroht, dass er nicht fristgerecht freiwillig ausreise.
Im Juli 2006 stellte er einen Asylfolgeantrag, der mit einer Änderung der Rechtslage (Richtlinie 2004/83/EG und Zuwanderungsgesetz vom 30.7.2004) und der vietnamesischen Verhältnisse sowie mit zahlreichen exilpolitischen Aktivitäten der letzten Jahre begründet wurde. Er verwies darauf, dass das Verfolgungs- und Bestrafungsrisiko in Vietnam bei einer Gesamtschau der Verhältnisse hoch sei, da es eine drastische Verfolgungspraxis einschließlich menschenrechtswidriger Folterungen (Art. 3 EMRK) gegen Oppositionelle bzw. gegen solche Menschen gäbe, die dafür vom Staat gehalten würden. In Vietnam gehe es willkürlich zu und werde ein Gesinnungsstrafrecht praktiziert.
Der Antrag wurde ohne Anhörung des Antragstellers durch den angefochtenen Bescheid vom 22. August 2006 - am 22. August 2006 als Einschreiben zur Post gegeben - abgelehnt. Zugleich wurde der Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 28. April 2000 bezüglich der Feststellung zu Abschiebungsverboten und -hindernissen abgelehnt. Eine erneute Ausreiseaufforderung nebst Abschiebungsandrohung erging mit Rücksicht auf die Vollziehbarkeit der früheren Abschiebungsandrohung und die Änderung des § 71 Abs. 5 AsylVfG (Streichung der 2-Jahresfrist) nicht.
Am 6. August 2006 hat der Antragsteller um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit der Begründung nachgesucht, die Verweigerung eines Folgeantragsverfahrens sei unberechtigt, wie die Ausführungen und Beweismittel im Klageverfahren deutlich zeigten.
Der zulässige Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat im vorliegenden Fall vor allem im Hinblick auf Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v. 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560) - GFK - Erfolg (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG, Art. 13 der Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 / Amtsblatt der EG v. 30.9.2004, L 304/12).
1.
Der Antrag, Eilrechtsschutz zu gewähren, weil erst noch ein Asylfolgeverfahren (1 A 193/06) durchzuführen sei, ist bei der vorliegenden Fallgestaltung der zutreffende Antrag, da eine Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung nicht mehr - wie noch nach der alten Rechslage - ergangen ist. In diesem Fall gebietet es Art. 19 Abs. 4 GG i.V.m. § 123 VwGO, das Eintreten vollendeter Tatsachen jedenfalls dann zu unterbinden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der behördlichen Maßnahmen bestehen (VG Stuttgart, Urt. v. 12.6.2003 - A 4 K 11624/03 -; VGH Mannheim, NVwZ-Beilage I 2001, S. 8). Derartige Zweifel liegen hier vor.
2.
Gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG ist ein weiteres Asylverfahren dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Das ist der Fall, wenn sich die Sach- und Rechtslage nachträglich (entscheidungserheblich) zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), wenn neue Beweismittel vorliegen (Nr. 2) oder wenn Wiederaufnahmegründe entsprd. § 580 ZPO gegeben sind (Nr. 3 a.a.O..).
Im Übrigen ist bei nicht durchgreifenden Gründen iSv § 51 Abs. 1 VwVfG stets noch ein Wiederaufgreifen im Ermessenswege gem. §§ 51 Abs. 5, 48 f. VwVfG zu prüfen (BVerwGE 111, 77), u.zw. insbesondere hinsichtlich des Vorliegens von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Bei hinreichend schwerwiegenden Gründen ist die Verwaltungsbehörde zum Wiederaufgreifen iSe Ermessenreduzierung verpflichtet (Kopp/ Ramsauer, VwVfG-Kommentar, 8. Aufl. § 51 Rdn. 24 m.w.N.).
Hiervon ausgehend erweist sich der angefochtene Bescheid als mit erheblichen Zweifeln behaftet.
3.
Das Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG ist gestuft: Voraussetzung ist lediglich ein glaubhafter und substantiierter Vortrag, aus dem sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ergeben können muss (stdg. Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte; vgl. auch BVerfG DVBl. 2000, 1048 f.). Hiervon ist zutreffend auch die Antragsgegnerin ausgegangen (S. 3 des angef. Bescheides).
3.1
Der Antragsteller hat unstreitig neue, sich nach dem Bescheid vom 28.4.2000 ereignete Rechtsänderungen und Sachänderungen einschließlich eines schärferen Umgangs des vietnamesischen Staates mit Minderheiten/ "Abweichlern" - sogar deren Folter - vorgetragen. Daneben hat er auf seine exilpolitischen Betätigungen zugunsten von Freiheitsrechten verwiesen, die ebenso wenig schon Gegenstand des gen. Bescheides sein konnten wie die vorgetragenen asyl- und flüchtlingsrelevanten Änderungen der Sach- und Rechtslage aus den Jahren 2005/2006, die in hohem Maße entscheidungsrelevant sind. Dieser gesamte Vortrag erscheint keineswegs ungeeignet, das Erstbegehren in einem anderen Lichte erscheinen zu lassen und so den erforderlichen "Anstoss" zu einem Folgeverfahren zu geben. Das genügt den Anforderungen an ein substantiiertes Vorbringen neuer Umstände. Die rechtliche Einordnung und Bewertung - auch anhand der veränderten, neuen Rechtslage - hat erst im Folgeverfahren zu erfolgen, da der gesamte Vortrag keineswegs der Relevanz für flüchtlingsrechtliche Entscheidungen entbehrt (vgl. dazu die Beilage zum Asylmagazin 6/2006 m.w.N.).
Nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise - auch der des Gutachters Dr. Will (vgl. Gutachten v. 11.2. 2003 / VIE 24133002) beispielsweise - ist nämlich der Vortrag hier nicht von vornehereinungeeignet, zu einem Abschiebungsverbot iSv § 60 Abs. 1 AufenthG zu verhelfen. Vgl. insoweit auch die Rechtsprechung der Kammer (z.B. Urteil v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 -). Das gilt vor allem aber im Hinblick auf die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/ EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EG v. 30.9.2004, L 304/12), die seit dem 11. Oktober 2006 - nach Ablauf der Umsetzungsfrist - nunmehr uneingeschränkt zu Gunsten des Antragstellers anzuwenden ist (Art. 38 der Richtlinie). Eine Änderung der Rechtslage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liegt damit ohne jeden Zweifel schon unter diesem Gesichtspunkt vor - abgesehen davon, dass sich auch der Kerngehalt des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG geändert hat (Urteil der Kammer v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 - m.w.N. und mit Stellungnahme zum Urteil des Nds. OVG v. 16.6.2006 - 9 LB 104/06 -).
Auch stellt die im angefochtenen Bescheid vertretene Auffassung einen unzutreffenden Ausgangspunkt dar, aus dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1.1.2005 ergebe sich keine neue Bewertung: Das Gegenteil ist der Fall. § 60 Abs. 1 AufenthG hat das Verhältnis zur Asylanerkennung (Art. 16 a GG) tiefgreifend verändert (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, 1. Teil Kap. 5 III 3, § 60 AufenthG, Rdn. 12). Denn mit § 60 Abs. 1 AufenthG hat sich unter dem Eindruck der Richtlinie 2004/ 83/EG v. 30.9. 2004 - L 304/12 - ein Perspektivwechsel zu einer prognostischen Opferbetrachtung vollzogen (vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - m.w.N.; Urteile der Kammer v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 - und v. 7.9. 2005 - 1 A 240/02 -). Vgl. dazu auch Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, 1. Teil Kap. 5 III 3, § 60 AufenthG Rdn. 13.
3.2
Außerdem ist eine Handlungseinheit wie der hier vorgetragene Dauersachverhalt der "exilpolitischen Betätigung" mit Auswirkungen auf die politisch motivierte Reaktionsweise vietnamesischer Behörden nicht ohne weiteres der 3-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG zu unterstellen (vgl. OVG Weimar, Urteil v. 6.3.2002 - 3 KO 428/99 -; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f [BVerwG 06.09.1995 - BVerwG 1 VR 2.95]).
Denn die Daten von Erkenntnisquellen können nicht zugleich mit der daraus beim Antragsteller gezogenen Erkenntnis bzw. Kenntnis aller maßgeblichen Tatsachen gleichgesetzt werden. Auch der für den Fristbeginn (§ 51 Abs. 3 VwVfG) maßgebliche Zeitpunkt der Veränderung tatsächlicher Grundlagen bzw. der Erkenntnisfortschritte hinsichtlich des synergistischen Zusammenspiels exilpolitischer Betätigung in Deutschland und Bedrohungsreaktionen in Vietnam ist nicht von einzelnen Erkenntnisquellen und einzelnen Betätigungen abhängig: Die Risiken exilpolitischer Betätigung schwanken und nehmen je nach politischer Grundhaltung des Verfolgerstaates zu oder ab - je nachdem, ob "hardliner" an der Macht sind oder liberalere Kräfte. In Vietnam hat es solche Veränderungen gegeben, wie zahlreiche Berichte und Stellungnahmen belegen. Insofern ist ein fester Zeitpunkt für eine Sachlagenänderung iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nur schwer greifbar, jedenfalls nicht an einzelnen Erkenntnisquellen oder Bescheinigungen über Betätigungen zu orientieren. Von einer Verfristung kann somit nicht ausgegangen werden, so wie im angefochtenen Bescheid geschehen (S. 6 d. angef. Bescheides).
Das gilt in ähnlicher Weise für die Änderung des materiellen Rechts, da die Änderung der allgemeinen Rechtsauffassungen einer Rechtsänderung gleichgestellt wird (BVerfGE 34, 288 = DVBl. 1973, 784; DVBl. 1990, 691), so dass hier die mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes veränderte Wertung und Sicht wie auch die uneingeschränkte Anwendung der Qualifikationsrichtlinie zu einer relevanten Änderung der Rechtslage geführt hat.
3.3
Ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens ist mithin nach der gegebenen Rechtslage nur abweisbar, wenn die erforderliche "Richtigkeitsgewissheit" vorliegt (BVerfG, InfAuslR 1995, 342 [BVerfG 08.03.1995 - 2 BvR 2148/94] und InfAuslR 1995, 19 [BVerfG 05.10.1994 - 2 BvR 2333/93]). Eine solche Ausnahme ist beschränkt auf singuläre Einzelfälle, bei denen das Fehlen einer Asylerheblichkeit ohne Weiteres klar auf der Hand liegt (BVerfG, DVBl. 1994, 38; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233). Ein derartiger Einzel- und Sonderfall liegt hier ersichtlich nicht vor.
4.
Die Erfolgsaussichten des Antrages in der Sache - zugleich die genannten Zweifel - sind hier deshalb anzunehmen, weil bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Art. 1 des Zuwanderungsgesetzes v. 30.7.2004 / BGBl. I S. 1950) i.V.m. der jetzt uneingeschränkt geltenden Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) nicht von der Hand zu weisen ist (vgl. dazu die Rechtsprechung der Kammer, z.B. Urteile v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 - und v. 22.9. 2005 - 1 A 32/02 - sowie v. 28.9.2005 - 1 A 252/02).
4.1
Das gilt insbesondere angesichts der Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4. 2004, deren Umsetzungsfrist gem. ihrem Art. 38 Abs. 1 am 10. Oktober 2006 abgelaufen ist. Diese Richtlinie hat die Anforderungen an eine Substantiierung asyl- und flüchtlingsrelevanten Vorbringens, aber auch die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling (vgl. Kapitel II und III der Richtlinie) qualitativ grundlegend verändert, was zu Gunsten des Antragstellers hier ohne jede Einschränkung zu berücksichtigen ist.
Das gilt aber auch angesichts des § 60 Abs. 1 AufenthG, der mit seinem Wechsel der Perspektive von einer täter- zu einer opferbezogenen Betrachtung den damit befassten Verwaltungsstellen wie auch den Gerichten eine völlig neue Wertung abverlangt (vgl. dazu Urteil des VG Stuttgart v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - , InfAuslR 2005, S. 345; Urteil der Kammer v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 -).
Da hierauf im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über die rechtshängige Klage abzustellen sein wird, liegen die erforderlichen ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides schon deshalb vor.
4.2
Hierbei ist auch davon auszugehen, dass der neu angefügte Abs. 2 des § 28 AsylVfG im Lichte der nunmehr verbindlichen Qualifikationsrichtlinie weitgehend unanwendbar ist (vgl. Urteil der Kammer v. 24.5.2006 - 1 A 405/03 -, Asylmagazin 7-8 / 2006, S. 43). Denn die der Richtlinie 2004/83/EG widersprechenden nationalen Bestimmungen - hier vor allem § 28 Abs. 2 AsylVfG - sind stets insoweit von den damit befassten Gerichten unangewendet zu lassen, als sie europäischen Richtlinienbestimmungen mit ihrer weiter reichenden Bedeutung und ihrer Festlegung von Flüchtlingsstandards widersprechen (vgl. dazu Urteil der Kammer v. 24.5.2006, a.a.O..).
Im Übrigen vermag § 28 Abs. 2 AsylVfG die Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG nur ganz ausnahmsweise, nämlich dann zu sperren, wenn ausnahmslos und allein rein subjektive Nachfluchtgründe geltend gemacht werden (vgl. Urteil der Kammer v. 28.9.2005 - 1 A 252/02 -), was bei einer Verschärfung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Verwaltungs- und Prozesspraxis im Heimatland nicht der Fall ist, so dass eine Sperrwirkung dann auch nicht zum Zuge kommen kann. Denn es stellt einen objektiven (und nicht subjektiven) Nachfluchttatbestand dar, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber einer regimekritischen Organisation verändert (so BVerwG, EZAR 206 Nr. 4; VG Schwerin v. 27.2.2004, S. 6 d. Urt.-Abdr.; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Febr. 2006, § 28 Rdn. 48.8: "Zu denken ist (an) eine Verschärfung der Verfolgungspraxis des Heimatstaates oder ..."; vgl. auch Marx, Kommentar z. AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 28 Rdn. 118, 120 f.). Solche Verschärfung der Praxis in Vietnam wird von zahlreichen Beobachtern berichtet (vgl. u.a. ai-Jahresbericht 2006, S. 496 ff.: "politisch Andersdenkende" wurden verfolgt, die "Kontrolle des Internet noch weiter verschärft", "drastische Auflagen für die Durchführung öffentlicher Versammlungen" erlassen usw.; openDoors v. 5.4.2006: Niederbrennen der Häuser von Christen mit Billigung örtlicher Behörden; RadioVatikan v. 13.5.2006: Misshandlungen in Haft; spiegelonline v. 22.9.2006: Inhaftierung und anschließende Ausweisung von Menschenrechtlern).
Das gilt nun im Hinblick auf die Richtlinie 2004/83/ EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von "Ereignissen" im Heimatland (Art. 5 Abs. 1) in ganz besonderem Maße, so dass geänderte Einstellungen und Verschärfungen im Heimatstaat stets im Rahmen des § 28 Abs. 2 AufenthG als objektiver Nachfluchttatbestand heranziehbar und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG auch stets bedrohungsrelevant sind. Verschärfungen der politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylbewerbers sind als objektive Nachfluchtgründe (VG Schwerin, Urt. v. 27.2.2004, S. 6 unten d. Urt.-Abdr.) auch dann - von Amts wegen - zu berücksichtigen sind, wenn sie sich erst im Laufe des Verfahrens ergeben haben.
Davon abgesehen ist nach dem Gesetzeswortlaut des § 28 Abs. 2 AsylVfG die Berücksichtigung selbstgeschaffener Nachfluchtgründe durchaus noch möglich - wenn auch nur ausnahmsweise. Angesichts des Art. 33 GFK, der gem. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG ja doch uneingeschränkt "anzuwenden" ist, und der Qualifikationsrichtlinie erlangt diese Ausnahme besondere Bedeutung und ist ausdehnend auszulegen.
4.3
Im Übrigen stellt es rechtsstaatlich einen gravierenden Verfahrensmangel und zugleich einen Verstoß gegen Art. 4 der Qualifikationsrichtlinie mit dessen Gebot individueller Prüfung dar, wenn bei einem neuen Vortrag im Folgeverfahren eine Bescheidung - wie hier - ohne jede Anhörung des Antragstellers ergeht. Grundsätzlich hat nämlich eine individuelle Prüfung zu erfolgen (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie) und ist zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen rechtliches Gehör zu gewähren (§ 28 VwVfG). Dieser Grundsatz ist auch im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 71 Abs. 3 S. 3 AsylVfG zu beachten, der unter dem Eindruck der genannten Bestimmungen entsprechend eng auszulegen bzw. unanwendbar zu lassen ist.
Die entsprechende Fehlerhaftigkeit des Folgeantragsverfahrens führt hier zugleich dazu, dass die getroffene Entscheidung ernsthaften Zweifeln unterliegt (vgl. VG Frankfurt/M., InfAuslR 2003, S. 119; Urteil des VG Darmstadt v. 28.5.2003 - 8 E 752/03.A (2) - Asylmagazin 2003, S. 31).
4.4
Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die "politische Einstellung des Betroffenen" abzielen und sich als Bedrohung darstellen, kommt es stets auf die "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland" an sowie auf dortige (objektive) Veränderungen. Diese können die (bloße) Wahrscheinlichkeit einer (bloßen) Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG nahe legen (vgl. BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 [BVerwG 15.03.1994 - BVerwG 9 C 510/93] / S. 288). Somit ist eine Bedrohungslage unter Berücksichtigung der Genfer Konvention (§ 60 Abs. 1 AufenthG) einschließlich der EMRK (§ 60 Abs. 5 AufenthG) sowie der anwendbaren Richtlinie 2004/83/EG des Rates v. 29.4. 2004 i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland", aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement gegeben (Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f [BVerwG 06.09.1995 - BVerwG 1 VR 2.95]). Das politische - auch exilpolitische - Engagement ist nur ein Anknüpfungspunkt für staatliche Repressionen in Vietnam. Insoweit ist heute - im Oktober 2006 - zu berücksichtigen, dass sich Vietnam inzwischen "als eines der repressivsten Regime in Asien" erwiesen hat (vgl. dazu die Rechtsprechung der Kammer, u.a. Urteile v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 - und v. 11. 5.2005 - 1 A 397 u. 398/01 - sowie Urteile v. 28.9. 2005 - 1 A 245 u. 252/02 -; so u.a. auch D. Klein in "Aus Politik und Zeitgeschehen", hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, B 21-22/2004, S. 5):
"Vietnam erwies sich auch 2003 als eines der repressivsten Regime in Asien...; offene Gewalt auf der Straße, Telefonterror und willkürliche Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Vietnam gehört zweifellos zu den schlimmsten Feinden der Menschenrechte und Unterdrückern der Pressefreiheit in Südostasien"
(Klein, a.a.O.., S. 5)
Weiterhin ist insoweit zu berücksichtigen, dass nach den derzeitigen Erkenntnissen (vgl. a.A. Lagebericht v. 28.8.2005; Lagebericht v. 31.3.2006) aktive Gegner des Sozialismus und des "Alleinherrschaftsanspruchs der KPV" - "Dissidenten" - inhaftiert oder bestraft werden können und hieran "auch das neue StGB nichts ändert" (Lagebericht, a.a.O..): Sie bzw. solche, die dafür gehalten werden, sind Repressionen "wie Telefon- und Mailüberwachung, Hausarrest...oder Aufnahme auf einer schwarzen Liste mit Namen derer, denen ein Reisepass versagt wird" ausgesetzt. Verschiedene Maßnahmen weisen darauf hin, dass "die Regierung die Schraube weiter anzieht" (!). Kritische Artikel werden aus internationalen Zeitungen entfernt, kritische Fernsehbeiträge strikt zensiert. Satelliten-TV bedarf schriftlicher staatlicher Genehmigung, die nur ausgewählten Personen und Institutionen erteilt wird (Lageberichte, a.a.O..).
Im Übrigen wurde die Kontrolle des Internets durch einen neuen Erlass "weiter verschärft" (Lagebericht v. 31.3.2006): Nach einer Meldung des schweizerischen "KleinReport" vom 17. August 2006 sind 3 junge vietnamesische Internet-Nutzer fast neun Monate lang ohne Verhandlung nur deshalb in Vietnam inhaftiert worden, weil sie an einem prodemokratischen Chat teilgenommen hatten. Sie sind im Oktober 2005 festgenommen und erst am 7. Juli 2006 aus vietnamesischen Gefängnissen entlassen worden, was einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie darstellt. Das zeigt, wie sensibel und mit welcher Härte der vietnamesische Staat auf prodemokratische Meinungsbekundungen reagiert, wie stark die praktizierte Gesinnungskontrolle ist.
Es ist deshalb nicht von der Hand zu weisen, dass der Antragsteller aus den vorgebrachten Gründen inzwischen - u.a. aufgrund der "Ereignisse" und Verschärfung der Verhältnisse in Vietnam (vgl. u.a. Urteil der Kammer v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 -) - bei einer Rückkehr iSv § 60 AufenthG tatsächlich ernsthaft bedroht ist. Das wäre im Folgeverfahren einer individuellen Prüfung iSv Art. 4 Abs. 3 Qualifikationsrichtlinie zu unterziehen.
Der Antragsteller hat bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage somit voraussichtlich einen Anspruch auf Durchführung eines Asylfolgeverfahrens - jedenfalls hinsichtlich der Frage, ob unter den vorgetragenen Veränderungen in Vietnam die Voraussetzungen des ab 1. Januar 2005 geltenden § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. der geltenden Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG vorliegen und der Antragsteller im Falle der Rückkehr (nur) bedroht wäre bzw. hinsichtlich auch der Frage, ob die gesetzliche Regel des § 60 Abs. 7 AufenthG bei ihm zwecks Vermeidung einer "Schutzlücke" zum Zuge kommt.
Demzufolge ist der Antragsteller von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, die den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands und vor allem Art. 33 GFK (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG) zuwiderliefen, vorerst zu verschonen.
5.
Schließlich stehen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht ganz besonders gewichtige Gründe entgegen, die es erlaubten, schon vor Abschluß des Hauptsacheverfahrens die letztlich vollendete Tatsachen schaffende Abschiebung durchzuführen, die hier angedroht worden ist (Pkt 4 des angefochtenen Bescheides). Denn der Rechtschutzanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG ist um so stärker, je gewichtiger die abverlangte Belastung - hier die aufwendige Rückkehr nach Vietnam - ist (BVerfGE 35, 382 / 4o2; BVerfGE, NVwZ 1985, 4o9; BVerfG (3. K. des 2. Senats) NVwZ-Beilage 1996, 19 [BVerfG 27.10.1995 - 2 BvR 384/95] m.w.N.). Deshalb ist ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur im Falle eindeutiger und unumstößlicher Richtigkeit (BVerfG, InfAuslR 1995, 19 [BVerfG 05.10.1994 - 2 BvR 2333/93]) abweisbar:
Droht ... dem Ast. bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Grundrechte, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - ... - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, daß ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (so die 3. Ka. des 2. Senats des BVerfG, Beschl. v. 27.1o.1995, NVwZ-Beilage 3/1996, S. 19 [BVerfG 27.10.1995 - 2 BvR 384/95] m.w.N.)
6.
Auch eine reine Interessenabwägung ergibt, dass die Interessen des Antragstellers an einem vorläufigen Verbleib in Deutschland diejenigen der Antragsgegnerin an einer Abschiebung deutlich überwiegen.
In dem Falle nämlich, dass der Antragsteller im Verfahren der Hauptsache obsiegte, sich jedoch wegen der bereits vollzogenen Abschiebung in Vietnam befände, würde erheblich mehr und - zu Unrecht (siehe Hauptsacheverfahren) - schwerwiegender in seine Interessen eingegriffen als in dem Falle, dass er zunächst einmal nicht nach Vietnam abgeschoben würde, aber dann im Verfahren der Hauptsache unterläge: Hiermit wäre nur ein zeitlicher Aufschub der Abschiebung verbunden, während im zuerst genannten Fall u.U. schon Verfolgungsmaßnahmen der vietnamesischen Behörden, die derzeit in gar keiner Weise von der Hand zu weisen sind, durchgeführt sein könnten. Es bestünde also die Gefahr, dass bei einer baldigen Abschiebung ganz erheblich in Freiheitsrechte oder gar in die körperliche Unversehrtheit der Antragsteller eingegriffen wird, u.zw. mit Hilfe der von deutschen Behörden veranlassten Abschiebung. Dieser Gefahr ist auf dem Boden des Grundgesetzes (Art. 1 GG) zu begegnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
Dieser Beschluß ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.