Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 22.12.2008, Az.: 1 B 70/08

Abschiebung; Ehe (Schutz); Bleiberechtsregelung; Aufenthalt, familiäre Gründe; Aufenthalt, humanitäre Gründe; Mindestaufenthaltszeiten; Privatleben

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
22.12.2008
Aktenzeichen
1 B 70/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 45924
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2008:1222.1B70.08.0A

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Zu den Mindestaufenthaltszeiten sind möglicherweise auch solche aus familiären Gründen zu rechnen.

  2. 2.

    Die Abschiebung langjährig geduldeter Ausländer kann sich im Einzelfall als unverhältnismäßiger Eingriff in das geschützte Privatleben iSv Art. 8 EMRK darstellen - auch wenn sie nicht unter die gesetzliche Altfallregelung fallen.

Gründe

1

Die Antragstellerin erstrebt mit ihren beiden Kindern die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.

2

Sie reiste 1990 in das Bundesgebiet ein und stellte hier erfolglos einen Asylantrag. 1998 heiratete sie den deutschen Staatsangehörigen S. Camps; seitdem wurde eine familiäre und eheliche Lebensgemeinschaft geführt. Im August 2002 wurde die Ehe durch Urteil des Amtsgerichts T (15 F 1190/02) geschieden, danach durch Urteil desselben Gerichts vom 10. Oktober 2002 (15 F 1191/02 Kl) festgestellt, dass die Antragstellerin zu 3) nicht das Kind des gen. deutschen Staatsangehörigen ist. Die der Antragstellerin zu 1) am 1. April 2004 erteilte Aufenthaltserlaubnis wurde durch Bescheid vom 20. Juni 2005 nachträglich befristet, zugleich der Antragstellerin und ihren beiden Kindern die Abschiebung nach Vietnam angedroht. Anschließend erhielt die Antragstellerin mit ihren Kindern fortlaufend Duldungen, die Antragstellerin zu 1) auch Arbeitserlaubnisse für unselbständige Erwerbstätigkeit. Im Februar 2008 beantragte die Antragstellerin zu 1) für sich und ihre Kinder eine Bleiberechtsregelung nach § 104a AufenthG, die jedoch durch Bescheid vom 9. Juli 2008 abgelehnt wurde, so dass die dagegen gerichtete Klage 1 A 113/08 rechtshängig gemacht wurde.

3

Am 9. Dezember 2008 beantragten die Antragsteller die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, nachdem ihnen hierfür durch Bescheid vom 4. Dezember 2008 eine Frist bis zum 5. Januar 2009 gesetzt worden war: Andernfalls würden aufenthaltsbeendende Maßnahmen eingeleitet.

4

Der Antrag hat Erfolg.

5

Da die Antragsteller zuletzt Duldungen erhalten haben, ist § 104a Abs. 1 AufenthG die für sie zutreffende Anspruchsgrundlage (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl.v. 30.7.2008 - 18 B 602/08 -), derzufolge geduldeten Ausländern abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden soll, wenn sie sich u.a. am 1. Juli 2007 - mit Kindern - seit mindestens sechs Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten haben. Begünstigt werden damit ausreisepflichtige Ausländer, deren letzter Status zumindest der einer Duldung war (vgl. auch Funke-Kaiser in GK-AuslR, Std. Jan. 2008, § 104a AufenthG Rn. 8). Das ist hier der Fall.

6

Sinn und Zweck der Regelung soll es sein, dem Bedürfnis der seit Jahren im Bundesgebiet geduldeten und integrierten Ausländern nach einer dauerhaften Perspektive Rechnung zu tragen (BT-Drucks. 16/5065, S. 201 f.). Zugleich sollte dem Umstand entsprochen werden, dass zahlreiche dieser Ausländer in nächster Zeit ohnehin nicht abgeschoben werden. Somit dient § 104a Abs. 1 AufenthG dazu, unter bestimmten Voraussetzungen Ausländern, die sonst ohnehin zu dulden wären, eine Aufenthaltserlaubnis zu vermitteln. Auf die gen. Mindestaufenthaltszeiten sollen Zeiten einer Aufenthaltsgestattung sowie Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen anrechenbar sein. Es spricht Vieles dafür, dass dazu nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes auch Zeiten rechnen, in denen (sogar) ein Aufenthalt aus familiären Gründen erlaubt war. Unter solchen Bedingungen wäre die Mindestaufenthaltszeit von 6 Jahren erfüllt, abgesehen davon, dass die Antragstellerin auch eine eigene Wohnung hat sowie eine Arbeitsstelle und zudem unbestraft ist.

7

Für das vorliegende Verfahren kann das jedoch dahin stehen, weil die Abschiebung langjährig geduldeter Ausländer, die aus irgendwelchen Gründen nicht unter die gesetzliche Altfallregelung fallen, sich im Einzelfall als unverhältnismäßiger Eingriff in das geschützte Privatleben iSv Art. 8 EMRK darstellen kann ( VGH Baden-W. , Beschluss v. 3.11.2008 - 11 S 2235/08 -). Das gilt hier in besonderem Maße, da der vom Antragsgegner erhobene Vorhalt, die unbestrafte Antragstellerin habe ihn über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht, nicht zutrifft: Schon am 8. Januar 2001 war der Antragsgegnerin bekannt, dass die Eheleute "zumindest in der Zeit von Mai bis August 2000 getrennt gelebt" haben (Bl. 165 Beiakten A). Auch am 31. Januar 2001 hat die Antragstellerin bei einer Vorsprache erklärt, ihr Ehemann sei seit ca. 2 Monaten verschwunden, sie lebten seit November 2000 dauernd getrennt (Bl. 169 Beiakten A). Wenn im Antrag vom 4. Januar 2001 unter solchen Umständen noch "verheiratet" angekreuzt war, so traf das zu und entsprach dem damaligen Rechtszustand, da die Ehescheidung durch das gen. Urteil des Amtsgerichts Tostedt erst im August 2002 erfolgte. Von einer Täuschung des Antragsgegners kann mithin keine Rede sein.

8

Angesichts des Wertgehalts des Art. 8 EMRK sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist somit dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stattzugeben und eine Abschiebung der Antragsteller noch vor Abschluss des rechtshängigen Klageverfahrens 1 A 113/08, die vorzeitig zu vollendeten Tatsachen führte, zu unterbinden.

9

Das wird durch eine Abwägung der beiderseitigen Interessen gestützt, die zu einem Überwiegen der Interessen der Antragsteller führt.

10

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG a.F.i.V.m. § 72 Nr. 1 GKG n.F.