Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 29.07.2003, Az.: 4 A 251/02

Eingliederungshilfe; Kostenersatz; Kostenerstattung; Sozialhilfeträger; teilstationäre Eingliederungshilfe; Träger der Sozialhilfe; örtliche Zuständigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
29.07.2003
Aktenzeichen
4 A 251/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 48519
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

§ 104 BSHG i.V. mit § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG erfasst nur die eigentliche Hilfe in der anderen Familie nicht aber die Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Unterbringung stehen.

Tatbestand:

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Die Klägerin begehrt die Erstattung der Kosten, die sie für den Aufenthalt des am ... 1988 geborenen A. B. in der Tagesbildungsstätte der Lebenshilfe e.V. in C. in der Zeit vom 17. August 2001 bis zum 8. Mai 2002 aufgewendet hat.

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Sie gewährte für A. auf Antrag seiner allein sorgeberechtigten Mutter seit Oktober 1997 Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege (§§ 27, 33 SGB VIII). A. war stark verhaltensauffällig und musste bereits den Kindergarten wegen seiner Aggressivität verlassen. Im Zeitraum von Juni 1996 bis August 1998 besuchte er mehrere Schulen, die er ebenfalls jeweils wegen seiner Verhaltensprobleme wechseln musste. Die Pflegefamilie des Jungen wohnte zunächst im Zuständigkeitsbereich der Klägerin. In dem hier maßgebenden Zeitraum lebte sie mit A. in dem Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Ab dem Jahr 1999 besuchte A. die D. - Schule für Lernhilfe in C., der er durch Bescheid der Bezirksregierung E. vom Juli 2000 unter gleichzeitiger Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs zugewiesen worden war. Im November 2001 erklärte sich der Beklagte bereit, den Jugendhilfefall ab dem 1. Dezember 2001 in seine Zuständigkeit zu übernehmen.

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Nachdem es auch in der D. - Schule zu erheblichen Schwierigkeiten gekommen war, nahmen die Pflegeeltern Kontakt mit der Tagesbildungsstätte der Lebenshilfe e.V. in C. auf. Mit Bescheid vom 28. Juni 2001 erklärte die Bezirksregierung E. "vorbehaltlich der Zustimmung des Kostenträgers" ihr Einverständnis, dass A. ab Beginn des Schuljahres 2001/2002 zur Erfüllung der Schulpflicht die Tagesbildungsstätte der Lebenshilfe besuche. Mit Schreiben vom 16. Juli 2001 beantragten die Pflegeeltern des Kindes unter Hinweis auf eine ihnen von der Mutter des Jungen erteilten Vollmacht bei der Klägerin für A. Eingliederungshilfe für den Besuch der Tagesbildungsstätte. A. sei mit den Leistungsanforderungen der D. - Schule völlig überfordert. Die Klägerin übersandte den Antrag mit der Bitte um Überprüfung und Bearbeitung an den Beklagten. Dieser sei nach § 97 Abs. 1 BSHG zuständig. §§ 104, 97 Abs. 2 BSHG seien nicht einschlägig, weil es sich nicht um eine vollstationäre Hilfe handele. Der Beklagte sandte die Unterlagen mit Schreiben vom 25. Juli 2001 zurück. Da A. in einer Pflegefamilie untergebracht sei, sei die Klägerin nach § 104 BSHG in Verbindung mit § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG für die Leistung zuständig. In Absprache mit dem Beklagten erklärte sich die Klägerin bereit, die Hilfe vorläufig zu erbringen. Mit Bescheid vom 13. August 2001 gewährte sie ab dem 9. August 2001 Hilfe durch Übernahme der Kosten für den Aufenthalt des Jungen in der Tagesbildungsstätte der Lebenshilfe als teilstationäre Maßnahme und stützte sich dabei auf §§ 39, 40, 44 BSHG. Seit dem 8. Mai 2002 besucht A. die Tagesbildungsstätte nicht mehr.

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Die Klägerin hat am 14. Juni 2002 Klage erhoben, zu deren Begründung sie ihr bisheriges Vorbringen wiederholt.

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Die Klägerin beantragt,

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den Beklagten zu verurteilen, an sie 15.254,70 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz zu zahlen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er bezieht sich auf seinen Vortrag im Rahmen des bisherigen Verfahrens.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die im Gerichtsverfahren gewechselten Schriftsätze und auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten und der Klägerin Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet.

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Die Klägerin kann auf der Grundlage des § 102 Abs. 1 SGB X von dem Beklagten die Erstattung der Kosten verlangen, die ihr für den Besuch der Tagesbildungsstätte der Lebenshilfe durch A. B. entstanden sind. Nach § 102 Abs. 1 SGB X ist der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein anderer Leistungsträger auf Grund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat. Dies war hier der Fall. Allerdings bietet § 44 BSHG keine Rechtsgrundlage für die vorläufige Hilfegewährung durch die Klägerin; denn diese Vorschrift greift bei einem Zuständigkeitsstreit zwischen zwei Sozialhilfeträgern nicht ein (BVerwG, Urt. v. 26.9.1991 - 5 C 14.87 - BVerwGE 89, 81). Rechtsgrundlage für die vorläufige Leistung der Klägerin in dem hier maßgebenden Zeitraum ist § 43 Abs. 1 SGB I. Danach kann der zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt, wenn ein Anspruch auf Sozialleistungen besteht und zwischen mehreren Leistungsträgern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist. Der zuerst angegangene Leistungsträger hat Leistungen zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt. Hier wurde die Klägerin im Sinne der Vorschrift "zuerst angegangen"; denn die Pflegeeltern des Jungen haben die Hilfeleistung bei ihr beantragt. Zwischen den Beteiligten ist weiter unstreitig, dass A. nach §§ 39 Abs. 1 Satz 1, 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BSHG einen Anspruch auf die gewährte Hilfeleistung hatte.

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Der Beklagte war weiter der zur Leistung nach §§ 39, 40 BSHG verpflichtete Leistungsträger. Insbesondere war er als der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich der Hilfesuchende aufgehalten hat, nach § 97 Abs. 1 Satz 1 BSHG für die Hilfeleistung örtlich zuständig. Die örtliche Zuständigkeit für die hier umstrittene Maßnahme bestimmt sich nicht nach der Vorschrift des § 104 BSHG, die eine § 97 BSHG ergänzende Regelung über die örtliche Zuständigkeit des Trägers der Sozialhilfe enthält (NdsOVG, Beschl. v. 18.5.1995 - 12 M 7208/94 - ZfF 1995, 160). Nach § 104 BSHG gelten §§ 97 Abs. 2, 103 BSHG entsprechend, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher in einer anderen Familie oder bei anderen Personen als bei seinen Eltern oder bei einem Elternteil untergebracht ist. Nach § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG ist für die Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich der Hilfeempfänger seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme hat oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hat. In den Fällen der §§ 104, 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG ist damit für die Hilfe der Sozialhilfeträger örtlich zuständig, in dessen Zuständigkeitsbereich das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in die andere Familie hatte.

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Auf die A. gewährte Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BSHG ist § 104 BSHG jedoch nicht anzuwenden. Dabei scheidet die Anwendbarkeit des § 104 BSHG nicht bereits immer dann aus, wenn die Unterbringung des Kindes bei seiner Pflegefamilie - wie hier - als Jugendhilfemaßnahme auf der Grundlage der §§ 27, 33 SGB VIII erfolgt ist (so Nds. OVG Urt. v. 19.5.2003 - 12 LC 291/02 -). Zwar enthält das Jugendhilferecht in §§ 86ff SGB VIII spezielle Zuständigkeitsregelungen, diese finden aber allein für die Jugendhilfe selbst nicht aber für andere Leistungen auf der Grundlage des Bundessozialhilfegesetzes Anwendung, die dem Kind bzw. Jugendlichen zusätzlich gewährt werden. Angesichts des Wortlauts der Vorschrift ist im Rahmen des § 104 BSHG unerheblich, aus welchem Grund das Kind außerhalb seines Elternhauses untergebracht ist (vgl. z.B. Schellhorn, BSHG, 16. Auflage § 104 Rn. 4; Schoch, in LPK - BSHG, 5. Aufl. § 104 Rn. 20).

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Die Voraussetzungen des § 104 BSHG liegen aber deswegen nicht vor, weil die Leistungen der teilstationären Eingliederungshilfe, die A. erhalten hat, von der Vorschrift nicht erfasst werden. § 104 BSHG erfasst nur die eigentliche Hilfe in der anderen Familie, nicht aber die Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Unterbringung stehen (so bereits Beschl. der Kammer v. 18.6.2001 - 4 B 49/01-; Mergler/Zink, BSHG, § 104 Rn. 11; a.A. BayVGH, Urt. v. 29.1.1998 - 12 B 98.763 -; Schellhorn, BSHG, 16. Aufl., § 104 Rn. 13; unklar Fichtner, BSHG, § 104 Rn. 8). Aus diesem Grund kann offen bleiben, ob ein solcher Zusammenhang angenommen werden kann, wenn ein in einer Pflegefamilie untergebrachtes Kind - wie hier - zusätzlich Eingliederungshilfe auf der Grundlage der §§ 39, 40 BSHG benötigt. Der eingeschränkte Anwendungsbereich des § 104 BSHG folgt aus dem Umstand, dass § 104 BSHG uneingeschränkt auf §§ 97 Abs. 2, 103 BSHG verweist und deswegen in gleicher Weise auszulegen ist. § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG regelt nach seinem Wortlaut eine von § 97 Abs. 1 Satz 1 BSHG abweichende Zuständigkeit lediglich in Bezug auf die Hilfe in einer Einrichtung, d.h. für die stationäre Maßnahme selbst, nicht aber für einen Bedarf, der lediglich im Zusammenhang damit entsteht (Beschl. der Kammer v. 24.3.2003 - 4 B 32/03 -; vgl. auch: Mergler/Zink, BSHG, § 97 Rn. 27 b; VG Hamburg, Urt. v. 27.11.2000 - 13 VG 3386/99 -; a.A. Bräutigam in Fichtner, BSHG, § 97 Rn. 10; Schellhorn, BSHG, 16. Aufl., § 97 Rn. 64; Schoch in LPK - BSHG, 5. Auflage, § 103, Rn. 14). Dies zeigt auch die Regelung des § 103 Abs. 1 Satz 1 BSHG. Danach hat der nach § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG zuständige Träger der Sozialhilfe dem Träger, der nach § 97 Abs. 2 Satz 3 BSHG, d.h. bei unklarem gewöhnlichem Aufenthalt oder im Eilfall die Leistung für Hilfe in einer Einrichtung zu erbringen hat, die aufgewendeten Kosten zu erstatten. Anders als nach der bis zum 31. Dezember 1993 geltenden Fassung des § 103 Abs. 1 BSHG sieht § 103 Abs. 1 Satz 1 BSHG in der neuen Fassung die Erstattung der im Zusammenhang mit dem Aufenthalt in der Einrichtung aufgewandten Kosten nicht mehr vor. Selbst mit Rücksicht auf den Sinn und Zweck der §§ 104, 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG, die Anstaltsorte, bzw. die Wohnorte der Familien, die fremde Kinder aufnehmen,  zu entlasten, verbietet sich angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG eine erweiternde Auslegung in dem Sinne, dass die genannten Regelungen auch die im Zusammenhang mit dem Einrichtungsaufenthalt bzw. der Unterbringung in der anderen Familie entstehenden Sozialhilfeleistungen erfassen. Hiergegen spricht nicht, dass in Fällen wie dem vorliegenden, in denen die Unterbringung des Kindes auf der Grundlage der §§ 27, 33 SGB V erfolgt ist, § 104 BSHG weitgehend nicht anzuwenden sein wird, weil die Kosten der Unterbringung selbst im Regelfall durch die wirtschaftliche Jugendhilfe (§ 39 SGB VIII) abgedeckt sein werden. Denn § 104 BSHG gilt für alle Fälle der Unterbringung in einer anderen Familie, also auch für diejenigen, in denen das Kind aus anderen Gründen außerhalb seiner Herkunftsfamilie lebt.

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Die Höhe der von der Klägerin geltend gemachten Kosten ist unstreitig. Ihr Anspruch auf Zinsen folgt aus §§ 291, 288 BGB.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 709 ZPO.

18

Die Berufung ist gemäß §§ 124 a Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zuzulassen.