Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 10.12.2003, Az.: 4 K 508/01
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Unkenntnis über Antragsfristen
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 10.12.2003
- Aktenzeichen
- 4 K 508/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20720
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2003:1210.4K508.01.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BFH - 22.05.2006 - AZ: VI R 46/04
Rechtsgrundlagen
- § 46 Abs. 2 Nr. 8 S. 2 EStG
- § 110 Abs. 1 S. 1 AO 1977
Fundstellen
- DStR 2004, VIII Heft 48 (Kurzinformation)
- DStRE 2004, 1497-1498 (Volltext mit amtl. LS)
- EFG 2004, 506-508
- GStB 2004, 122-123
- INF 2004, 161
- V&S 2004, 6
- Jurion-Abstract 2003, 228589 (Zusammenfassung)
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Ein Rechtsirrtum über Verfahrensrecht, etwa den Beginn oder das Ende einer Antragsfrist, kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen.
- 2.
Gleich zu behandeln sind Fälle, bei denen eine unverschuldete Unkenntnis einer einzuhaltenden gesetzlichen Frist vorliegt.
- 3.
Einem Steuerpflichtigen, der die gesetzliche Ausschlussfrist für die Antragsveranlagung nicht gekannt hat, kann Wiedereinsetzung gewährt werden.
Tatbestand
Die Kläger haben die zweijährige Antragsfrist für die Durchführung einer Einkommensteuerveranlagung für 1998 gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 Einkommensteuergesetz (EStG) versäumt. Die Kläger behaupten, von der Frist und ihrer ausschließenden Wirkung nichts gewusst zu haben. Sie hätten von Oktober bis Ende Dezember 2000 einen ungewollten und ungeplanten Aufenthalt in Polen gehabt. Das sei der Grund, warum sie anders als in den Vorjahren die Unterlagen für die Einkommensteuererklärung nicht schon im alten Jahr, sondern erst im Februar 2001 bei ihren Steuerberatern abgegeben hätten. Der Beklagte hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt, weil er von einem Verschulden der Kläger ausgeht. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf den Einspruchsbescheid des Beklagten vom 31.10.2001.
Die Kläger beantragen,
unter Aufhebung des Nichtveranlagungsbescheides vom 03.05.2001 und der Einspruchsentscheidung vom 31.10.2001 den Beklagten zu verpflichten, die Kläger nach Maßgabe der vorliegenden Einkommensteuererklärung für den Veranlagungszeitraum 1998 zur Einkommensteuer zu veranlagen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Kläger sind während der mündlichen Verhandlung zum Sachverhalt und zu ihren steuerlichen und verfahrensrechtlichen Kenntnissen befragt worden. Wegen des Ergebnisses dieser Befragung wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch den Berichterstatter (§ 79a Abs. 3, 4 Finanzgerichtsordnung [FGO]) erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Bescheidungsklage (§ 101 Satz 2 FGO) hat Erfolg. Der Beklagte hat den Klägern zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Antragsfrist gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG verwehrt.
Im Streitfall sind die Voraussetzungen für eine Amtsveranlagung unstreitig nicht erfüllt, so dass die hier beantragte Veranlagung nur stattfinden kann, wenn sie rechtzeitig, d.h. bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahrs - das war hier der 31.12.2000 - beantragt worden ist. Ist der Antrag nicht rechtzeitig gestellt worden, kann er nur noch berücksichtigt werden, wenn dem Steuerpflichtigen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 Abgabenordnung (AO) gewährt werden kann. Die Kläger haben ihre Einkommensteuererklärung für den Veranlagungszeitraum 1998 erst am 03.03.2001 beim Beklagten und damit erst nach Ablauf der Ausschlussfrist eingereicht.
Den Klägern ist aber Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung dieser Frist zu gewähren. Entgegen der Auffassung des Beklagten haben sie diese Frist schuldlos versäumt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nach § 110 Abs. 1 Satz 1 AO demjenigen zu gewähren, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Schuldlos handelt nach ständiger Rechtsprechung nur, wer diejenige Sorgfalt anwendet, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Bürger geboten und ihm nach den Gesamtumständen des konkreten Einzelfalls zumutbar ist. Dabei sind die vorauszusetzenden Kenntnisse, Möglichkeiten und Fähigkeiten des Betroffenen zu berücksichtigen (vgl. dazu Klein/Brockmeyer, AO, 8. Aufl. 2003, § 110 Rz 4 mit ausführlichen Hinweisen auf die Rechtsprechung). Ausgehend von diesem Verschuldensbegriff hat die Rechtsprechung schon früh anerkannt, dass ein Rechtsirrtum über Verfahrensrecht, etwa den Beginn oder das Ende einer Antragsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen kann (vgl. etwa BFH, Urteil vom 08.03.1957 - VI 117/55 U - BStBl III 1957, 190). Gleich zu behandeln sind Fälle, bei denen eine unverschuldete Unkenntnis einer einzuhaltenden gesetzlichen Frist vorliegt (vgl. etwa für die hier versäumte Frist gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG, FG Köln, Urteil vom 24.10.2000 - 8 K 1839/00 - EFG 2001, 755; ferner Klein/Brockmeyer, a.a.O., Tz 15; Tipke/ Kruse, AO/FGO, 16. Aufl., § 110 Tz. 14; Schmidt/Glanegger, EStG, 22. Aufl. 2003, § 46 Tz 87; a.A. FG des Saarlandes, Urteil vom 25.09.2002 - 1 K 361/01 - EFG 1610, das sich zu Unrecht auf den Beschluss des BFH vom 08.05.1996 - X B 166/95 - BFH/NV 1996, 771 beruft und Nds. FG, Urteil vom 26.02.2003 - 2 K 881/99 - nicht veröffentlicht). Das erkennende Gericht schließt sich der Auffassung des FG Köln, Urteil vom 24.10.2000, a.a.O., uneingeschränkt an. Nach der Befragung der Kläger in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht davon überzeugt, dass die Kläger die gesetzliche Ausschlussfrist für die Antragsveranlagung bis zum 19.02.2001, als sie ihre Steuerunterlagen zum Steuerberater brachten und von diesem auf die Frist hingewiesen wurden, nicht gekannt haben.
Selbst wenn zu Gunsten des Beklagten unterstellt wird - was streitig geblieben ist und wenn es darauf angekommen wäre vom Beklagten nachzuweisen gewesen wäre -, dass die Kläger die "Anleitung zur Einkommensteuererklärung 1998" und/oder den üblicherweise mit der Lohnsteuerkarte versandten "Kleinen Ratgeber für Lohnsteuerzahler" erhalten haben, führt dies nicht zu einem Verschulden der Kläger in Bezug auf ihre fehlende Kenntnis von der Ausschlussfrist. Beide Anleitungen enthalten Hinweise auf die unterschiedlichsten Fristen. Die Anleitung zur Einkommensteuererklärung enthält im oberen Drittel der ersten Seite Angaben zu vier verschiedenen Fristen für die Abgabe der Einkommensteuererklärung und ergänzende Anträge, darunter auch die Abgabefrist bei Antragsveranlagung. Hinweise auf den Rechtscharakter der Fristen und die Möglichkeit einer Verlängerung bzw. auf die fehlende Verlängerungsmöglichkeit finden sich auf Seite 2 der 14-seitigen engbedruckten Anleitung im DIN-A4-Format. Gegenseitige Verweisungen von den Angaben auf Seite 1 zu den Hinweisen auf Seite 2 - und umgekehrt - fehlen. Im Kleinen Ratgeber für Lohnsteuerzahler findet sich ein konkreter Hinweis auf die nicht verlängerbare Antragsfrist erst am Ende der engbedruckten Broschüre auf Seite 30. Die Hinweise in beiden Anleitungen erschließen jedoch nur demjenigen Steuerbürger ihre Bedeutung, der genügend Fachkenntnisse besitzt, um zwischen einer Pflichtveranlagung (mit verlängerbarer Abgabefrist) und einer Antragsveranlagung (mit nicht verlängerbarer Ausschlussfrist) zu unterscheiden. Wer - wie die Kläger - nicht weiß, ob sie zu dem Kreis der Pflichtveranlagten oder dem der Antragsveranlagten gehören, für den sind die erwähnten Hinweise ohne Aussagewert. Wegen ihrer - für steuerliche Laien - mangelnden Eindeutigkeit fehlt diesen Hinweisen zudem die Eignung, dem Steuerpflichtigen die notwendigen Kenntnisse über die von ihm zu beachtenden steuerlichen Pflichten zu verschaffen. Angesichts dieser Umstände könnte den Klägern selbst dann, wenn sie die beiden Anleitungen erhalten hätten, keine Sorgfaltspflichtverletzung in Bezug auf ihre Unkenntnis der Antragsfrist vorgeworfen werden.
Im Übrigen sind die Hinweise in der Anleitung zur Einkommensteuererklärung zur Abgrenzung der Pflichtveranlagung von der Antragsveranlagung und deren jeweiligen Voraussetzungen schwer verständlich und nach Art und Umfang nicht geeignet, einem steuerlichen Laien eine sichere Beurteilung der eigenen Erklärungspflicht zu ermöglichen. Um dies anschaulich zu machen, ist diesem Urteil eine Ablichtung des ersten Blattes der amtlichen Anleitung zur Einkommensteuererklärung 1998 beigefügt. Dort sind unter 17 Spiegelstrichen - und zwar ausdrücklich als Beispiele und nicht als abschließende Aufzählung - die Fallgestaltungen aufgeführt, die zur einer Erklärungspflicht führen oder bei denen ein Antrag auf Einkommensteuerveranlagung gestellt werden kann. Allein die Vielzahl der dort dargestellten Möglichkeiten ist für einen Laien verwirrend und wegen der Vielzahl der für jede Fallgestaltung genannten Voraussetzungen nicht mehr überschaubar. Einen besonders schweren Mangel enthält die Anleitung insofern, als sie nicht unmittelbar bei den Voraussetzungen der Antragsveranlagung auf die Gefahr des Rechtsverlustes bei verspäteter Antragstellung hinweist, sondern erst - wie erwähnt, ohne Verweisung - auf Seite 2 der Anleitung, an einer Stelle, wo ein solch bedeutender Hinweis nicht mehr erwartet wird. Mit Formulierungen wie, "Besteht keine Erklärungspflicht, kann sich ein Antrag auf Einkommensteuerveranlagung insbesondere lohnen ..." oder "Außerdem wird auf Antrag eine Einkommensteuerveranlagung z.B. durchgeführt ..." ohne dass an dieser Stelle auf die Fristgebundenheit des Antrags und die Gefahr des Rechtsverlustes hingewiesen wird, wird bei den Bürgern vielmehr der gegenteilige Eindruck erweckt, dass es nur des Antrags auf Veranlagung bedürfe, um ihre Rechte zu wahren.
Angesichts der Pflicht der Finanzbehörden zur Beratung und Auskunft insbesondere in Fällen, in denen zu befürchten ist, dass Anträge aus Versehen oder Unkenntnis unterbleiben oder nicht rechtzeitig gestellt werden, vgl. § 89 AO, kann die Finanzbehörde schuldhaftes Verhalten des Steuerpflichtigen wegen Versäumung der Antragsfrist aus Unkenntnis nur geltend machen, wenn - neben dem Nachweis, dass die Belehrung den Steuerpflichtigen erreicht hat - der Hinweis auf die Frist und die Folgen ihrer Versäumung eindeutig und auch für Laien leicht verständlich und in optisch hervorgehobener Weise zu Beginn der Darstellung der Voraussetzungen einer Antragsveranlagung erfolgt.
Weil der Kläger aufgrund der ihm von seinem Steuerberater vor Jahren erteilten Information, dass ihm längstens eine vierjährige Frist für die Abgabe der Steuererklärung zur Verfügung stehe, irrtümlich von einer entsprechend langen Abgabefrist ausging, hatte er auch keinen Anlass, sich über die Abgabefrist zu erkundigen. Das Unterlassen einer solchen Nachfrage ist deshalb auch nicht als sorgfaltswidrig zu bewerten (vgl. zu einer entsprechenden Fallgestaltung, BVerfG, Beschluss vom 28.01.1981 - 1 BvL 131/78 - BStBl II 1982, 234 [235 f.] und FG Köln, Urteil vom 24.10.2000, a.a.O.).
Ergänzend weist das Gericht auf folgendes hin: Das Einkommensteuerrecht und die dazugehörigen verfahrensrechtlichen Regelungen sind so umfangreich, komplex und kompliziert, dass sie für Laien nicht mehr überschaubar und sicher handhabbar sind. Angesichts ständiger Steueränderungen und oft auch widersprüchlichen Informationen in den Medien, gibt es verbreitet Unsicherheit über die für einen bestimmten Veranlagungszeitraum anzuwendenden Rechtsvorschriften. Nicht zu Unrecht wird mittlerweile allgemein von einem Steuerchaos gesprochen. Bei dieser Ausgangssituation, die der Bürger vorfindet und zu deren Entstehung er nichts beigetragen hat, erscheint es dem Gericht grundsätzlich nicht sachgerecht, dem Steuerpflichtigen das Risiko des Rechtsverlustes aufzubürden, wenn er sich nicht durch Rückfragen Kenntnis über bestehende Verfahrensregelungen und Fristen verschafft hat.
Der Wiedereinsetzungsantrag ist rechtzeitig, nämlich am 09.03.2001 und damit innerhalb eines Monats nach Kenntnis der Kläger von der Abgabefrist gestellt und rechtzeitig begründet worden, § 110 Abs. 2 Satz 1 AO.
Der Beklagte ist nunmehr verpflichtet, die Kläger so zu stellen, als ob sie den Antrag rechtzeitig gestellt hätten und die Einkommensteuerveranlagung 1998 für sie auf der Grundlage der von ihnen vorgelegten und gegebenenfalls vom Beklagten noch zu überprüfenden Einkommensteuererklärung durchzuführen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.