Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 10.09.2003, Az.: 13 B 3126/03

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
10.09.2003
Aktenzeichen
13 B 3126/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 40719
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2003:0910.13B3126.03.0A

Tenor:

  1. ...

Tatbestand:

1

...

Gründe

2

Der Antrag der Antragstellerin, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr laufende Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren, ist in dem durch den Tenor bezeichneten Umfang erfolgreich. Insoweit hat die Antragstellerin einen Anordnungsgrund - die Dringlichkeit der begehrten Leistung - und einen Anordnungsanspruch - den materiell-rechtlichen Anspruch auf die streitgegenständliche Leistung - glaubhaft gemacht (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 ZPO).

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Der Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass die Antragstellerin existenzsichernde laufende Leistungen der Sozialhilfe begehrt.

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Der Anordnungsanspruch folgt in dem durch den Tenor bezeichneten Umfang daraus, dass die Antragstellerin "an sich" zum Personenkreis gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG zählt. Sie kann gegenwärtig ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus ihrem Einkommen und Vermögen, beschaffen. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Antragstellerin gegenwärtig nicht über Einkommen und Vermögen verfügt. Ihrem Anspruch auf Gewährung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt kann auch - entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin - nicht entgegengehalten werden, dass die Antragstellerin sich vorsätzlich um ihr Vermögen gebracht hat, indem sie am 27. Juni 2003 ihre Wohnung in Riga auf ihren Neffen übereignet hat. Für den Anspruch auf Sozialhilfe kommt es grundsätzlich nur auf die tatsächliche Lage des Hilfesuchenden an (BVerwGE 55, 148, 152). Auch aus dem Beschluss des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 14. September 1993 (Az.: Bf IV 24/91 - FEVS 44, 469) folgt für den hier zu beurteilenden Fall nichts anderes. Ihm zufolge findet der erwähnte Grundsatz, dass die tatsächliche Lage des Hilfesuchenden maßgeblich ist, möglicherweise dort eine Grenze, wo der Hilfesuchende selbst sein Einkommen geschmälert hat, um etwa - wie hier die Antragstellerin bei ihrem Neffen - angebliche Schulden zu begleichen. Solche freiwillige Dispositionen sind nach Auffassung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts nicht zu berücksichtigen, wenn es - wie in dem dort zu beurteilenden Streitverfahren - um das nachträgliche Erstreiten angeblich vorenthaltener Hilfe zum Lebensunterhalt in gerichtlichen Verfahren geht. Diese Konstellation liegt hier aber nicht vor, da es der Antragstellerin um laufende Leistungen für die Gegenwart und die nahe Zukunft geht.

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Auch im Übrigen sprechen derzeit durchgreifende Erwägungen dagegen, dass sich die Antragstellerin i.S.v. § 2 Abs. 1 BSHG selbst helfen kann. Dieser Annahme der Kammer liegt die Überlegung zugrunde, dass die Antragstellerin möglicherweise einen Anspruch gegen ihren Neffen auf Rückübereignung der Wohnung in entsprechender Anwendung von § 528 Abs. 1 Satz 1 BGB hat. Es scheint indes fraglich, ob es eine vergleichbare Vorschrift in dem hier anzuwendenden Recht der Republik Lettland gibt. Zudem spricht viel dafür, dass die Antragstellerin einen solchen Anspruch in entsprechender Anwendung von § 534 BGB auch nach deutschem Recht nicht hätte. Es handelt sich bei dem Geschäft vom 27. Juni 2003 möglicherweise um eine Schenkung, durch die die Antragstellerin einer sittlichen Pflicht entsprochen hat. Es ist der Antragstellerin nicht zu widerlegen, dass ihr Neffe ihr vor ihrer Ausreise nach Deutschland in einem Umfang von bis zu 12.000 US-Dollar Leistungen zum Lebensunterhalt gewährt hat. Zudem ist nicht ersichtlich, dass ein solcher Anspruch nach § 528 Abs. 1 Satz 1 BGB auf absehbare Zeit gegen den Neffen der Antragstellerin realisiert werden könnte.

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Indes ist die Hilfe für die Antragstellerin auf das bis zum Lebensunterhalt Unerlässliche einzuschränken. Dies ergibt sich aus § 25 Abs. 2 Nr. 1 BSHG. Nach dieser Vorschrift soll die Hilfe bis auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche eingeschränkt werden bei einem Hilfesuchenden, der u.a. sein Vermögen vermindert hat in der Absicht, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung der Hilfe herbeizuführen. Ein solches Verhalten ist der Antragstellerin bei der Übereignung ihrer Wohnung in Riga an ihren Neffen am 27. Juni 2003 zur Last zu legen. Die Antragstellerin hat durch aktives Tun ihr Vermögen entscheidend vermindert. Auch die weiteren Voraussetzungen von § 25 Abs. 2 Nr. 1 BSHG sind bei der Antragstellerin erfüllt.

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Die Handlung, die zur Vermögensminderung führt, muss als ein leichtfertiges oder unlauteres Verhalten qualifiziert werden (VGH Mannheim, FEVS 49, 311; FEVS 23, 73, 77; Oestreicher/Schelter/Kunz, Kommentar zum BSHG, § 25 Rz. 14 - etwas abweichend Mergler/Zink, Kommentar zum BSHG, § 25 Rz. 21). Das Verhalten der Antragstellerin erfüllt nach Überzeugung der Kammer die Voraussetzungen des Merkmals "leichtfertig". Leichtfertigkeit liegt immer dann vor, wenn die - bewusste oder unbewusste - Missachtung wesentlicher rechtlicher Pflichten Ausdruck einer groben Nachlässigkeit ist (BayOLG NSTZ-RR 2002, 274). Gemäß § 2 Abs. 1 BSHG hat die Antragstellerin seinerzeit die Pflicht gehabt, sich selbst durch Verwertung ihres Wohnungseigentums in Riga zu helfen. Diese Pflicht hat sie nach Überzeugung der Kammer bewusst missachtet. Die Kammer hält dieses Verhalten auch für Ausdruck einer groben Nachlässigkeit, da die Antragstellerin eine individuelle (und aus Sicht der Kammer zweifelhaften) Rechtspflicht auf Kosten der Allgemeinheit - des Sozialhilfeträgers - erfüllen will.

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Weiter muss der Hilfesuchende in der Absicht handeln, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung der Hilfe herbeizuführen. Durch diese Formulierung wird direkter Vorsatz verlangt, so dass derjenige, der sein Einkommen oder Vermögen verringert, den Erfolg seines Handelns - nämlich die Schaffung der Voraussetzungen für die Gewährung von Sozialhilfe - bewusst erstrebt oder bezweckt haben muss (OVG Hamburg, FEVS 41, 288, 297; Krahmer in LPK, Kommentar zum BSHG, § 25 Rz. 11; Wenzel in Fichtner, Kommentar zum BSHG, § 25 Rz. 14 sowie Mergler/Zink, a.a.O.). Auch diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Antragstellerin war durch den Beschluss des Gerichts vom 11. April 2003 (13 B 269/03) bekannt, dass sie verpflichtet ist, ihre Wohnung in Riga zu verkaufen, um damit ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Diese Pflicht zur Verwertung dieser Wohnung zur Vermeidung ihrer Sozialhilfebedürftigkeit ist ihr auch in der Erörterung der Sach- und Rechtslage durch den Berichterstatter am 19. März 2003 erläutert worden. Gleichwohl hat sie ihre Wohnung in Riga nicht auf dem freien Markt verkauft, sondern ohne weitere Gegenleistung an ihren Neffen am 27. Juni 2003 übereignet. Dass sie sich dazu moralisch und/oder rechtlich verpflichtet gesehen haben mag, ist unerheblich. Aus dem erwähnten Beschluss der Kammer geht eindeutig hervor, dass die Selbsthilfe durch Verkauf ihrer Wohnung in Riga Vorrang hat vor der evtl. Verpflichtung, die Wohnung an ihren Neffen zu übereignen. Die Pflicht zur Selbsthilfe gemäß § 2 Abs. 1 BSHG ist auch gegenüber einer beabsichtigten Tilgung bestehender Verpflichtungen/Schulden vorrangig. Auch dies war der Antragstellerin aufgrund der Erörterung der Sach- und Rechtslage zu 13 B 269/03 am 11. März 2003, der diesbezüglichen Schriftsätze der Antragsgegnerin sowie des Beschlusses des Gerichts vom 19. März 2003 (13 B 269/03) klar. Mithin handelte die Antragstellerin bei dem Rechtsgeschäft am 27. Juni 2003 mit dem Wissen und Wollen, dadurch (auch) die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sie der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt mangels Vermögen bedürftig wird. Diese Feststellung trifft das Gericht aufgrund einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände, soweit dies im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes möglich ist. Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass die Antragstellerin dieses Ziel - durch die Übereignung der Wohnung in Riga an ihren Neffen ohne eine Gegenleistung am 27. Juni 2003 die Voraussetzungen von § 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG zu erfüllen - folgerichtig und zielgerichtet verfolgt hat. Überlegtes und zielgerechtes Handeln und eine andere, möglicherweise auf Affekt gegründete Absicht, die mit der in Rede stehenden Tat gleichsam gleichermaßen verbunden ist, schließen sich grundsätzlich nicht aus (s. BGH, Urteil vom 18. September 2002, Az.: 2 StR 125/02 - NsTZ-RR 2003, 8. Diese strafrechtliche Begriffsbildung ist auch für den direkten Vorsatz i.S.v. § 25 Abs. 2 Nr. 1 BSHG zugrunde zu legen. Ist ein subjektives Moment Voraussetzung für eine Leistungsgewährung oder -kürzung im Sozialrecht, so ist auf das individuelle Einsichtsvermögen abzustellen.). Es ist neben der hier eintretenden Folge des Rechtsgeschäfts vom 27. Juni 2003 - die Antragstellerin wird mittellos und damit der Sozialhilfe bedürftig - auch auf ihre sonstige Motivation für ihr Handeln abzustellen. Dabei stellt das Gericht in Rechnung, dass die Antragstellerin der Meinung war, sie sei rechtlich verpflichtet, die Wohnung an ihren Neffen zu übereignen. Dies kann aber nicht als der einzige Beweggrund ihres Handelns angenommen werden. Die Antragstellerin läuft aufgrund ihres gegenwärtigen Aufenthalts in Deutschland nicht Gefahr, irgendwelchen Repressalien ihres Neffen ausgesetzt zu sein, wenn sie die Wohnung nicht an ihn übereignet. Sie wusste aufgrund der gerichtlichen Verfahren - das erste hatte sie selbst am 5. August 2002 zu dem Aktenzeichen 13 B 3299/02 eingeleitet -, dass ihr ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nicht zusteht, wenn ihr der Erlös aus dem Verkauf des Wohnungseigentums in Riga als bereites Mittel für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung steht. Dies ist in den Erörterungen am 27. August 2002 und am 19. März 2003 hinreichend deutlich gemacht worden. Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, dass sie ihre Bedürftigkeit i.S.v. § 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG als Folge der Übereignung ihres Wohnungseigentums am 27. Juni 2003 nicht wusste und wollte.

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Was zum Lebensunterhalt unerlässlich ist, ist nach den Besonderheiten des Einzelfalles zu bestimmen. Hinsichtlich der Leistungen nach Regelsätzen ist zu berücksichtigen, dass grundsätzlich nur bezüglich des Anteiles zu kürzen ist, die nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Regelsatz-Verordnung auf die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens entfallen. Diese Bedarfsgruppe umfasst insbesondere Aufwendungen, die zur Aufrechterhaltung der Beziehungen mit der Umwelt, zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Information, zur Teilnahme am kulturellen Leben und zur Befriedigung persönlicher Neigungen und Bedürfnisse i.S.v. § 12 Abs. 1 Satz 2 BSHG dienen. Es ist indes rechtlich schwierig, die prozentualen Anteile, die im Regelsatz hierauf entfallen, zu bestimmen. Die Regelsätze sind auf der Basis einer Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ("Statistikmodell") der Höhe nach bestimmt (s. hierzu allgemein Roscher, in LPK, Kommentar zum BSHG, § 22 Rz. 39). Der Anteil des Lebensunterhalt Unerlässlichen wird, soweit es um regelsatzmäßige Leistungen geht, von einem Teil der Rechtsprechung und Literatur mit 80 v.H. (OVG Bremen, FEVS 37, 471; Schellhorn, Kommentar zum BSHG, § 25 Rz. 28 m.w.N.), von einem anderen Teil mit 70 v.H. (Oestreicher/Schelter/Kunz, Kommentar zum BSHG, § 25 Rz. 11) des jeweiligen Regelsatzes genommen. Im Hinblick auf die Regelung des § 25 Abs. 1 Satz 2 BSHG bestimmt die Kammer das zum Lebensunterhalt Unerlässliche mit 75 % des jeweiligen Regelsatzes.

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Die Kammer verkennt bei dieser Entscheidung nicht, dass dem Träger der Sozialhilfe im Rahmen von § 25 Abs. 2 BSHG ein gewisses Ermessen eingeräumt ist. Die Regelung ist eine "Soll"-Vorschrift, d. h. die Behörde hat im Regelfall der Voraussetzungen der Vorschrift die Hilfe bis auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche einschränken; m.a.W. ist von diesem Regelverhalten der Behörde eine Abweichung lediglich in atypischen Fällen indiziert. Solche Umstände sind hier weder dargetan noch ersichtlich. Dabei ist ganz maßgeblich darauf abzustellen, dass der Antragstellerin das Gebot, sich durch die Veräußerung ihres Grundeigentums in Lettland selbst zu helfen, nicht nur vom Gericht mit Hilfe des Sprachmittlers deutlich gemacht worden ist. Sie kannte ihre Rechtspflichten auch infolge anwaltlicher Beratung.

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Das Gericht übt mit seinen Erwägungen nicht das Ermessen anstelle der Behörde aus. Sie - die Antragsgegnerin - hat ihre Ablehnung des Begehrens der Antragstellerin auf den Sachverhalt gestützt, der das Gericht zur Anwendung von § 25 Abs. 2 Nr. 1 BSHG veranlasst hat.

12

Die gerichtliche Entscheidung regelt nur die Hilfe für die Antragstellerin im Monat September 2003. Die Einschränkung der Hilfe auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche ist - wie § 25 Abs. 2 Nr. 3 BSHG zeigt - ihrer Natur nach eine befristete Maßnahme. Die Antragsgegnerin wird zu entscheiden haben, ob und wann sie der Antragstellerin laufende Hilfe zum Lebensunterhalt wieder ungekürzt gewährt.

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