Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 23.09.2013, Az.: 23 SchH 3/13

Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter durch Erleiden eines Nachteils

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
23.09.2013
Aktenzeichen
23 SchH 3/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 54847
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2013:0923.23SCHH3.13.0A

In dem Entschädigungsverfahren
pp.
hat der 23. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Gelle auf die mündliche Verhandlung vom 12. November 2013 durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Dr. W.., den Richter am Oberlandesgericht K.. und den Richter am Oberlandesgericht Dr. D..
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 8.700,00 EUR zu zahlen.

  2. 2.

    Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

  3. 3.

    Das Urteil ist für den Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

  4. 4.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

  5. 5.

    Der Streitwert wird auf 8.700,00 EUR festgesetzt.

Tatbestand

Der Kläger hatte zusammen mit seiner Tochter mit Anwaltsschriftsatz vom 11. Februar 1997 Klage vor dem Amtsgericht R.. erhoben (5 C 26/97). Mit der Klage machten sie, die Miteigentümer eines vermieteten Hausgrundstücks waren, einen Anspruch auf Zahlung rückständiger Miete und Räumung geltend. Das Amtsgericht verhandelte in der Sache mehrmals, holte insgesamt vier Sachverständigengutachten über von der Beklagtenseite eingewandte Mängel der Mietsache ein, gab ein Gutachten zur Frage der Prozessfähigkeit des Klägers in Auftrag und übersandte wegen vermeintlich fehlender Prozessfähigkeit des Klägers die Akten der Betreuungsabteilung des Amtsgerichts Minden.

Am 22. Dezember 2005 wurde die Sache zum wiederholten Mal verhandelt. Der auf den 11. Januar 2006 bestimmte Termin zur Verkündung einer Entscheidung wurde auf den 17. Mai 2006 verlegt.

Eine Entscheidung erging aber weder an diesem Tag noch in der Folgezeit. Mit Schreiben vom 22. Juni 2006 mahnte der Kläger "nochmals die Zustellung des Urteils vom 11.01.2006 an".

Mit Schreiben vom 27. August 2012 rügte der Kläger "nochmals die jahrelange Prozessverschleppung und Untätigkeit". Unter dem 9. Januar 2013 findet sich ein Vermerk des neuen Abteilungsrichters, wonach von dem inzwischen aus dem Dienst ausgeschiedenen, zuletzt zuständigen Richter seit dem 11. Januar 2006 die Sache nicht mehr erkennbar bearbeitet worden sei. Termin zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung wurde bestimmt auf Donnerstag, den 4. April 2013. An diesem Tag wurde die Sache verhandelt. Es wurde Termin zur Verkündung einer Entscheidung bestimmt auf den 16. Mai 2013. Der Termin wurde um eine Woche verlegt. Mit einem am 23. Mai 2013 verkündeten Urteil wurde der Klage unter Klagabweisung im Übrigen teilweise stattgegeben. Mittlerweile ist das Berufungsverfahren anhängig (Landgericht B.., 1 S 36/13).

Der Kläger hat mit Anwaltsschriftsatz vom 31-. Juli 2013 einen Antrag auf Prozesskostenhilfe gestellt. Zur Begründung hat er auf einen Klagentwurf vom selben Tag verwiesen, wonach er wegen einer behaupteten Verzögerung von 150 Monaten einen Entschädigungsbetrag in Höhe von 15.000 EUR geltend mache.

Der Senat hat mit Beschluss vom 23. September 2013 unter Zurückweisung des weitergehenden Antrags dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit er im Hinblick auf eine überlange Dauer des Rechtsstreits 5 C 26/97 AG FL einen Betrag in Höhe von 8.700,00 EUR fordert.

Der Kläger beantragt nunmehr (Bl. 71, 37, 4),

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger eine Entschädigung in Höhe von 8.700 EUR zu zahlen.

Die Beklagte beantragt Klagabweisung (Bl. 71, 39).

Sie vertritt insbesondere die Auffassung, es fehle an einer unverzüglich erhobenen Verzögerungsrüge.

Wegen der Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien, die beigezogenen Akten 5 C 26/97 AG R.. sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

A.

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Entschädigung in Höhe von 8.700 EUR nach § 198 Abs. 1 GVG zu.

Nach § 198 Abs. 1 GVG wird, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, angemessen entschädigt, wobei sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens, und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritten richtet. Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat, § 198 Abs. 2 S. 1 GVG. Entschädigung kann nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist, § 198 Abs. 2 S. 2 GVG. Eine zu leistende Entschädigung beträgt 1.200 EUR für jedes Jahr der Verzögerung, wenn das Gericht nicht im Einzelfall einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzt, § 198 Abs. 2 S. 3, 4 GVG. Eine Entschädigung setzt gemäß § 198 Abs. 3 GVG weiterhin grundsätzlich eine Verzögerungsrüge voraus.

1. Art. 23 des Gesetzes vom 24. November 2011 über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011 (BGBl. I S. 2302) steht im Streitfall dem geltend gemachten Entschädigungsanspruch nicht entgegen. Es heißt dort zwar, dass für anhängige Verfahren, die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes schon verzögert sind, § 198 Abs. 3 GVG mit der Maßgabe gilt, dass die Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten (Art. 24 des Gesetzes) erhoben werden muss; dies dient ersichtlich zur Vermeidung eines "dulde und liquidiere". Der üblichen Auslegung dieser Anforderung hat der Kläger nicht entsprochen.

Der Senat bleibt bei seiner bereits im Beschluss vom 23. September 2013 vertretenen Auffassung, wonach der Anspruch des Klägers aber daran nicht scheitert, dies schon deswegen, weil "unverzüglich" in Art. 23 des Gesetzes vom 24. November 2011 in Anlehnung an § 121 BGB zu verstehen ist (so letztlich auch BT-Drs. 17/3802, S. 31 re. Sp.). Die Frage der Unverzüglichkeit ist danach in Abhängigkeit von einem zurechenbaren Verschulden zu sehen (s. a. Palandt-Ellenberger, BGB, 72. Aufl., Rdnr. 3 zu § 121).

Der Senat geht nach wie vor davon aus, dass der Kläger einem entschuldbaren Rechtsirrtum unterlag. Der Kläger war im Verfahren vor dem Amtsgericht Rinteln bereits lange vor dem Jahr 2006 anwaltlich nicht mehr vertreten. Man mag zwar die Ansicht vertreten, dass zum Jahreswechsel 2011/2012 in den allgemein zugänglichen Medien über das neue Gesetz zur Entschädigung bei überlanger Verfahrensdauer berichtet wurde. Dafür, dies auch für die (Rand- und Detail-)Frage einer unverzüglich zu erhebenden Verzögerungsrüge nach den Überleitungsvorschriften anzunehmen, sieht der Senat aber keine Grundlage.

Seine Rechtsunkenntnis dem Kläger zum Vorwurf zu machen und damit seinen Anspruch wegen des jahrelangen Nichtbetreibens des Rechtsstreits vor dem AG R.. zu vereiteln, ist der Senat auch aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert.

Das Grundgesetz gewährleistet durch Art. 2 Abs. 1 GG i. V .m. dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG, den Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz. Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf notwendigerweise einer normativen Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung. In dieser kann der Gesetzgeber auch Regelungen treffen, die für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen vorsehen und sich dadurch für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken. Hierzu gehören Form- und Fristerfordernisse, durch die einer unangemessenen Dauer des Verfahrens entgegen gewirkt wird. Die insoweit notwendigen Regelungen müssen jedoch, was ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, die betroffenen Belange angemessen gewichten und in Bezug auf ihre Auswirkung auf den einzelnen Rechtsuchenden den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Dabei gibt zwar das Rechtsstaatsprinzip nicht im Einzelnen vor, wie der Widerstreit zwischen dem Interesse an Rechtssicherheit und Verfahrensbeschleunigung einerseits und dem subjektiven Interesse des Rechtsuchenden an einem möglichst uneingeschränkten Rechtsschutz andererseits zu lösen ist. Es ist Sache des Gesetzgebers, bei der Ausgestaltung des Verfahrens die einander widerstreitenden Gesichtspunkte abzuwägen und für die einzelnen Abschnitte des gerichtlichen Verfahrens zu entscheiden, welchem von ihnen jeweils der Vorzug zu geben ist. Er muss dabei allerdings, wie ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, die betroffenen Belange angemessen gewichten und in Bezug auf die Auswirkung der Regelung auf den einzelnen Rechtsuchenden den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten (vgl. BVerfG, NJW 1995, 3173).

Soweit die Anwendung findenden Verfahrensregeln einen Auslegungsspielraum lassen, darf ein Gericht diese nicht in einem Sinne auslegen, der zu einem Widerspruch mit den Prinzipien des Grundrechts auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz führen würde (BVerfG, NJW 1993, 1635 [BVerfG 02.03.1993 - 1 BvR 249/92]); der Zugang zu den Gerichten darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Die Auslegung hat überdies die Anforderungen der EMRK, insbesondere deren Art. 6 Abs. 1, zu berücksichtigen und ihnen Rechnung zu tragen; die innerstaatlichen Gerichte haben bei ihrer Entscheidung über Entschädigungsansprüche die Konventionskriterien und deren Auslegung durch den EGMR zu berücksichtigen (vgl. EGMR, NVwZ 2013, 47, Rdnr. 39 bei [...]).

Bei der Abwägung von möglichst wirkungsvollem Rechtsschutz einerseits und Rechtssicherheit andererseits bei gleichzeitiger Würdigung insbesondere von Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt vorJiegend besonders ins Gewicht, dass es bei der in Rede stehenden gesetzlichen Regelung zur Entschädigung bei überlangen Verfahren doch gerade darum geht, Verzögerungen und Untätigkeit seitens der Gerichte zu sanktionieren. Diese Sanktion kann aber schwerlich deshalb in Wegfall geraten, weil derjenige, den das Gesetz schützen will, die ihn treffenden Mitwirkungspflichten nicht erfüllt hat und dazu mangels rechtskundiger Beratung und Vertretung auch gar nicht in der Lage war. Gerade in dem vorliegenden Fall hat der Senat auch die Relation zwischen der über Jahre andauernden offenbar vorsätzlichen Untätigkeit des zuständigen Richters und der bestenfalls fahrlässigen Unkenntnis des Klägers von Art. 23 des Gesetzes vom 24. November 2011 zu berücksichtigen.

In seiner Haltung sieht sich der Senat - im Sinne eines "erst-recht-Schlusses" -durch das Gesetz zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess vom 5. Dezember 2012 bestätigt. Danach (§ 232 ZPO n.F.) hat eine Rechtsbehelfsbelehrung gegenüber einer nicht anwaltlich vertretenen Partei zu erfolgen, dies ungeachtet des Umstands, dass diese vom Gesetzgeber nun besonders geschützte Naturalpartei - anders als vorliegend der Kläger - aufgrund der bereits durchgeführten Instanz allen Anlass hätte, sich über den Bestand von Fristen zu erkundigen. Einen vergleichbaren Anlass hatte der Kläger nicht.

Auf frühere "Verzögerungsrügen" kann es ohnehin nicht ankommen (s. BVerfG, NJW 2008, 503, wonach eine gesetzlich nicht geregelte Untätigkeitsbeschwerde dem Gebot der Rechtsmittelklarheit nicht genügt und eine Partei daher nicht gehalten ist, gegen die Untätigkeit des Gerichts zuvor mit einer Untätigkeitsbeschwerde vorzugehen; s. außerdem OLG Bremen, NJW 2013, 2209, zur Notwendigkeit, eine Rüge nach Inkrafttreten des Gesetzes zu erheben).

Das Urteil des OLG Bremen vom 4. Juli 2013 (NJW 2013, 3109 [OLG Bremen 04.07.2013 - 1 SchH 10/12]) steht der Ansicht des Senats nicht entgegen. Nach Ansicht des OLG Bremen ist jedenfalls eine sieben Wochen nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erhobene Verzögerungsrüge nicht mehr als unverzüglich anzusehen. Das Urteil betrifft einen Sachverhalt, der in einem entscheidenden Punkt von dem hier zur Beurteilung anstehenden abweicht; die dortige Klägerin war, wie das OLG Bremen auch herausstellt (a.a.O., Rdnr. 21) im Ausgangsverfahren anwaltlich vertreten. Nichts anderes gilt für das Urteil des OLG Bremen vom 20. Februar 2013 (NJW 2013, 2209).

2. a) Zur Höhe des Anspruchs legt der Senat weiterhin den Zeitraum von Februar 2006 bis April 2013, je einschließlich, zugrunde. Erst im Mai 2013 wurde wieder der Zustand erreicht, der bereits im Januar 2006 bestanden hatte. Daraus ergibt sich ein Zeitraum von 87 Monaten, entsprechend 8.700 EUR.

b) Ausreichenden Anlass, diesen Betrag entgegen der Regel heraufzusetzen oder zu mindern, sieht der Senat nicht. Insbesondere rechtfertigt der Umstand, dass die Klage - bislang - nur teilweise erfolgreich war, für sich genommen keine Herabsetzung in Abweichung vom Regelbetrag. Der - verfassungsrechtlich verbürgte (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) - Anspruch auf ein innerhalb angemessener Frist durchzuführendes gerichtliches Verfahren entsteht mit dem Beginn des Verfahrens und kann nicht dadurch in Wegfall geraten, dass eine Klage sich als teilweise unbegründet erweist. Ob in Fällen offenkundiger Unbegründetheit der Klage im Ausgangsverfahren etwas Anderes zu gelten hat, ist für den vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt ohne Bedeutung.

c) Nicht ersichtlich ist, dass Entschädigung auf andere Weise möglich wäre, § 198 Abs. 2, 4 GVG. Der Senat versteht, auch wenn der Wortlaut dies nicht nahe legen mag, die Entschädigung als Regelfall (Senat, 23 SchH 2/12, Urteil vom 7. November 2012). Jedenfalls dann, wenn es - wie hier - nicht um nur relativ geringe Verzögerungen geht, ist die bloße Feststellung kein angemessener Ersatz (s. a. EGMR, NJW 2006, 2389, 2394 [EGMR 08.06.2006 - 75529/01], Rdnr. 145). In einer solchen Aussage liegt nichts anderes als die EMRK-konforme Anwendung der §§ 198 ff. GVG (s. a. EGMR, NJW 2007, 1259, 1263 [EGMR 29.03.2006 - 36813/97], Rdnrn. 185 und 204).

B.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 709 S. 1, 713 ZPO.

Ausreichender Anlass für die Zulassung der Revision, § 201 Abs. 2 S. 3 GVG i.V.m. § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO, besteht nicht. Die Fragen der Unverzüglichkeit in Anlehnung an § 121 BGB und die des entschuldbaren Rechtsirrtums sind nicht neu und werfen bei der konkreten Anwendung im Einzelfall auch im Zusammenhang mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011 keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.