Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 25.08.2009, Az.: 13 K 100/09

Verpflichtung zur nachträglichen Anordnung eines Nachprüfungsvorbehalts für einen bestandskräftigen Schätzungsbescheid

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
25.08.2009
Aktenzeichen
13 K 100/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2009, 34275
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2009:0825.13K100.09.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 24.02.2010 - AZ: VIII B 208/09

Keine Verpflichtung zur nachträglichen Beifügung eines Vorbehalts der Nachprüfung bei einem Schätzungsbescheid

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Verpflichtung des Beklagten, den bestandskräftigen Schätzungsbescheid unter den Vorbehalt der Nachprüfung zu stellen.

2

Die Klägerin gab ihre Einkommensteuererklärung 2007 nicht fristgerecht ab. Deshalb schätzte der Beklagte die Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 AO mit Bescheid vom 10.10.2008. Bei der Schätzung legte der Beklagte einen Gewinn als Konzertviolinistin in Höhe von 10.000 EUR, einen Arbeitslohn von 34.964 EUR und Sonderausgaben in Höhe von 2.475 EUR zugrunde. Der Bescheid erging nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.

3

Gegen den Einkommensteuerbescheid 2007 legte die Klägerin am 22.12.2008 Einspruch ein und reichte zugleich die Einkommensteuererklärung 2007 nach. Darin erklärte sie neben einem Verlust als Konzertviolinistin in Höhe von 1.706 EUR Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit in Höhe von 34.964 EUR und Einnahmen aus Kapitalvermögen in Höhe von 1.571 EUR. Der Beklagte wies die Klägerin auf die verspätete Einspruchserhebung hin und forderte sie auf, Wiedereinsetzungsgründe darzulegen. Aufgrund der vorgelegten Einkommensteuererklärung änderte der Beklagte den Einkommensteuerbescheid vom 10.10.2008 mit Bescheid vom 19.01.2009 nach§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und setzte die Einkommensteuer auf 10.074 EUR herauf. Den Einspruch verwarf der Beklagte durch Einspruchsentscheidung vom 27.02.2009. Wiedereinsetzungsgründe wurden nicht dargelegt.

4

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Beifügung eines Vorbehalts der Nachprüfung in den Einkommensteuerbescheid 2007. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, sie sei als Konzertviolinistin in steuerlichen Angelegenheiten völlig unerfahren. Den Steuerbescheid habe sie versehentlich nicht als solchen wahrgenommen. Erst durch eine Mahnung des Finanzamtes sei sie auf die Steuernachzahlung aufmerksam geworden.

5

Gegen den Schätzungsbescheid habe sie Einspruch eingelegt, der damit begründet worden sei, dass Schätzungsbescheide regelmäßig unter dem Vorbehalt der Nachprüfung zu erlassen seien. Dies ergebe sich aus diversen Verwaltungsanweisungen und Finanzgerichtsurteilen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz der Klägerin vom 05.06.2009 (Bl. 24 FGA) verwiesen.

6

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Einkommensteuerbescheid 2007 vom 02.04.2009 einschließlich der vorhergehenden Bescheide aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, dem Einkommensteuerbescheid 2007 einen Vorbehalt der Nachprüfung beizufügen.

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Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Der Beklagte verweist auf seine Ausführungen im Einspruchsverfahren. Ergänzend trägt er vor, dass eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht möglich sei, weil die Klägerin aus dem Inhalt des Einkommensteuerbescheids hätte erkennen können, dass dieser nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen sei. Die Klägerin sei auch nicht steuerlich unerfahren. Sie erhalte seit 2001 Einkommensteuerbescheide. Dabei sei der Schätzungsbescheid für 2005 vom damals zuständigen Finanzamt ebenfalls nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erlassen worden.

9

Mit Bescheid vom 02.04.2009 setzte der Beklagte die Steuer wiederum auf 9.787 EUR herab. Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet und einer Entscheidung durch den Berichterstatter zugestimmt.

Entscheidungsgründe

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I.

Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Änderung des Einkommensteuerbescheides für das Jahr 2007. Der Einkommensteuerbescheid vom 10.10.2008 ist bestandskräftig und kann nicht mehr geändert werden. Der Bescheid vom 02.04.2009 unterliegt der Änderungsbeschränkung des § 42 FGO i.V.m. § 351 Abs. 1 AO.

11

1.

Der Einkommensteuerbescheid vom 10.10.2008 ist mit Ablauf der Einspruchsfrist am 13.11.2008 (§ 355 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 108 Abs. 1 und Abs. 3 AO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB) bestandskräftig geworden. Der von der Klägerin im Dezember eingelegte Einspruch war verspätet und konnte den Eintritt der Bestandskraft nicht mehr verhindern.

12

2.

Die Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides kommt nicht in Betracht. Die Prinzipien des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verbieten Durchbrechungen der Bestandskraft und verlangen einen rechtsbeständigen Abschluss des Verwaltungsverfahrens mit der Folge, dass im Einzelfall auch materiell unrichtige Steuerbescheide in Kauf genommen werden müssen (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, vor § 172, Rz. 2). Im Bemühen, den Prinzipienwiderspruch zwischen materieller Richtigkeit einerseits und Rechtssicherheit andererseits zu entscheiden, hat der Gesetzgeber die Korrekturmöglichkeiten im Wesentlichen auf die Regelungen der §§ 172 ff. AO beschränkt. Die grds. Unabänderbarkeit bestandskräftiger Verwaltungsakte ist zugunsten der materiellen Richtigkeit nur unter bestimmten tatbestandlichen Voraussetzungen zugelassen, die im Streitfall nicht vorliegen. In allen anderen Fällen ist die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes hinzunehmen (vgl. Pahlke/Koenig, 2. Aufl., AO, Vor §§ 172-177 Rz. 1 m.w.N.).

13

Die Änderung des Steuerbescheids zugunsten der Klägerin ist ausgeschlossen, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift zum Zwecke der Beifügung einer Nebenbestimmung nicht vorliegen. Die Klägerin hat insoweit keine Tatsachen vorgetragen, die auch nur ansatzweise auf das Vorliegen einer Änderungsvorschrift hindeuten könnten.

14

3.

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist gemäß § 110 AO kann der Klägerin nicht gewährt werden, da sie im Verwaltungsverfahren keine Wiedereinsetzungsgründe dargelegt hat. Die Klägerin hat insbesondere nicht erläutert, wieso ihr ein fristgerechter Einspruch nicht möglich gewesen sein soll, obwohl dem Einkommensteuerbescheid 2007 vom 10.10.2008 unzweideutig zu entnehmen ist, dass dieser nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist.

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4.

Darüber hinaus erlangt ein bestandskräftiger Steuerbescheid nur dann keine Wirksamkeit, wenn er nichtig ist. Nichtigkeitsgründe, die den Steuerbescheid ausnahmsweise unbeachtlich machen würden, liegen ebenfalls nicht vor.

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a)

Nichtig ist ein Verwaltungsakt nach § 125 Abs. 1 AO, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Mangel leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Wann diese Voraussetzungen erfüllt sind, lässt sich nicht generell, sondern nur von Fall zu Fall entscheiden (BFH-Beschluss vom 30.11.1987 VIII B 3/87, BStBl. II 1988, 183). Dabei sind strenge Maßstäbe anzulegen. Ein Verwaltungsakt ist nicht schon deshalb nichtig, weil ihm die gesetzliche Grundlage fehlt oder weil er auf unrichtiger Rechtsanwendung beruht. Er verdient nur dann ausnahmsweise keine Beachtung, wenn er die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so erheblichen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, ihn als verbindlich anzuerkennen (vgl. u.a. BFH-Beschluss vom 01.10.1981 IV B 13/81, BStBl. II 1982, 133, BFH-Urteil vom 13.05.1987 II R 140/84, BStBl. II 1987, 592).

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Der angefochtene Steuerbescheid weist keine Mängel von solchem Gewicht auf, dass Nichtigkeit anzunehmen wäre. Ein Nichtigkeitsgrund ergibt sich weder unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Gleichbehandlung bei ermessensbindenden Verwaltungsvorschriften noch aufgrund der Höhe der Schätzung.

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b)

Ist der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nicht oder nicht rechtzeitig nachgekommen, hat die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen gem. § 162 AO zu schätzen. Gem. § 164 Abs. 1 Satz 1 AO können die Steuern allgemein oder im Einzelfall unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt werden, ohne dass dies einer Begründung bedarf. Die Entscheidung, die Steuer nicht gemäß § 155 Abs. 1 Satz 1 AO endgültig, sondern unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festzusetzen, steht im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde (§ 5 AO); sie braucht nicht begründet zu werden. Zur Ausübung des Vorbehaltsermessens kann die übergeordnete Finanzbehörde im Wege der Selbstbindung der Verwaltung allgemeine Anwendungsregeln erlassen, die von den nachgeordneten Finanzbehörden für den Regelfall zu beachten sind. Dazu bestimmt der vom Bundesministerium der Finanzen erlassene und bundeseinheitlich geltendeAnwendungserlass zur Abgabenordnung in der Fassung vom 14.02.2000 zu § 162 AO; Tz. 4, dass bei Schätzung der Besteuerungsgrundlagen wegen Nichtabgabe der Steuererklärung die Steuer regelmäßig unter dem Nachprüfungsvorbehalt (§ 164 AO) festzusetzen ist, wenn der Fall für eine eventuelle spätere Überprüfung offen gehalten werden soll. Dies gilt zum Beispiel, wenn eine den Schätzungszeitraum umfassende Außenprüfung vorgesehen oder zu erwarten ist, dass der Steuerpflichtige nach Erlass des Bescheids die Steuererklärung nachreicht. Die unter dem Nachprüfungsvorbehalt stehende Steuerfestsetzung ist, sofern der Steuerpflichtige keinen Einspruch eingelegt bzw. keinen Änderungsantrag gestellt hat und auch keine Außenprüfung vorgesehen ist, bei der Veranlagung für das Folgejahr zu überprüfen.

19

Eine Verpflichtung zur Aufnahme des Nachprüfungsvorbehaltes in allen Schätzungsfällen ist jedoch weder aus dem Gesetz noch aus der Verwaltungsvorschrift abzuleiten (vgl. Hessisches Finanzgericht (FG), Urteil vom 15.03.2001, Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 798 ; FG Köln, Urteil vom 10. November 1995 3 K 3229/94 , EFG 1996, 899 , 900; FG München, Urteil vom 18. April 1995 7 K 2/93 , EFG 1995, 866 ). Auch in der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass kein genereller Anspruch auf eine Vorbehaltsfestsetzung besteht (vgl. Heuermann in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 164 Rz. 8 a m.w.N.).

20

c)

Wie sich dem Wortlaut der Vorschrift entnehmen lässt, steht die Aufnahme des Vorbehalts der Nachprüfung im Ermessen der Finanzbehörde, welches nicht zu begründen ist. Aus der fehlenden Begründungspflicht, die als lex specialis eine Einschränkung des§ 121 Abs. 1 AO enthält und nicht nur für die Aufnahme der Nebenbestimmung, sondern erst recht für deren Nichtbeifügung gilt, ergibt sich zugleich, dass die Finanzverwaltung bei der Entscheidung über die Aufnahme frei ist (vgl. Urteil desNiedersächsischen FG vom 13. Dezember 2005 13 K 427/05, EFG 2006, 864). Denn ohne eine Begründungspflicht kann die Ausübung des Ermessens durch das Finanzgericht mit Ausnahme von groben Verstößen, wie z.B. objektiver Willkür, nicht überprüft werden. Es obliegt deshalb grundsätzlich allein der Einschätzung der Finanzverwaltung, ob und ggf. wann sie eine Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erlassen will. Dies gilt auch, soweit es sich um eine Schätzungsveranlagung handelt. Denn auch bei Schätzungsveranlagungen darf das Finanzamt davon ausgehen, dass der Fall für eine spätere Prüfung nicht mehr offen gehalten werden soll. Die Interessen des Steuerpflichtigen werden zum einen durch die Änderungsvorschriften und zum anderen durch die Anfechtungsmöglichkeit des Schätzungsbescheides hinreichend geschützt (Urteil des Niedersächsischen FG vom 13. Dezember 2005, 13 K 427/05, EFG 2006, 864; Urteil des FG Baden-Württemberg vom 19.05.2008, 6 K 526/07, [...]; Heuermann in: HHSp, § 164 Rz. 8 a m.w.N.).

21

d)

Der Bescheid vom 10.10.2008 wäre auch dann nicht nichtig, wenn entsprechend der Argumentation der Klägerin ein Vorbehalt der Nachprüfung hätte beigefügt werden müssen.

22

Die formelle Fehlerhaftigkeit einer endgültigen Steuerfestsetzung führt nicht zur Nichtigkeit des Steuerbescheids. Denn es handelt sich nicht um einen so schwerwiegenden Mangel, dass die Steuerfestsetzung offensichtlich nicht zu beachten und damit nichtig wäre. Dies ergibt sich bereits daraus, dass Steuerfestsetzungen regelmäßig ohne Vorbehalt der Nachprüfung ergehen, so dass das Fehlen des Nachprüfungsvermerks als im Ermessen der Behörde stehender Ausnahmefall weder einen schwerwiegenden noch einen offensichtlichen Mangel darstellt.

23

e)

Der angefochtene Bescheid ist auch nicht aus anderen Gründen nichtig. Das Finanzamt war zur Schätzung gemäߧ 162 AO berechtigt, da die Klägerin ihre Mitwirkungspflichten verletzt hat. Die Schätzung ist nicht bewusst überhöht oder als unzulässige Strafschätzung zu werten.

24

5.

Der Beklagte hat damit den verspäteten Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid zu Recht als unzulässig verworfen. Ob der während des Einspruchsverfahrens ergangene Einkommensteuerbescheid vom 19.01.2009 zum Gegenstand eines unzulässigen Einspruchsverfahrens werden und Bestand haben konnte, braucht der Senat nicht zu entscheiden, da durch den Änderungsbescheid vom 02.04.2009 die Ausgangslage des Bescheides vom 10.10.2008 wieder hergestellt wurde. Eine Änderung des Bescheides vom 02.04.2009 scheidet aufgrund der Bestandskraft des Bescheides vom 10.10.2008 und der damit verbundenen Anfechtungsbeschränkung gemäߧ 42 FGO i.V.m. § 351 Abs. 1 AO aus.

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II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.