Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 28.09.2006, Az.: 11 LC 185/06
Anspruch auf Erstattung der im Rahmen eines Polizeieinsatzes für eine Türöffnung durch einen Schlüsseldienst entstandenen Kosten; Tätigkeit der Polizei wegen eines Suizidverdachts; Abgrenzung der Zuständigkeiten der Verwaltungsbehörden und der Polizei; Originäre eigene Zuständigkeit der Polizei
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 28.09.2006
- Aktenzeichen
- 11 LC 185/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 32009
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2006:0928.11LC185.06.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs. 2 S. 1 SOG, NI
- § 101 Abs. 1 SOG, NI
- § 105 Abs. 1 SOG, NI
Amtlicher Leitsatz
Wird die Polizei wegen eines Suizidverdachts tätig, handelt sie in originärer Zuständigkeit und trägt die entstehenden Kosten selbst (wie Beschl. v. 19. Januar 2004 - 11 LA 319/03).
Gründe
Das Land Niedersachsen - Kläger - begehrt von der Stadt B. - Beklagte - die Erstattung von Kosten (162,40 EUR), die im Rahmen eines Polizeieinsatzes für eine Türöffnung durch den Schlüsseldienst entstanden sind.
Das Polizeikommissariat B. erhielt am 10. November 2004 um 21.26 Uhr ein Telefax von Herrn C. aus D.. Dieser ist ein langjähriger Berater der in Springe wohnenden Frau E.. In dem Telefax teilte er mit, Frau E., die an psychischen Störungen leide, habe ihm gegenüber Selbstmordgedanken geäußert. Da er sie am 10. November 2004 den ganzen Tag über nicht telefonisch habe erreichen können, mache er sich Sorgen und bitte um Überprüfung. Zwei Beamte des Polizeikommissariats B. fuhren daraufhin gegen 21.45 Uhr zu der Wohnung von Frau Ott, die verschlossen war. Auf das Klingeln wurde nicht geöffnet. Die Polizei rief den Schlüssel-Notdienst herbei, der die Tür um 23.05 Uhr öffnete. Frau E. war nicht in der Wohnung, kehrte aber ca. 5 Minuten später von einem Spaziergang zurück. Der Schlüssel-Notdienst machte für die Türöffnung Kosten in Höhe von 162,40 Euro geltend, die der Kläger beglich. Unter Hinweis auf einen Erlass des Niedersächsischen Innenministeriums vom 25. Januar 1999 (21.1-1201-105) forderte der Kläger diesen Betrag von der Beklagten gemäß § 105 Abs. 1 Nds. SOG zurück. Die Beklagte lehnte eine Kostenerstattung ab.
Daraufhin hat der Kläger Klage erhoben und im Wesentlichen vorgetragen: Gemäß § 105 Abs. 1 Nds. SOG trage die Körperschaft, deren Behörde für die Erfüllung der Aufgaben zuständig sei, die Kosten, die den Verwaltungsbehörden und der Polizei bei Aufgaben der Gefahrenabwehr entstünden. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nds. SOG hätten die Verwaltungsbehörden und die Polizei zwar gemeinsam die Aufgabe der Gefahrenabwehr wahrzunehmen; nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Nds. SOG werde die Polizei dabei jedoch nur tätig, soweit die Gefahrenabwehr durch die Verwaltungsbehörden nicht oder nicht rechtzeitig möglich sei. Es handele sich also nur um eine lediglich subsidiäre Zuständigkeit der Polizei für den ersten Zugriff bei unaufschiebbaren Maßnahmen. Grundsätzlich sei die Beklagte originär zuständig. Gemäß § 101 Abs. 1 Nds. SOG seien nämlich generell die Gemeinden die zuständigen Verwaltungsbehörden für Aufgaben aufgrund des Nds. SOG, soweit für diese Aufgaben keine besonderen Zuständigkeitsregelungen bestünden. Derartige besondere Zuständigkeitsregelungen lägen nicht vor. Die Beklagte müsse ihr daher die Kosten der Türöffnung erstatten. Dieses ergebe sich auch aus dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 23. Juni 1994 (- 12 L 6214/92 -, Nds.VBl. 1994, 60 = OVGE 45, 321), das zu dem o.a. Runderlass geführt habe.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Kosten für eine Türöffnung am 10. November 2004 im Rahmen der Gefahrenabwehr in Höhe von 162,40 Euro zu erstatten.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat in Anlehnung an das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 14. Juli 2004 (3 A 176/02) ausgeführt: Die Polizei sei eigenständig neben den Verwaltungsbehörden für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuständig. Dies ergebe sich bereits daraus, dass der Gesetzgeber die Zuständigkeiten zwischen Polizei und Verwaltungsbehörden nicht näher aufgeschlüsselt habe. Habe die Polizei aber in eigener Zuständigkeit gehandelt, komme ein Kostenausgleich nach § 105 Abs. 1 Nds. SOG nicht in Betracht. Ein derartiger Kostenausgleich habe nur dann zu erfolgen, wenn für die Gefahrenabwehr die rechtliche Zuständigkeit einer dritten Behörde aufgrund einer spezialgesetzlichen Regelung bestehe. Die o.a. Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts stehe dem nicht entgegen.
Mit Urteil vom 25. April 2006 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Es hat die Auffassung vertreten, § 105 Abs. 1 Nds. SOG begründe nur die Kostentragungspflicht einer dritten Behörde, regele dagegen nicht die Kostenpflicht zwischen Verwaltungsbehörde einerseits und Polizei andererseits. Unabhängig davon obliege die Aufgabe der Gefahrenabwehr der Verwaltungsbehörde und der Polizei "gemeinsam". Verwaltungsbehörde und Polizeibehörde handelten daher jeweils in eigener Zuständigkeit. Ein Kostenerstattungsanspruch untereinander sei ausgeschlossen. Dem entspreche es, wenn in § 105 Abs. 2 Nds. SOG eine Kostendeckung lediglich für die kommunalen Gebietskörperschaften im Rahmen des Finanzausgleichs geregelt werde, während es für Polizeibehörden als Landesbehörden einer entsprechenden Regelung nicht bedürfe. Soweit das Oberverwaltungsgericht (Urt. v. 23.6.1994 - 12 L 6214/92 -, a.a.O.) in einem obiter dictum einen Kostenerstattungsanspruch bejaht habe, sei diese Auffassung nicht überzeugend.
Dagegen richtet sich die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Klärungsbedürftigkeit zugelassene Berufung des Klägers. Der Kläger vertieft sein bisheriges Vorbringen und weist nochmals darauf hin, dass die Polizei nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Nds. SOG stets nur subsidiär, aber nicht originär zuständig sei. Anderenfalls werde die Kostentragung dem Zufall überlassen, je nachdem, ob sich der maßgebliche Vorfall am Tag ereigne (wenn eine Verwaltungsbehörde zu erreichen sei) oder in der Nacht (wenn die Eilzuständigkeit der Polizei gegeben sei).
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und nach dem Klagantrag erster Instanz zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie vertritt weiterhin die Auffassung, dass die Polizei in eigener originärer Zuständigkeit gehandelt habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
Die Berufung des Klägers bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger kann gegenüber der Beklagten keine Kostenerstattung begehren, weil das Polizeikommissariat B. in eigener, originärer Zuständigkeit tätig geworden ist.
Gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 des im Zeitpunkt des Einsatzes (November 2004) geltenden Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds. SOG) vom 11. November 2003 (Nds.GVBl. 2003, 414) wird die Polizei im Rahmen der Gefahrenabwehr tätig "soweit die Gefahrenabwehr durch die Verwaltungsbehörde nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint".
Der Senat hat in seinem Beschluss vom 19. Januar 2004 (11 LA 319/03) hierzu ausgeführt:
"§ 1 Abs. 2 Nds. SOG grenzt die Zuständigkeiten zwischen Verwaltungsbehörde und Polizei ab, die grundsätzlich nach § 1 Abs. 1 Nds. SOG gleichermaßen für die Gefahrenabwehr zuständig sind. Gibt es danach für die bestehende Gefahrenlage eine zuständige Verwaltungsbehörde, so ist grundsätzlich diese zuständig. Lediglich wenn die Verwaltungsbehörde diese Gefahr "nicht rechtzeitig" abwehren kann, greift sekundär die polizeiliche Notzuständigkeit ein. Gibt es dagegen für den fraglichen Aspekt der Gefahrenabwehr (überhaupt) keine zuständige Verwaltungsbehörde, (ist also eine Gefahrenabwehr durch die Verwaltungsbehörden "nicht" möglich), so greift die originäre eigene Zuständigkeit der Polizei ein (vgl. Waechter, Polizei- und Ordnungsrecht, Landesrecht Niedersachsen, 2000, S. 213, RdNr. 291 ff.; Ipsen, Nds. Gefahrenabwehrrecht, 2. Aufl., 2001, S. 184, RdNr. 607 ff.). Such- und Fahndungsmaßnahmen nach vermissten Kindern, Kranken und alten Menschen sowie z.B. Maßnahmen bei Selbsttötungsversuchen gehören herkömmlich zu diesem originären Zuständigkeitsbereich der Polizei; denn für Suchmaßnahmen nach Vermissten ist nur die Polizei zum Handeln in der Lage. Die öffentliche Sicherheit ist in diesen Fällen deswegen betroffen, weil aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eine Schutzpflicht des Staates zu Gunsten des menschlichen Lebens folgt (vgl. z.B. zum Einschreiten gegen einen mutmaßlichen Selbstmörder, Wernsmann, JuS 2002, 582). Derartige Maßnahmen erfolgen zudem grundsätzlich im überwiegenden öffentlichen Interesse, so dass in der Regel von dem "Geschützten" keine Gebühren erhoben werden (vgl. z.B. so ausdrücklich der frühere Runderlass des MI vom 05.10.1982, Nds. MBl. 1982, 1835 zu § 2 Abs. 2 Nds. Verwaltungskostengesetz)".
Hieran ist auch nach erneuter Überprüfung festzuhalten. Daraus ergibt sich Folgendes:
Wäre Frau E. nicht erschienen, hätte eine Suchaktion eingeleitet werden müssen. Diese hätte nur die Polizei durchführen können, da nur sie über entsprechend flexibel einsetzbares Personal verfügt. Ebenso gehört etwa der Einsatz von erforderlich werdenden Spürhunden nicht zum Aufgabenbereich einer Verwaltungsbehörde. Schließlich verfügt in der Regel die Polizei über für die Behandlung von etwaigen Selbstmördern psychisch geschulte Beamte (vgl. auch Böhrenz/Unger/Siefken, Nds. SOG, 8. Aufl., § 1 Anm. 8, wonach die Polizei allein für eine Aufgabe zuständig ist, wenn eine Aufgabe erfahrungsgemäß ohnehin ganz überwiegend oder ausschließlich nur von Polizeibeamten wahrgenommen werden kann).
Das Urteil des 12. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 23. Juni 1994 (12 L 6214/92, a.a.O.) steht dem nicht entgegen. In jenem Urteil ging es um die Kosten für das Abschleppen eines verkehrsordnungswidrig abgestellten Fahrzeuges. Das Abschleppunternehmen war von Polizeibeamten benachrichtigt worden. Nach dem o.a. Urteil waren die Kosten zwar von der betreffenden Gemeinde zu begleichen. Da das Kraftfahrzeug jedoch unter Missachtung der Straßenverkehrsordnung geparkt war, oblag es in jenem Verfahren auch in erster Linie der Kommune als Straßenaufsichtsbehörde, für ein ordnungsgemäßes Verhalten zu sorgen. Die Kommune war daher in jenem Fall originär zuständig und die Polizei hatte in jenem Verfahren lediglich aufgrund einer "besonderen Verwaltungsvereinbarung" gehandelt. Eindeutige Rückschlüsse, wie die originäre Zuständigkeit bei einem Verdacht auf Selbstmord zu bewerten ist, lassen sich jenem Urteil aber nicht entnehmen.
§ 105 Abs. 1 Nds. SOG führt ebenfalls nicht weiter. Diese Bestimmung regelt lediglich den Fall, dass eine dritte Behörde an sich für die Aufgabenerfüllung zuständig ist und daher der tätig gewordenen Verwaltungsbehörde bzw. Polizei die anfallenden Kosten erstatten muss.
Auch aus § 101 Abs. 2 Nds. SOG (nunmehr § 97 Abs. 1 Nds. SOG i.d.F. v. 19.1.2005, Nds.GVBl. 2005, 9) lässt sich nichts Gegenteiliges herleiten. Im erstinstanzlichen Urteil wird insoweit zu Recht darauf hingewiesen, dass dieser Bestimmung lediglich zu entnehmen ist, wer zuständige sachliche Verwaltungsbehörde ist, nämlich in der Regel die Gemeinde und nicht z.B. der Landkreis (sog. Auffangzuständigkeit der Gemeinde). Dagegen ist dieser Bestimmung nicht zu entnehmen, ob die originäre Zuständigkeit bei der Verwaltungsbehörde oder bei der Polizei liegt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 Abs. 1 VwGO, 708 Nr. 10 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, da es sich um landesrechtliche Fragen handelt.