Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 24.02.2005, Az.: 2 A 266/04
Altenhilfe; Urlaub
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 24.02.2005
- Aktenzeichen
- 2 A 266/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 50665
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 75 BSHG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Urlaubsreisen für Senioren können Gegenstand der Altenhilfe nach § 75 BSHG sein.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt vom Beklagten die Übernahme von Kosten einer Altenfreizeit aus Sozialhilfemitteln.
Der am ... geborene Kläger wohnt in der „Seniorenwohnanlage M.“ in N.. Er erhält vom Beklagten Hilfe zur Pflege, ist in Pflegestufe I eingeordnet und schwerbehindert. Am 12.12.2002 hat das Amtsgericht O. den Vertreter des Klägers zu dessen Betreuer bestellt und als Aufgabenkreis u. a. die Vermögenssorge sowie die Geltendmachung von öffentlichen Leistungen bestimmt.
Mit Schreiben vom 22.09.2003 beantragte die „Seniorenwohnanlage M.“ für den Kläger die Übernahme von Kosten in Höhe von 260,00 Euro für eine Urlaubsreise für Senioren in die P. (Altenfreizeit). Mit weiterem Schreiben vom 23.04.2004 beantragte der Vertreter des Klägers, ihm Eingliederungshilfe auch für die Teilnahme an einer in der Zeit vom 13.-17.09.2004 veranstalteten Altenfreizeit zu bewilligen. Die Teilnahme an der Maßnahme sei für den Kläger sehr angebracht, da ihm sonst Hospitalisierung drohe. Aus eigenen Mitteln könne er die Kosten für die Fahrt nicht aufbringen.
Mit Bescheid vom 29.04.2004 lehnte der Beklagte die Kostenübernahme für beide Reisen ab. Sie erfüllten nicht die besonderen sozialtherapeutischen Anforderungen, die an eine Kostenübernahme im Rahmen der Eingliederungshilfe zu stellen seien.
Auch im Rahmen der Altenhilfe gem. § 75 BSHG sei eine Kostenübernahme nicht möglich. Eine Vereinsamung des Klägers sei nicht zu befürchten, da die „Seniorenwohnanlage M.“ vielfältige Veranstaltungen wie z.B. den Besuch von Konzerten, Ausstellungen und Vorträgen, die Teilnahme an Spielabenden, Gymnastikstunden und Ausflügen für ihre Bewohner organisiere. Vor einer Kostenübernahme aus Sozialhilfemitteln müsse der Kläger zunächst die Angebote der Einrichtung annehmen. Im Übrigen würden die Kosten für Urlaubsreisen generell nicht übernommen werden.
Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben seines Betreuers vom 25.05.2004 Widerspruch ein. Aufgrund der psychosozialen Folgen seiner jahrelangen Erblindung habe er eine gewisse Scheu gegenüber neuen und größeren Gruppen, weshalb er an den pflegetherapeutischen Veranstaltungen des Altenheims nur sehr eingeschränkt teilnehmen könne. Demgegenüber sei es im Rahmen der Altenfreizeitreisen, die in einer kleinen und überschaubaren Gruppe mit ihm bekannten Pflegepersonal durchgeführt worden seien, möglich, ihn, den Kläger, in seinem gewohnten Umfeld zu begleiten und zu unterstützen. Die Reisen würden seinen behinderungsbedingten Tendenzen der Vereinsamung und der Scheu gegenüber Neuem, Unbekanntem entgegenwirken und ihn motivieren, auch an anderen Veranstaltungen der Einrichtung zukünftig teilzunehmen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 05.07.2004 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Die von der Seniorenwohnanlage durchgeführten streitbefangenen Altenfreizeiten seien reine Urlaubsreisen, die den Anforderungen an therapeutische Gemeinschaftsreisen, die Eingliederungshilfemaßnahmen darstellten, nicht entsprächen. Weder sei eine Betreuung durch behindertenpädagogisch ausgebildetes Fachpersonal gewährleistet noch liege ein Förderprogramm vor. Die kurze Zeitdauer der Fahrten (5 Tage einschl. An- und Abreise) lasse erwarten, dass eine effektive Förderung des behinderten Menschen kaum zu erreichen sei. Auch im Rahmen der Altenhilfe gem. § 75 BSHG komme eine Kostenübernahme hier nicht in Frage. Dem Kläger werde in der Seniorenwohnanlage Hilfe zur Pflege gewährt. Es sei nicht erkennbar, dass die dort erbrachten Leistungen nicht ausreichen würden, ihm eine angemessene Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Auch müsse davon ausgegangen werden, dass er sich seit der Aufnahme im Heim am 01.01.2002 dort inzwischen eingelebt und andere Bewohner kennen gelernt habe. Deshalb sollte es ihm möglich sein, ohne Scheu an den Veranstaltungen des Heims teilzunehmen.
Der Kläger hat am 06.08.2004 Klage erhoben. Zur Begründung lässt er vortragen: Auch bei den Altenfreizeiten werde auf der Basis einer ganzheitlichen, aktivierenden, gesundheitsfördernden Pflege nach dem Pflegemodell „Henderson“ gearbeitet, um die Ressourcen der alten Menschen zu fördern. Des weiteren finde auch eine psychosoziale Betreuung statt. Die Fachlichkeit sei durch examiniertes Pflegefachpersonal gewährleistet. Anspruchsgrundlage für eine Kostenübernahme sei hier § 75 Abs. 2 Nr. 6 BSHG, wonach auch Hilfe zu einer Betätigung geleistet werden solle, wenn sie von den alten Menschen gewünscht werde. Der Kläger sei infolge der jahrelang anhaltenden Erblindung sehr vorsichtig, gleichsam menschenscheu geworden. Viele Dinge des täglichen Lebens, wie z. B. auch Arztbesuche, tätige er meist nur mit ihm sehr vertrauten Personen, die ihm entsprechende Sicherheit gäben. Aufgrund seiner jahrelangen Isolation könne er nur sehr eingeschränkt an einem Leben in der Gemeinschaft teilnehmen. Entsprechenden Defiziten könnte in einer Freizeitfahrt entgegen gewirkt werden. Demgegenüber sei dies in der Seniorenwohnanlage selbst nur eingeschränkt möglich, weil sich das Personal um wesentlich mehr Bewohner zu kümmern habe. Das Personal der Seniorenwohnanlage sei auch behindertenpädagogisch geschult. Für jeden Bewohner und somit jeden Reiseteilnehmer sei ein individuelles Förderprogramm aufgestellt worden, weshalb die Teilnehmergruppen auch entsprechend zusammengestellt worden seien.
Der Kläger hat zunächst sinngemäß beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 29.04.2004 und des Widerspruchsbescheides vom 05.07.2004 zu verpflichten, die angefallenen Kosten für die Altenfreizeiten vom September 2003 in Höhe von 260,00 Euro sowie für die Altenfreizeit im September 2004 im Rahmen der Gewährung von Eingliederungshilfe aus Sozialhilfemitteln zu übernehmen.
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger die Klage hinsichtlich einer Kostenübernahme für die Reise im Jahr 2003 zurückgenommen.
Er beantragt nunmehr,
den Beklagten unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 29.04.2004 und des Widerspruchsbescheides vom 05.07.2004 zu verpflichten, über seinen Antrag vom 23.04.2004 wegen der Kostenübernahme für eine Altenfreizeit vom 13.-17.09.2004 nach L., an der er teilgenommen hat, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verteidigt die angefochtenen Bescheide und führt ergänzend aus, dass sich bereits aus den Ausführungen des Klägers ergebe, dass die Betreuer bei der streitbefangenen Altenfreizeit kein behindertenpädagogisch geschultes Personal, sondern lediglich Pflegefachpersonal seien. Dass für die Reisen ein eigenes Förderprogramm erarbeitet worden sei, in dem die besonderen Ziele und Maßnahmen der Reise unter Beachtung der jeweiligen persönlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse der Teilnehmer im Einzelnen dargelegt würden, sei nicht erkennbar. Vielmehr handele es sich um eine schlichte Urlaubsreise, die nicht aus Sozialhilfemitteln förderungsfähig sei.
Auch auf § 75 BSHG könne sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen. Die Seniorenwohnanlage biete nämlich ein umfangreiches Veranstaltungsangebot an, das einer Vereinsamung des Klägers entgegenwirke.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Das Verfahren ist gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, soweit der Kläger zunächst die Verpflichtung des Beklagten zur Übernahme der Kosten für eine Altenfreizeit im September 2003 aus Sozialhilfemittel begehrt hatte. Denn insoweit hat er seine Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.
Im Übrigen ist die nur noch auf ein Bescheidungsurteil hinsichtlich der Kostenübernahme der Altenfreizeit im Jahr 2004 gerichtete Klage zulässig und begründet.
Allerdings ergibt sich dies nicht bereits aus den Vorschriften über Eingliederungshilfe (§§ 39 ff. BSHG). Zur Eingliederungshilfe gehört gem. § 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG zwar auch die Hilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. In §§ 55, 58 SGB IX wird hierzu näher ausgeführt, dass die Hilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft Maßnahmen umfasst, die geeignet sind, dem Behinderten die Begegnung und den Umgang mit nichtbehinderten Personen zu ermöglichen, zu erleichtern oder diesen vorzubereiten. Ob der Kläger im Jahr 2004 tatsächlich im Sinne von § 39 Abs. 1 BSHG seelisch wesentlich behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht war, kann dahinstehen. Denn die streitbefangene Altenfreizeit entsprach nicht den Anforderungen, die der Beklagte als Kostenträger und auch das Gericht an sog. Gemeinschaftsreisen, die als Eingliederungshilfemaßnahmen anerkannt werden sollen, stellen. Hierzu gilt Folgendes: Die Reise muss so konzipiert sein, dass die Fähigkeit ihrer Teilnehmer zur Kontaktaufnahme mit nicht behinderten Menschen bzw. zur Herstellung neuer sozialer Beziehungen gefördert oder gestärkt wird. Behinderten Reiseteilnehmern soll somit am Zielort die Begegnung und der Umgang mit nichtbehinderten Personen ermöglicht oder erleichtert werden. Es sollen neue Eindrücke vermittelt und die Entwicklung der Aktivitäten gefördert werden. Dabei ist die Teilnahme von geeignetem Fachpersonal als Betreuungspersonen zu gewährleisten und vor Durchführung der Reise ein entsprechendes Förderprogramm für die Reiseteilnehmer zu erstellen und schriftlich niederzulegen, so dass ein Kostenträger das Konzept der Reise nachvollziehen kann (vgl. Urteil der Kammer vom 11.04.2000 - 2 A 2103/99 -, vom 27.02.2002 - 2 A 2057/01 -, bestätigt durch Beschluss des Nds. OVG vom 01.08.2002 - 12 LA 354/02; vgl. auch die zu sozialtherapeutischen Gemeinschaftsreisen ergangenen Hinweise des NLZSA im Rundschreiben Nr. 1/2002).
Die streitbefangene Altenfreizeit in L. genügt nicht den vorstehenden Anforderungen. Aus dem Vorbringen des Klägers ergibt sich nämlich nichts, was die Reise anders als eine reine Urlaubsreise kennzeichnen würde. Der Kläger hat weder behauptet noch dargelegt, dass diese Reise geeignet gewesen sei, ihm besondere soziale Kontakte zu Nichtbehinderten zu ermöglichen oder dass es irgendein sozialpädagogisches, auf ihn zugeschnittenes Betreuungskonzept gab. Auch im Internetauftritt der „Seniorenwohnanlage M.“ wird lediglich von einer jährlichen „Urlaubsreise“ gesprochen, die das Heim seinen Bewohnern anbietet. Handelt es sich bei den streitbefangenen Fahrten somit um Urlaubsreisen, kommt eine Finanzierung aus Mitteln der Eingliederungshilfe nicht in Betracht.
Der Beklagte geht im angefochtenen Bescheid vom 29.04.2004 allerdings rechtsirrig davon aus, dass sich aus der Vorschrift im Bundessozialhilfegesetz über Altenhilfe (§ 75) kein Anspruch des Klägers auf eine - zumindest teilweise - Finanzierung der Altenfreizeit ergibt. Nach § 75 BSHG soll alten Menschen außer der Hilfe nach den übrigen Bestimmungen des BSHG Altenhilfe gewährt werden. Sie soll dazu beitragen, Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu verhüten, zu überwinden oder zu mildern und alten Menschen die Möglichkeit erhalten, am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen. Die Vorschrift will Hilfen bei altersbedingten Schwierigkeiten ermöglichen, die in anderen Vorschriften des Gesetzes nicht vorgesehen sind (OVG Lüneburg, Urteil vom 18.08.1982 - 4 A 35/82 -, FEVS 33, 20). Soweit in § 75 Abs. 2 BSHG Maßnahmen aufgeführt sind, die als Altenhilfe vor allem in Betracht kommen, ist diese Aufzählung allerdings keineswegs erschöpfend (vgl. Schellhorn, BSHG, 15. Aufl., Rn. 9 zu § 75). Dass eine Finanzierung oder ein Zuschuss zu einer Altenfreizeit in diesem Katalog nicht aufgeführt ist, steht somit einem Anspruch des Klägers nicht entgegen. Eine mögliche Hilfe im Rahmen der Altenhilfe kann durchaus auch die Ermöglichung eines Erholungsurlaubs sein (so ausdrücklich Schellhorn, a.a.O., Rn. 17 ebenso Münder in: LPK-BSHG § 75 Rn. 20). Soweit der Beklagte in den angefochtenen Bescheiden die Auffassung vertritt, eine derartige Hilfe an den Kläger sei nicht notwendig, da das Heim, in dem er lebt, vielfältige andere Aktivitäten zur Freizeitbeschäftigung anbietet, die ihm eine Begegnung mit anderen Menschen ermöglichen, teilt die Kammer diesen Einwand nicht. Eine mehrtägige Urlaubsreise vermittelt den Teilnehmern ganz andere Eindrücke von der Umgebung als etwa Tagesausflüge. Zutreffend weist der Betreuer des Klägers in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine solche Fahrt, bei der der Kläger „gezwungen“ ist, sich aktiv auf andere Menschen einzustellen, so z.B. auf seinen Zimmernachbarn, Vereinsamungstendenzen und der Scheu des Klägers, sich auf Neues einzulassen, entgegenwirkt. Diese Aspekte eines Urlaubs können durchaus positive Nachwirkungen auf das weitere Leben des alten Menschen in der Senioreneinrichtung haben und hier den Kläger motivieren, zukünftig auch im täglichen Umfeld auf seine Mitmenschen aktiv zuzugehen.
§ 75 BSHG ist eine „Soll-Vorschrift“, Altenhilfe ist also in der Regel zu gewähren. Der Sozialhilfeträger hat allerdings einen Spielraum zu entscheiden, in welchem Umfang er die Hilfe gewährt, in welcher Höhe er also bei wie hier als erforderlich einzustufenden Maßnahmen finanzielle Leistungen erbringt. Eine volle Kostenübernahme dürfte selten in Betracht kommen, weil Ausflugsfahrten wie die streitbefangene nicht alleine der Überwindung altersbedingter Schwierigkeiten dienen. Sie haben in gewichtigem Maße auch Freizeitcharakter. Zu bedenken ist aber, dass alte Menschen, die in einem Heim untergebracht sind, allgemein Vereinsamungstendenzen ausgesetzt sind, denen mit derartigen Ausflugsfahrten entgegengewirkt werden kann. Die persönliche Situation des Klägers ist zudem geprägt durch seine Sehbehinderung und eine damit einhergehende Kontaktarmut. Deshalb vermag die Kammer dem Beklagten nicht - was zunächst vom Kläger begehrt war - die vollständige Kostenübernahme aufzugeben, sondern lediglich eine Verpflichtung zur Neubescheidung auszusprechen. Bei seiner Entscheidung ist der Beklagte nicht an § 75 Abs. 4 BSHG gebunden. Diese Regelung gilt für die von der Vorschrift hauptsächliche in den Blick genommenen offenen Hilfsangebote und findet keine Anwendung, wann, wie hier, Geldleistungen erbracht werden (vgl. Münder, a.a.O. Rn. 24).
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 und 2, 188 S. 2 VwGO. Ihre vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.