Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 30.06.2004, Az.: 13 B 2727/04
Zuständigkeit; Antrag
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 30.06.2004
- Aktenzeichen
- 13 B 2727/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 43538
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGOLDBG:2004:0630.13B2727.04.0A
Rechtsgrundlagen
- 14 SGB IX
- 35a SGB VIII
Gründe
Der nach § 123 Abs. 2 VwGO zu beurteilende Antrag ist zulässig und begründet. Eine einstweilige Anordnung kann unter anderem zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn eine Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile oder aus sonstigen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) als auch die Eilbedürftigkeit der begehrten Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht werden (§ 123 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Antragstellerin hat insbesondere auch das Vorliegen eines Anordnungsanspruches glaubhaft gemacht. Dabei muss sich die Kammer im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehende Entlassung der Antragsstellerin aus dem Wichernstift auf eine rein summarische Prüfung beschränken. Bei Würdigung der vorliegenden Unterlagen hat die Antragstellerin gegen den Antragsgegner aller Voraussicht nach einen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der Übernahme der Kosten für die beantragte und beabsichtigte stationäre Unterbringung im Haus "Wümmetal" in Rotenburg in dem tenorierten Umfang.
Gemäß § 35a Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB VIII in der hier maßgeblichen Fassung vom 19. Juni 2001 (BGBl. I, 1046) haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Die Kammer geht davon aus, dass beide Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII derzeit voraussichtlich erfüllt sind.
Der Antragsgegner ist für die begehrte Jugendhilfeleistung auch zuständig. Zwar hat der Antragsgegner mit Schreiben vom 9. Juni 2004 den Antrag auf Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII unter Hinweis darauf, dass er nicht zuständig sei, an die AOK Oldenburg weiter geleitet. Dies ergibt sich aus dem Schreiben der AOK Oldenburg an den Antragsgegner vom 25. Juni 2004. Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist der Rehabilitationsträger aber verpflichtet, wenn Leistungen zur Teilhabe beantragt werden, innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages bei ihm festzustellen, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist. Der Antragsgegner ist Rehabilitationsträger im Sinne dieser Vorschrift gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX. Die festgelegte Zwei-Wochen-Frist ist im Interesse der Betroffenen eine Ausschlussfrist. Verstreicht diese Frist, so ist nach § 14 Abs. 2 SGB IX zu verfahren, auch wenn der danach verpflichtete Rehabilitationsträger offenkundig nicht zuständig ist (LPK-SGB IX, Kommentar, Stand: 2002, § 14 Rdnr. 9; Ernst, Adlhoch, Seel, Sozialgesetzbuch IX, Kommentar, Stand: April 2002, § 14 SGB IX Rdnr. 15). Dies bedeutet, dass nach Ablauf der Zwei-Wochen-Frist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX eine Weiterleitung des Antrages nicht mehr möglich ist. Der erstangegangene Träger muss in diesem Fall über den Antrag unverzüglich, spätestens drei Wochen nach Antragseingang, entscheiden (Lachwitz, Schellhorn, Welti, HK-SGB IX, 2002, § 14 Rdnr. 31). Vorliegend kann sich der Antragsgegner nicht mit Erfolg auf eine Weiterleitung gemäß § 14 SGB IX an die AOK Oldenburg berufen. Da die Zwei-Wochen-Frist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bei der Weiterleitung des Antrages nach Aktenlage nicht gewahrt wurde, ist bei dem Antragsgegner gesetzlich eine Zuständigkeit für den Antrag begründet worden.
Der hier maßgebliche Antrag im Sinne von § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ergibt sich aus dem Schreiben der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Wichernstift 10. Mai 2004, beim Antragsgegner eingegangen am 14. Mai 2004, in Verbindung mit dem zwischen dem Jugendamt des Antragsgegners und der Mutter der Antragstellerin am 17. Mai 2004 geführten Gespräches, über das ein Aktenvermerk gefertigt worden ist. Der Begriff des Antrages ist im Gesetz nicht definiert. Ein Antrag liegt vor, wenn der Leistungsberechtigte zum Ausdruck bringt, dass er die Bewilligung einer bestimmten Leistung begehrt (Ernst, Adlhoch, Seel, SGB IX, Kommentar, a.a.O., § 14 Rdnr. 7; Lachwitz, Schellhorn, Welti und andere, SGB IX, Kommentar, a.a.O., § 14 Rdnr. 13). Nicht ausreichend für das Vorliegen eines Antrages ist es hingegen, wenn der Betroffene sein Problem lediglich beschreibt und allgemein um Hilfe bietet. Aus das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung gegenüber dem öffentlichen Jugendhilfeträger kann grundsätzlich auch nicht verzichtet werden. Das Achte Buch Sozialgesetzbuch enthält insbesondere keine Vorschrift, die - wie § 5 BSHG - eine antragsunabhängige, schon aufgrund Kenntnis der Behörde von ihren rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen einsetzende Hilfe vorsieht (BVerwG, Urteil vom 28. September 2000, 5 C 29/99, BVerwGE, 112, 98 ff.). Allerdings ist der Leistungsträger nach § 16 Abs. 3 SGB I verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt und unvollständige Anträge ergänzt werden. Dies zugrundegelegt geht die Kammer davon aus, dass es sich bei dem Schreiben des Wichernstiftes vom 10. Mai 2004 in Verbindung mit dem zwischen dem Jugendamt des Antragsgegners und der Mutter der Antragstellerin bzw. der Antragstellerin selbst am 17. Mai 2004 geführten Gesprächs um einen Antrag im Sinne von § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX handelt. Zwar ist das Schreiben des Wichernstifts vom 10. Mai 2004, der an das Jugendamt des Antragsgegners gerichtet ist, in Form eines Gutachtens abgefasst. Aus den Ausführungen auf Seite 7 a.E. wird aber das Begehren deutlich. Dort ist ausgeführt:
"Ohne jeden Zweifel ist C. von einer seelischen Behinderung massiv bedroht. Ohne die im Folgenden beschriebenen umfänglichen Hilfen im Rahmen der Jugendhilfe gemäß § 35a KJHG/§ 41 KJHG hätte C. keine realistische Perspektive für eine soziale und berufliche Integration in der Gesellschaft."
Und im weiteren Text des Schreibens heißt es:
"Um den bisherigen Behandlungserfolgt der Patientin nicht massiv zu gefährden, sollte die Patientin von hier aus direkt in die Nachfolgeeinrichtung verlegt werden, in der sie in den nächsten Jahren leben wird. Dies ist von besonderer Bedeutung, da die Patienten auf die Konstanz der erwachsenen Bezugspersonen angewiesen ist. Die aktuelle Zusage der Kostenübernahme für die Behandlung endet am 19. Mai 2004. Eine entsprechende weitere Kostenübernahme durch die Krankenkasse vorausgesetzt planen wir die Entlassung C. gegen Ende des Monats Juni 2004."
Diese Ausführungen lassen bereits erkennen, dass für die Antragstellerin Eingliederungshilfe in Form einer (weiteren) stationären Unterbringung begehrt wird. Auch die Notwendigkeit einer "Anschlussbehandlung" wird in dem Schreiben hinreichend deutlich. Der Einwand des Antragsgegners, dass das Schreiben des Wichernstiftes vom 10. Mai 2004 nicht die Mindestvoraussetzungen erfülle, die an einen Antrag zu stellen seien, weil die Hilfegewährung nicht von der (allein sorgeberechtigten) Kindesmutter bzw. von der Antragstellerin selbst (vgl. § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I) gestellt worden sei, wirkt sich bezogen auf die Frist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX hier nicht entscheidungserheblich aus. Denn das Jugendamt des Antragsgegners hat bereits am 17. Mai 2004 ein Gespräch mit der Antragstellerin und ihrer Mutter über den Hilfebedarf der Antragstellerin geführt. Dies ergibt sich eindeutig aus dem in den Verwaltungsvorgängen des Antragsgegners befindlichen Vermerk vom 18. Mai 2004. Danach hat das Gespräch mit der Kindesmutter ergeben, dass diese mit der derzeitigen Situation überfordert sei und die Antragstellerin nach dem Psychiatrie-Aufenthalt zu Hause nicht betreuen könne. In Verbindung mit dem Schriftsatz des Wichernstiftes war für den Antragsgegner somit spätestens am 17. Mai 2004 hinreichend erkennbar, dass nach der Entlassung der Antragstellerin aus dem Wichernstift die Gewährung einer Teilhabeleistung im Sinne von § 5 SGB IX in Form einer weiteren stationären Unterbringung notwendig ist. Aufgrund dieses Gesprächs wurde der Mutter der Antragsgegnerin am 18. Mai 2004 auch ein (vorformulierter) Antrag auf Hilfe zur Erziehung übersandt, der von dieser dann unterschrieben zurückgereicht wurde. Dabei ist es auch unschädlich, dass ausweislich des Vermerks vom 18. Mai 2004 als in Frage kommende Einrichtung seitens der Psychiatrie die "Lepper-Mühle" in Giesen genannt wurde. Denn der Antrag im Sinne von § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX muss nicht von vornherein konkret gegenständlich sein. Es genügt, wenn sich der Antrag zunächst auf die Rehabilitation als Verfahren bezieht (Lachwitz, Schellhorn/Welti, SGB IX, Kommentar, a.a.O., § 14 Rdnr. 14). Schließlich hätte der Antragsgegner gegebenenfalls nach § 16 Abs. 3 SGB I darauf hinwirken müssen, unverzüglich einen klareren und sachdienlicheren Antrag zu stellen. Dies entspricht auch den Zweck der Regelung des § 14 SGB IX, wonach im Interesse von Leistungsberechtigten und Rehabilitationsträgern die Zuständigkeit beschleunigt geklärt wird und die Leistung möglichst schnell erbracht werden kann (BT-Drs. 14/5074, 102). Der hier gegebene Zuständigkeitsstreit zwischen dem Antragsgegner und der AOK Oldenburg darf sich nicht zu Lasten der Antragstellerin auswirken. Da somit spätestens am 17. Mai 2004 bei dem Antragsgegner ein Antrag i.S.v. § 14 SGB IX gestellt worden ist, ist die Zwei-Wochen-Frist des § 14 SGB IX hier voraussichtlich nicht gewahrt. Der Antragsgegner ist demnach - wie oben dargelegt - weiterhin zuständig.
Bei der hier gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung geht die Kammer davon aus, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII erfüllt sind. In dem genannten Schriftsatz des Wichernstifts vom 10. Mai 2004 wird unter Beschreibung der Befunde ausgeführt, dass die Antragstellerin "ohne jeden Zweifel von einer seelischen Behinderung massiv bedroht sei". Diese Einschätzung ist anhand der weiteren Ausführungen in dem Schreiben des Wichernstifts vom 10. Mai 2004 nachvollziehbar. Die Kammer geht derzeit auch davon aus, dass als Folge der altersuntypischen Abweichung in der seelischen Gesundheit die Teilhabe der Antragstellerin am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Gegebenenfalls muss dies aber noch weiter aufgeklärt werden. Im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehende Entlassung der Antragstellerin aus dem Wichernstift Ende Juni 2004 und der dringenden Notwendigkeit einer Anschlussbehandlung hält die Kammer aber derzeit die tenorierte Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der Kosten für die Anschlussbehandlung in der Einrichtung "Wümmetal", Rotenburg, für notwendig. Aufgrund der überzeugenden Ausführungen in dem Schreiben des Wichernstifts vom 10. Mai 2004 vermag sich die Kammer der Einschätzung des Gesundheitsamts des Antragsgegners, dass eine Reha-Maßnahme in Betracht kommt (vgl. Vermerk Dr. P. vom 24. Juni 2004), nicht anzuschließen.