Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 06.07.2005, Az.: S 23 SO 195/05 ER
Anschaffung; Arzt; Behandlung; behindertengerechtes Kraftfahrzeug; Behinderter; behinderter Mensch; Behinderung; Beihilfe; Benutzung; Beschaffung; eigenes Kraftfahrzeug; Eingliederung; Eingliederungshilfe; Fahrt; gelegentliche Fahrt; Kfz; Kosten; Kraftfahrzeughilfe; Krankenkasse; Mietauto; Mietwagen; Mobilität; notwendige Fahrt; Notwendigkeit; Pkw; Sicherstellung; Sozialhilfe; ständige Benutzung; Taxi; Teilhabe; ärztlich verordnete Behandlung; öffentliches Verkehrsmittel; Übernahme
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 06.07.2005
- Aktenzeichen
- S 23 SO 195/05 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 50943
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 60 SGB 12
- § 8 Abs 1 BSHG§47V
Tenor:
Die Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden abgelehnt.
Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners, ihm aus Mitteln der Eingliederungshilfe eine Beihilfe für die Anschaffung eines behindertengerechten Kraftfahrzeuges zu gewähren.
Der ... 1996 geborene Antragsteller ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100; ihm sind die Merkmale G, aG und RF zuerkannt worden.
Am 24. Mai 2005 beantragte er beim Antragsgegner mündlich eine Beihilfe für die Beschaffung eines Kfz, da sein bisheriges Fahrzeug wegen eines Motorschaden nicht mehr zu reparieren sei. .... Er wohne in G. und könne mit seinem Rollator nicht mehr als 200 m zurücklegen. In die dort fahrenden Busse könne er nicht einsteigen. Er wolle am gesellschaftlichen kulturellen Leben teilnehmen und sei bisher 4x wöchentlich zum Schwimmen gefahren, sei Mitglied in der H. in I. sowie in einer Behindertensportgruppe in J., die sich einmal monatlich zu Kegeln treffe. Ferner spiele er 1 x wöchentlich Schach in K., und 1 x wöchentlich Handball in L..
Nach Einschaltung seines Gesundheitsamtes lehnte der Antragsgegner den Antrag mit Bescheid vom 15. Juni 2005 ab. Zur Begründung führte er aus, eine Beihilfe zur Anschaffung eines Kfz komme nur in Betracht, wenn der Behinderte zum Zwecke der Eingliederung vor allem in das Arbeitsleben oder aus vergleichbar gewichtigen Gründen auf die Benutzung eines Kfz angewiesen sei. Nach der amtsärztlichen Stellungnahme sei es dem Antragsteller grundsätzlich möglich, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, zumal die Gehwege in seiner Umgebung in einem Zustand seien, der die Benutzung eines Rollators oder Rollstuhls möglich mache. Es geben in M. auch öffentlichen Personennahverkehr. Die angegebenen Nutzungszwecke seien keine vergleichbar gewichtigen Gründe wie die Eingliederung ins Arbeitsleben, sondern nur wünschenswert, aber nicht notwendig.
Am 23. Juni 2005 hat sich der Antragsteller an das Gericht gewandt.
Er trägt ergänzend vor, in M. verkehre nur dreimal täglich ein Bus, in den er aber nicht einsteigen könne, da es sich nicht um einen Niederflurbus handele. Der Amtsarzt habe sich kein zutreffendes Bild von seiner tatsächlichen Situation gemacht. Er könne nicht zu Hause sitzen und darauf warten, dass ihn jemand am gesellschaftlichen Leben teilnehmen lasse.
Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen.
Er trägt vor, auf den Antragsteller sei am 26. Mai 2005 ein Pkw Ford Fiesta zugelassen worden, den er möglicherweise schon vor seinem Antrag beim Sozialamt gekauft habe. Eine zwingende Notwendigkeit für die Anschaffung eines Pkw bestehe nicht, zumal sich der Antragsteller beim Besuch des Amtsarztes sich mithilfe eines Gehstocks habe fortbewegen können.
Nach telefonischer Auskunft der Fa. N. hat diese auf den Antragsteller einen Pkw Ford Fiesta (ohne Umbauten) zugelassen, der dem Antragsteller gegen eine Leihgebühr übergangsweise zur Verfügung gestellt werde. Ein Kaufvertrag über dieses Fahrzeug, das für den Antragsteller eigentlich zu klein sei, sei nicht geschlossen worden.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des ersten Rechtszuges.
Voraussetzung für den Erlass der hier vom Antragsteller begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG, mit der er Leistungen begehrt, ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein Anspruch des Antragstellers auf die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Im vorliegenden Verfahren ist der Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
Nach § 60 SGB XII i.V.m. § 8 Abs. 1 EingliederungshilfeVO gilt die Hilfe zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. §§ 33 und 55 SGB IX. Sie wird im angemessenen Umfang gewährt, wenn der behinderte Mensch wegen Art oder Schwere seiner Behinderung insbesondere zur Teilnahme am Arbeitsleben auf die Benutzung des Kraftfahrzeuges angewiesen ist; bei Teilhabe am Arbeitsleben findet die Kraftfahrzeughilfe-Verordnung Anwendung.
Maßstab ist nach diesen Vorschriften wie nach den §§ 39 ff BSHG, die zum 31. Dezember 2004 außer Kraft getreten sind, dass der Behinderte wegen seiner Behinderung auf die regelmäßige Benutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen ist und die Versorgung im Hinblick auf das Ziel der Eingliederungshilfe notwendig ist. Deren Sinn und Zweck ist es, den Behinderten durch die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und durch die Eingliederung ins Arbeitsleben nach Möglichkeit einem Nichtbehinderten gleichzustellen und ihm zu ermöglichen, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben. Zu § 8 EingliederungshilfeVO hat das Bundesverwaltungsgericht unter Hinweis auf den Zweck der Eingliederungshilfe entschieden, dass die Notwendigkeit der Benutzung ständig, nicht nur vereinzelt oder gelegentlich bestehen muss. Dabei ist auf die gesamten Lebensverhältnisse des Behinderten abzustellen und die Notwendigkeit zu verneinen, wenn die erforderliche Mobilität des Behinderten auf andere Weise sichergestellt ist. Sofern die Eingliederung durch andere Hilfen, z. B. Benutzung eines Krankenfahrzeuges oder von öffentlichen Verkehrsmitteln oder durch die Übernahme der Kosten eines Taxis oder Mietautos erreicht werden kann, ist der Behinderte nicht auf die Benutzung eines eigenen Kraftfahrzeuges ständig angewiesen. Für lediglich gelegentliche Fahrten kann die Notwendigkeit der Beschaffung eines eigenen Kraftfahrzeuges nicht bejaht werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.7.2000 – 5 C 43.99, BVerwGE 111, 328).
Hier ist nach der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung die Notwendigkeit einer Beihilfe zur Beschaffung eines eigenen Kfz nicht gegeben.
Soweit es um notwendige Fahrten zu Ärzten oder ärztlich verordneten Behandlungen geht, werden die Kosten für diese Fahrten im Falle ihrer Notwendigkeit von den zuständigen Krankenkassen bis auf einen Eigenanteil übernommen (vgl. VG Münster, Urt. v. 1.4.2003 – 5 K 1640/99 –). Soweit der Antragsteller aus medizinischen Gründen auf regelmäßiges Schwimmen angewiesen ist, ist er auf diesen Weg zu verweisen.
Durch die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft soll der Behinderte nach Möglichkeit einem Nichtbehinderten gleichgestellt werden. Auch für Nichtbehinderte gewährleistet die Sozialhilfe die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft jedoch nur in vertretbarem Umfang. Zudem ist zu beachten, dass auch Nichtbehinderte, die aus wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen kein eigenes Kraftfahrzeug haben, nicht beliebig oft an kulturellen oder sonstigen Veranstaltungen teilnehmen oder Besuchsreisen durchführen können (vgl. VG Münster, a.a.O.). Deshalb ist der Antragsteller für die Teilnahme an kulturellen und sonstigen Veranstaltungen, insbesondere der zahlreichen Vereine, der er angehört, gehalten, entweder öffentliche Verkehrsmittel, gegebenenfalls das Taxi, oder mit Hilfe Dritter Mietautos zu benutzen. Nach dem Eindruck des Amtsarztes kann sich der Antragsteller mit einem Handstock noch ausreichend flüssig bewegen; da es ihm offenbar auch möglich ist, sich ohne fremde Hilfe in einen sehr niedrigen Kleinwagen (Ford Fiesta) zu begeben und damit zu fahren, obwohl auch größere gesunde Menschen nur mit Mühe in dieses Fahrzeug einsteigen können, hält es das Gericht für wahrscheinlich, dass der Antragsteller auch in einen Bus ohne fremde Hilfe einsteigen kann.
Auch ein Anordnungsgrund ist nicht glaubhaft gemacht.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt eine solch dringliche Notlage voraus, dass eine sofortige Entscheidung notwendig ist. Deshalb muss im Einzelfall dargelegt werden, dass keine anderweitige Hilfe möglich ist (vgl. Armborst/Conradis in LPK-SGB XII, 1. Aufl. 2005, Anhang Verfahren Rn. 119). Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand des Gerichts hat sich der Antragsteller durch Anmietung eines immerhin auf ihn zugelassenen Pkw zunächst selbst geholfen, so dass die unmittelbare Eilbedürftigkeit entfallen ist. Im Übrigen wäre dem Antragsteller wohl auch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zumindest für die Dauer des Hauptsacheverfahrens zuzumuten, da eine vorläufige Anschaffung eines Pkw nicht möglich ist und eine Bewilligung infolge der Be- und Abnutzung des Pkw die Hauptsache endgültig vorweg nehmen würde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG, die Entscheidung über Prozesskostenhilfe auf §§ 73 a SGG, 114 ZPO.