Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 27.10.2010, Az.: 16 K 65/10
Bestehen einer durch Vollzugsmängel hervorgerufenen Belastungsungleichheit bei der Besteuerung der Umsätze aus sexuellen Dienstleistungen von Prostituierten; Zahlung der Umsatzsteuer bei selbstständiger Tätigkeit als Unternehmer durch steuerpflichtige sonstige Leistungen
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 27.10.2010
- Aktenzeichen
- 16 K 65/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 37820
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2010:1027.16K65.10.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BFH - 16.06.2011 - AZ: XI B 120/10
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG
- § 13 Abs. 2 UStG
- Art. 3 Abs. 1 GG
Umsatzsteuer 2002 - 2006
Bei der Besteuerung der Umsätze aus sexuellen Dienstleistungen von Prostituierten besteht keine durch Vollzugsmängel hervorgerufene Belastungsungleichheit, die zu einer gleichheitswidrigen Benachteiligung führt.
Tatbestand
Die Klägerin war mit der Erbringung sexueller Dienstleistungen als Unternehmerin selbständig tätig.
Für die Streitjahre hatte sie keine Steuererklärungen abgegeben. Im Rahmen eines steuer-strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wurden auf ihrem Computer Aufzeichnungen über ihre Einnahmen sichergestellt. Der Beklagte schätzte die Besteuerungsgrundlagen der Klägerin auf Grundlage der Auswertungen dieser Aufzeichnungen und setzte die Umsatzsteuer für die Streitjahre mit Umsatzsteuerbescheiden vom 19. November 2007 fest. Dagegen legte die Klägerin Einspruch ein und gab für die Streitjahre 2002 - 2005 Steuererklärungen ab. Der Beklagte folgte den Steuererklärungen, wobei er die Vorsteuern um die im Schreiben des Finanzamts für Fahndung und Strafsachen vom 26. Mai 2008 aufgeführten Beträge kürzte und setzte die Umsatzsteuer entsprechend fest. Für das Streitjahr 2006 beließ er es bei der Schätzung, da keine Steuererklärung abgegeben war. Mit Einspruchsbescheid vom 30. Oktober 2008 setzte der Beklagte die Umsatzsteuer für die Streitjahre 2002 - 2005 entsprechend herab und wies den Einspruch im Übrigen als unbegründet zurück. Hiergegen richtet sich die Klage.
Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Besteuerung ihrer Umsätze wegen eines Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz gemäß Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) aufgrund eines strukturellen Vollzugsdefizits im Bereich der Besteuerung von Prostitutionsleistungen verfassungswidrig sei. Die Gleichheit im Belastungserfolg durch die rechtliche Gestaltung des Erhebungsverfahrens werde in ihrem Fall verfehlt, da der Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden könne. Der Steuergesetzgeber habe das materielle Steuergesetz nicht dergestalt in ein normatives Umfeld eingebettet, dass die tatsächliche Lastengleichheit der Steuerpflichtigen gewährleistet sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seien hinreichende Grundlagen für die Feststellung einer im Gesetz strukturell angelegten Ungleichmäßigkeit der Rechtsanwendung bereits dann gegeben, wenn sich aufgrund einer Analyse der verfahrensrechtlichen Strukturen des Besteuerungsverfahrens und aufgrund von empirischen Erkenntnissen über die Veranlagungspraxis ausreichend zuverlässig beschreiben lasse, dass bestimmte Einkünfte materiell-rechtlich zutreffend nur bei einer qualifizierten Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen erfasst werden könnten und ein Fehlverhalten bei der Erklärung ohne ein praktisch bedeutsames Entdeckungsrisiko möglich bleibe. Entsprechende Feststellungen ergäben sich im Tätigkeitsbereich der Klägerin auf dem Gebiet der Prostitution aus dem Bericht des Bundesrechnungshofes 2003 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes, wonach insgesamt weniger als 1 % aller Prostituierten steuerlich erfasst würden, da sich "das übliche Verfahren der Einzelveranlagung zur Einkommensteuer und Umsatzsteuer in der Regel als nicht angemessen und erfolglos" erweise. Auch aus den weiteren Begründungen des Bundesrechnungshofs ergäben sich Einzelheiten, die diese Aussage stützten. Ein weiteres Indiz für ein strukturelles Vollzugsdefizit ergäbe sich aus der seit 2002 zunehmenden Anwendung des sogenannten Düsseldorfer Verfahrens, das deutlich mache, dass die Erhebungsnormen bei der Besteuerung von Prostituierten nicht geeignet seien, den gleichmäßigen Vollzug sicher zu stellen. Das Düsseldorfer Verfahren werde bisher bereits in sieben Bundesländern angewandt und solle auch in anderen Bundesländern eingeführt werden. Diesem als Vorauszahlungsverfahren für Steuerbeträge ausgestalteten Verfahren komme faktisch eine Abgeltungswirkung zu, da die Finanzbehörden bundesweit auf eine Nacherhebung verzichteten oder im Vorfeld sogar ausdrücklich eine Abgeltungswirkung zusagen würden. Exemplarisch ergäbe sich dies aus dem Schreiben des Ministeriums der Finanzen Rheinland-Pfalz vom 16. August 2004, auf das Bezug genommen werde sowie aus dem Musteranschreiben der rheinland-pfälzischen Finanzbehörden an Betroffene, z.B. in einem Schreiben vom 5. März 2008, auf das ebenfalls verwiesen werde. Weitere Indizien ergäben sich aus der Stellungnahme des Finanzministeriums Baden-Württemberg vom 17. Dezember 2003 (Drucksache 13/2539) gegenüber dem Präsidenten des Landtags von Baden-Württemberg sowie aus der Stellungnahme des Finanzministeriums Baden-Württemberg unter Verweis auf ein Musteranschreiben des Finanzamts Stuttgart II Fahndungsstelle zum Düsseldorfer Verfahren, auf das verwiesen werde wie auch auf die Mitteilung des Finanzamts Ulm - Steuerfahndungsstelle - vom 19. Januar 2006. Unabhängig davon bestünden selbst innerhalb der Anwendung des Düsseldorfer Verfahrens Ungleichheiten, da Tagespauschalen zwischen 7,50 EUR und 30 EUR festgesetzt würden. Weitere Ungleichheiten ergäben sich hinsichtlich des Ansatzes der Tätigkeitstage, wodurch sich die strukturellen Besteuerungsunterschiede über die Unterschiede bei den Tagessätzen hinaus vervielfachen würden. Die Unterschiede würden sich letztlich durch eine nicht konsistente Handhabung hinsichtlich der mit den entsprechenden Zahlungen abgegoltenen Steuern fortsetzen.
Nach übereinstimmender Mitteilung aller im Bereich der sexuellen Dienstleistungen bundesweit tätigen Verbände und Organisationen habe die maximale Erfassungsquote der Besteuerung Prostituierter bis 2006 weniger als 5 % betragen. Selbst nach Einführung des Düsseldorfer Verfahrens mit seinen unterschiedlichen Facetten würden maximal 10 - 13 % der betroffenen Steuerpflichtigen erfasst. Zwar habe der BMF mit Schreiben vom 7. Juni 2004 - IV A 6220-76/04 die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die Durchführung des Düsseldorfer Verfahrens abgelehnt, gleichwohl sei sie aber von den Obersten Finanzbehörden in den Ländern empfohlen worden.
Unabhängig davon sei ein strukturelles Vollzugsdefizit auch dadurch indiziert, dass aufgrund der Feststellung eines tatsächlichen Erhebungsdefizits an die Ermittlungstätigkeit der Finanzämter überzogene Anforderungen gestellt würden, um den Vollzug der entsprechenden Steuernorm zu erzwingen, was vorliegend der Fall sei, da, wie der Bundesrechnungshof festgestellt habe, selbständig tätige Prostituierte häufig ihren Arbeitsort wechseln oder nur kurzfristig bei Großveranstaltungen oder Messen eingesetzt würden. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12. April 1996 (2 BvL 18/93) sei nicht mehr einschlägig, da er zu einem Zeitpunkt ergangen sei, in dem die Prostitution noch als rechts- und sittenwidrig angesehen worden sei, dies seit Einführung des Prostitutionsgesetzes aber nicht mehr der Fall sei. Weiterhin ergäbe sich ein strukturelles Vollzugsdefizit daraus, dass eine effektive Erhebung ermöglichende rechtliche Struktur aus politischen Gründen nicht vollzogen würde.
Selbst wenn keine Verfassungswidrigkeit der Besteuerung der Prostituierten gegeben wäre, dürfte die Steuer höchstens in Höhe von 25 EUR Tagespauschale in Ansatz gebracht werden, obwohl dieser Satz bereits über dem Üblichen im Raum Hamburg liege.
Die Klägerin beantragt,
die Umsatzsteuer 2002 - 2006 jeweils auf 0 EUR herabzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, die angefochtenen Steuerbescheide seien rechtmäßig. Ein strukturelles Vollzugsdefizit liege nicht vor. Eine verfassungsrechtlich beachtliche Gleichheitswidrigkeit sei nur dann gegeben, wenn ein Widerspruch zwischen der materiellen Steuernorm und der zur Durchsetzung zur Verfügung stehenden Erhebungsregeln bestehe. Im Unterschied zur Besteuerung von Spekulationsgewinnen bestünden entsprechende Vollzugshemmnisse in der rechtlichen Gestaltung bei der Besteuerung der Einkünfte einer Prostituierten nicht. Soweit der Bundesrechnungshof Vollzugsdefizite festgestellt habe, handele es sich um solche im tatsächlichen Bereich, die nicht zur Verfassungswidrigkeit der Besteuerungsnorm führen würden. Dementsprechend habe auch der Bundesfinanzhof (BFH) in der lückenhaften Besteuerung der Prostituierten keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG gesehen. Dies habe das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 12. April 1996 (2 BvL 18/93) bestätigt. Eine Besteuerung nach Tagespauschalen komme ebenfalls nicht in Betracht, da es sich dabei um ein Vorauszahlungsverfahren handele, das auch nur in einigen Bundesländern und auch nur für die in größeren Bordellbetrieben arbeitenden Prostituierten angewandt werde.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
Die Klägerin hat mit sexuellen Dienstleistungen gegen Entgelt steuerpflichtige sonstige Leistungen i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Umsatzsteuergesetz (UStG) erbracht. Gemäß § 13 Abs. 2 UStG schuldet sie als Unternehmerin die insofern festgesetzte Umsatzsteuer. Die gesetzlichen Grundlagen der Besteuerung verstoßen nicht gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verlangt für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt eine Norm des materiellen Steuerrechts dann gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG, wenn die Finanzbehörden aufgrund eines dem Gesetzgeber zurechenbaren strukturellen Vollzugsdefizits am Vollzug dieser Norm gehindert sind (BVerfG vom 27.06.1991 - 2 BvR 1493/89, BStBl. II 1991, 654; BVerfG vom 09.03.2004 - 2 BvL 17/02, BStBl. II 2005, 56). Wird die Gleichheit im Belastungserfolg durch die rechtliche Gestaltung des Erhebungsverfahrens prinzipiell verfehlt, kann dies die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Besteuerungsgrundlage nach sich ziehen. Strukturell gegenläufig wirken sich Erhebungsregelungen dann gegenüber einem Besteuerungstatbestand aus, wenn sie dazu führen, dass der Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden kann. Vollzugsmängel, wie sie immer wieder vorkommen können und sich tatsächlich ereignen, führen allein noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm (vgl. BVerfG, Urteil vom 27.06.1991 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, 272; BStBl II 1991, 654), sondern erst der Widerspruch zwischen dem normativen Befehl der materiell pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf Durchsetzung dieses Befehls angelegten Erhebungsregel. Insofern ist die empirische Ineffizienz von Rechtsnormen für die Gleichheitswidrigkeit unerheblich; erheblich wäre erst das normative Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten Rechts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9.03.2004 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94, BGBl I 2004, 59, BStBl II 2005, 56; kritisch: vgl. Kemper DStR 2005, 543, 546; Moosburger, wistra 2005, 18, 20; Mösmer/Moosburger, wistra 2008, 457, 459).
Soweit die Besteuerung von Prostituierten unterlassen oder nur lückenhaft durchgeführt wird, rechtfertigt dies daher nicht, im Fall der Klägerin von einer Besteuerung abzusehen (BFHE 99, 200, BStBl II 1970, 620 [BFH 17.04.1970 - VI R 164/68]). Die Verwirklichung des Steueranspruchs gegen die Klägerin verstößt nicht deshalb gegen den Gleichheitssatz des Art.3 des Grundgesetzes (GG), weil es anderen Prostituierten gelingt, der Besteuerung auszuweichen (vgl. BFH, Urteil vom 04.06.1987 V R 9/79 BFHE 150, 192, BStBl II 1987, 653; Urteil vom 28.11.1969 VI R 128/68, BFHE 97, 378, BStBl II 1970, 185). Ein Verstoß gegen die Gleichmäßigkeit der Besteuerung läge auch nicht deshalb vor, wenn andere Finanzbehörden gleichartige Vorgänge nicht besteuern würden; denn Art. 3 Abs.1 GG gebietet nicht die "Gleichstellung im Unrecht" (BFH-Urteil vom 15. Januar 1986 II R 141/83, BFHE 145, 453, BStBl II 1986, 418). Tatsächliche Schwierigkeiten bei der Feststellung der Besteuerungsgrundlagen können durch Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach § 162 der Abgabenordnung (AO 1977) überwunden werden.
Die Klägerin kann sich auch nicht auf die Praxis des sogenannten "Düsseldorfer Verfahren" berufen, da dieses weder generell noch in Niedersachsen und konkret bei der Klägerin keine Anwendung gefunden hat. Unabhängig davon, handelt es sich bei der Sammelanmeldung und -abführung der Tagessätze nach dem Düsseldorfer Verfahren um einen schlichten Zahlungsvorgang nach § 224 Abs. 1 Satz 1 AO im Sinne eines "vereinfachten Vorauszahlungsverfahrens", der der Sicherung einer vermuteten Steuerschuld dienen soll und hinsichtlich der rechtlich begründeten Steuerschuld keine Abgeltungswirkung entfaltet (vgl. den Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten - Prostitutionsgesetz(ProstG) -, BT-Drs. 16/4146 vom 25.01.2007, B. IX. 3., S. 40 f.). Selbst im Falle des Verzichts auf Maßnahmen zur Überwachung und Durchsetzung der steuerlichen Pflichten der am Düsseldorfer Verfahren teilnehmenden Prostituierten läge ein strukturelles, d.h. verfahrensrechtlich bedingtes Vollzugsdefizit im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht vor, da ein solcher Vollzugsmangel nicht auf einem unzureichenden verfahrensrechtlichen Instrumentarium, sondern auf einem mehr oder weniger bewussten Verzicht der zuständigen Behörden beruhen würde. Daher wäre die gesetzliche Befugnis des Finanzamtes zur Festsetzung der Umsatzsteuer auch nicht aufgrund des Umstandes verfassungswidrig, dass das Finanzamt bei anderen Prostituierten auf entsprechende Maßnahmen verzichtet, was im Übrigen nicht der Fall ist.
Die angefochtenen Steuerfestsetzungen sind daher rechtmäßig. Begründete Einwände gegen die Kürzung der Vorsteuern für die Streitjahre 2002 bis 2005 wurden von der Klägerin nicht geltend gemacht. Für 2006 war der Beklagte mangels abgegebener Steuererklärung zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen befugt. Da sich die Schätzung an eigenen Aufzeichnungen der Klägerin und insbesondere an den von ihr in den Vorjahren erklärten Umsätzen und Vorsteuern orientiert, bestehen weder dem Grunde noch der Höhe nach Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit angefochtene Steuerfestsetzung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).