Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 16.01.1996, Az.: 5 U 17/95
Anspruch auf Schmerzensgeld auf Grund fehlender persönlicher Überwachung des Geburtsverlaufs; Pflicht zur Aufzeichnung eines CTGs und zur Erkennung eines pathologischen CTGs durch die Hebamme
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 16.01.1996
- Aktenzeichen
- 5 U 17/95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1996, 21022
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1996:0116.5U17.95.0A
Rechtsgrundlagen
- § 823 Abs. 1 BGB
- § 847 BGB
Fundstellen
- PflR 1998, 85-88
- VersR 1997, 1236-1238 (Volltext mit red. LS)
Amtlicher Leitsatz
Die Hebamme hat ein CTG aufzuzeichnen und ein pathologisches CTG zu erkennen. Die medizinische Reaktion darauf hat der Arzt zu treffen.
Tatbestand
Die am 14.05.1983 geborene Kl. nahm den Bekl. auf Schmerzensgeld und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz des materiellen Schadens aus fehlerhafter Geburtshilfe in Anspruch. Etwa gegen 9.00 Uhr des Geburtstags begab sich die Mutter der Kl., nachdem gegen 2.30 Uhr die Fruchtblase geplatzt war, in das S. Krankenhaus in 0., in dem der bekl. Gynäkologe als Belegarzt tätig war. Der errechnete Entbindungstermin war der 05.06.1983. Gegen 9.50 Uhr wurde das CTG-Gerät angeschlossen; gegen 10.00 Uhr wurde die Mutter der Kl. durch den Bekl. untersucht. Über die Aufnahmeuntersuchung vermerkte der Bekl. im Krankenblatt u.a..
,,CTG kaum Kontraktionen, angedeutete Dip II. Cave!! deshalb Bettruhe, CTG-Kontrolle, Temperatur, Leukos."
Auf Anordnung des Bekl. übernahm nunmehr die Hebamme (Nebenintervenientin) die Überwachung. Gegen 10.13 Uhr wurde die CTG-Aufzeichnung abgebrochen und die Mutter der Kl. vom Kreißsaal in das Krankenzimmer verlegt. Zwischen 12.20 und 12.50 Uhr erfolgte eine weitere CTG-Aufzeichnung von unzureichender Qualität, deren Befundung durch den Bekl. unklar war. Weitere Registrierungen erfolgten ab 15.00 Uhr für ca. 34 Minuten, um 16.15 Uhr und um 17.00 Uhr. Eine Dokumentation des Bekl. erfolgte, nachdem er wegen stärkerer Wehen und Schmerzen der Mutter gerufen worden war, um 16.30 Uhr, in der es u.a. hieß:
"CTG: leicht auffällig, Dip 1 mit mäßig langsamen Erholungspausen, Abwarten; laufend CTG-Kontrolle."
Da der Bekl. die Lage gegen 18.10 Uhr als kritisch beurteilte, leitete er die Geburt mittels Vakuumextraktion ein, die um 18.20 Uhr beendet wurde. Die schlaff und asphyktisch ohne Spontanatmung geborene Kl. wurde vom Anästhesisten oral intubiert. Die Apgar-Werte wurden auf 3 nach einer und auf 5 nach 20 Minuten bestimmt. Zusätzlich enthielt die Dokumentation die Werte 2, 3 und 4 nach einer, fünf und zehn Minuten. Gleich nach der Geburt wurde das Kinderhospital informiert, in das die Kl. noch am selben Abend eingeliefert wurde. Die dort erstellte Diagnose lautete:
"Frühgeburt, 37.SSW, blasse Asphyxie nach Nabelschnurumschlingung und Vakuumextraktion, schwere muskulöse Hypotonie, Verdacht auf beginnende Hirnatrophie."
Die Kl. leidet an einem Hirnschaden mit Tetraplegie, Athetose und Krampfleiden. Sie kann sich nicht fortbewegen, nicht ohne Hilfe sitzen, essen und trinken. Sie kann sich ferner sprachlich nicht verständigen und nur durch Mimik und Gestik Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken.
Bei komplexeren Kommunikationsversuchen resigniert sie schnell. Die Kl. vertrat die Auffassung, der Bekl. habe ihre Geburt nicht hinreichend überwacht, sondern dies pflichtwidrig der Hebamme überlassen.
Das LG hat der Klage stattgegeben.
Die Berufungen des Bekl. und der Nebenintervenientin hatten keinen Erfolg.
Entscheidungsgründe
Der Bekl. haftet der Kl. gem. §§ 823 Abs. 1, 847 BGB auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 350.000,00 DM nebst Zinsen und auf Feststellung. Der Senat ist ebenso wie das LG auf der Grundlage des überzeugenden Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. W. der Auffassung, dass der Bekl. seine ärztlichen Pflichten als Geburtshelfer schuldhaft verletzt hat, weil er den weiteren Geburtsverlauf nach 10.00 Uhr des Geburtstages nicht persönlich überwacht hat, obwohl das bis dahin aufgezeichnete CTG einen hochpathologischen Befund aufwies, der vom Bekl. - wie unstreitig ist und sich auch aus den Krankenunterlagen ergibt - als solcher erkannt worden ist.
Wie Prof. Dr. W. betont hat, bedurfte die Mutter der Kl. aus mehreren Gründen einer sorgfältigen geburtshilflichen Überwachung: Zum einen war nach den Eintragungen im Mutterpass von einer Risikoschwangerschaft auszugehen. Ferner war bei der Mutter der Kl., die sich seinerzeit nach dem errechneten Geburtstermin in der 37. Schwangerschaftswoche befand, bereits um 2.30 Uhr des Geburtstages die Fruchtblase gesprungen. Wegen der damit verbundenen lnfektionsgefahr war die Geburt innerhalb von 24 bis 48 Stunden nach dem Blasensprung zu beenden. Außerdem zeigte das auf Veranlassung des Bekl. gegen 10.00 Uhr gefertigte CTG einen hochpathologischen Befund an. Die Oszillationsamplitude war undulatorisch eingeengt, und die kindlichen Herzaktionen wiesen Dezelerationen auf, wobei es sich in zwei Fällen um Spätdezelerationen (Dip II) handelte. Dieser Zustand ist dadurch gekennzeichnet, dass die kindlichen Herztöne beim Abklingen der Wehe nicht sofort wieder ansteigen. Dabei handelt es sich um einen Krankheitsbefund, wobei als Ursache ein Sauerstoffmangel in Betracht kommt. Wie der Sachverständige weiter erläutert hat, war es möglich, dass bei Aufzeichnung dieses CTG eine Schädigung des Kindes bereits im Gange war.
Bei dieser Sachlage entsprach es nach sachverständiger Einschätzung, die der Senat teilt, zwingendem geburtshilflichem Standard, den weiteren Geburtsverlauf sorgfältig, insbesondere durch Fortsetzung des CTG zu überwachen, um bei Weiterbestehen der pathologischen CTG-Befunde die Geburt unverzüglich durch Kaiserschnitt zu beendigen. Diese medizinischen Standards galten bereits 1983 und auch für das Belegkrankenhaus, in dem die Kl. geboren wurde. Prof. Dr. W. hat es als unverständlich angesehen, dass die CTG-Registrierung abgebrochen wurde, und das Unterlassen des Bekl. als groben Behandlungsfehler gekennzeichnet. Dieser überzeugend begründeten Bewertung schließt sich der Senat an.
Der Bekl. durfte sich nicht darauf verlassen, dass die Hebamme den weiteren Verlauf der Geburt sachgerecht beobachten würde. Zwar gehört es zu den Aufgaben einer Hebamme, ein CTG aufzuzeichnen und auch ein pathologisches CTG zu erkennen. Die Entscheidung darüber, was angesichts eines solchen CTG zu veranlassen ist, gehört aber nicht mehr in ihren Aufgabenbereich, wie sich aus der auch vom Bekl. anerkannten Verpflichtung ergibt, bei einem krankhaften Befund einen Arzt hinzuzurufen. Daraus folgt aber zugleich, dass der Bekl. sich die Beurteilung auch der weiter zu erhebenden Befunde vorbehalten musste. Dies ist bereits von dem Sachverständigen Dr. F. so gesehen und vom gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. W. bestätigt worden. Etwas anderes lässt sich auch der vom Bekl. vorgelegten Literatur nicht entnehmen. Entgegen der Auffassung der Berufung stimmt das auch mit der bisherigen Rechtsprechung des Senats überein. Aus der Entscheidung vom 16.03.1993 (5 U 7/91) lässt sich Gegenteiliges nicht herleiten. Zwar ist dort ausgeführt worden, dass der bekl. Hebamme vorzuwerfen sei, ein pathologisches CTG nicht als solches erkannt zu haben.
Gleichzeitig hat der Senat aber hinsichtlich des mitverklagten Arztes entschieden, dass dieser verpflichtet war, nach Kenntnis eines pathologischen Befundes selbst den Geburtsfortschritt zu überwachen.
Der Bekl. hat es mithin pflichtwidrig unterlassen, nach Feststellung des anfänglich pathologischen CTG weitere Befunde zu erheben, um sich in angemessenen zeitlichen Abständen von 30 Minuten, maximal aber einer Stunde, über den Zustand des Kindes Gewissheit zu verschaffen, wie sich aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. W. ergibt. Dabei kann dahinstehen, ob nach neuerer medizinischer Erkenntnis, auf die sich der Bekl. bezieht, dem CTG noch die Bedeutung bei der Überwachung der Geburt zukommt, wie das bisher und insbesondere 1983 der medizinischen Lehre entsprach. Aus den vom Bekl. vorgelegten Literaturstellen ergibt sich nämlich lediglich die Behauptung, dass die CTG-Überwachung der Überwachung der kindlichen Herztöne mittels Stethoskops nicht überlegen sei (Cowley, What high tech cant accomplish), nicht aber, dass eine Überwachung durch den Arzt gar nicht mehr erforderlich sei, wie hier vom Bekl. praktiziert. Vielmehr hat der Bekl. sich feststellbar erst wieder nach 16.00 Uhr der Mutter der Kl. zugewandt.
Soweit der Bekl. im zweiten Rechtszug behauptet, er habe das um die Mittagszeit geschriebene CTG gesehen, das ihm aber wegen der dokumentierten Unauffälligkeiten keinen Anlass zum Handeln gegeben habe, fehlt es diesem Sachvortrag an Substanz. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Bekl. in erster Instanz zunächst noch eingeräumt hatte, das fragliche CTG nicht gesehen zu haben. Zudem ist in den Krankenunterlagen nicht dokumentiert, dass der Bekl. zur Mittagszeit den Geburtsverlauf selbst überwacht hat. Schließlich legt der Bekl. auch nicht die näheren Umstände der CTG-Auswertung dar und behauptet auch nicht, gegen Mittag mit der Mutter der Kl. oder der Hebamme Kontakt aufgenommen zu haben. Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass der Bekl. das gegen 12.00 Uhr gefertigte CTG gesehen hat, ohne etwas zu veranlassen, wäre diese Verfahrensweise nicht geeignet, den dargelegten Verstoß gegen elementare ärztliche Pflichten in Frage zu stellen.
Mit dem LG ist der Senat der Auffassung, dass die Hirnschädigung der Kl. auf den Pflichtwidrigkeiten des Bekl. beruht. Der Bekl. hat den ihm obliegenden Beweis, dass die ihm vorzuwerfenden Behandlungsfehler für die Entstehung des Schadens der Kl. nicht ursächlich sind, nicht zu führen vermocht... Allerdings steht nach sachverständiger Einschätzung nicht sicher fest, ob die Schädigung nach dem Beginn der Behandlung durch den Bekl. um 10.00 Uhr oder vor 10.00 Uhr als Folge des Fruchtwasserabgangs und der Nabelschnurumschlingung entstanden ist. Insoweit hat der Sachverständige Prof. Dr. J. zwar eine Entstehung nach 10.00 Uhr für wahrscheinlicher gehalten und diese größere Wahrscheinlichkeit auch sachlich überzeugend begründet. Verbleibende Ursachenzweifel gehen jedoch zu Lasten des Bekl.
Die Beweislast für die fehlende Ursächlichkeit der fehlerhaften Behandlung der Kl. und ihrer Mutter trägt der Bekl., weil ihm ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist. Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr bezüglich der Kausalität greifen dann zu Gunsten des Patienten ein, wenn der Arzt gegen elementare medizinische Behandlungsregeln verstoßen und Fehler begangen hat, die aus objektiv ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich sind. Derartige Beweiserleichterungen sind insbesondere dann gerechtfertigt, wenn der Fehler des Arztes die Aufklärung des Behandlungsverlaufs besonders erschwert. Sie setzen darüber hinaus einen nicht gänzlich unwahrscheinlichen Kausalzusammenhang zwischen Behandlungsfehler und Schaden voraus (etwa BGH VersR 89, 80 = NJW 88, 2949; OLG Oldenburg VersR 91,1177; Steffen, Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht 6. Aufl. 1995S. 196 ff. m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind - wie erwähnt - gegeben, weil es medizinisch unverständlich ist, dass der Bekl. die CTG-Registrierung um 10.00 Uhr hat abbrechen lassen und sich zunächst nicht weiter um die Geburtsüberwachung gekümmert hat. Infolge dieser groben Versäumnisse hat er Unklarheiten in die weitere Aufklärung des Geburtsverlaufs hineingetragen, die - auch angesichts des recht wahrscheinlichen Kausalzusammenhangs - eine Beweislastumkehr zu seinen Lasten rechtfertigen.
Die Beweislastumkehr bezüglich des Ursachenzusammenhangs folgt im Übrigen auch daraus, dass der Bekl. es nach 10.00 Uhr schuldhaft unterlassen hat, medizinisch zweifelsfrei gebotene Befunde zu erheben und zu sichern, deren Erhebung gerade wegen des erhöhten Risikos, um dessen Eintritt im vorliegenden Rechtsstreit gestritten wird, geschuldet war. Unter diesen Umständen kann dem Arzt die Beweislast dafür auferlegt werden, wie dieser Befund ausgesehen haben würde (BGH VersR 89, 80 = NJW 88, 2949 und 94, 984 = NJW 94, 2419; Steffen a.a.O. S.112f f. m.w.N.). Dies setzt allerdings weiter voraus, dass durch die Mängel bei der Befunderhebung die Aufklärung eines immerhin wahrscheinlichen Ursachenzusammenhangs zwischen Arztfehler und Gesundheitsschaden erschwert worden ist (BGH a.a.O.).
Wie dargelegt, schuldete der Bekl. die weitere Überwachung der Herztöne der Kl., weil nur so die Gefahr einer schweren perinatalen Asphyxie erkannt und ihr gegebenenfalls hätte entgegengewirkt werden können. Ein positiver Befund wäre wahrscheinlich erhoben worden.
Nach alldem ist zu vermuten, dass bei einer Fortsetzung der CTG-Aufzeichnungen ein pathologischer Befund festgestellt worden wäre. Diese Vermutung hat der Bekl. nicht widerlegt. Wie der Sachverständige deutlich gemacht hat, hätte bei der Fortdauer eines solchen Befundes die Geburt sofort durch Kaiserschnitt beendet werden müssen. Das Unterlassen eines entsprechenden Eingriffs in dieser Situation ist als grober Behandlungsfehler zu bewerten.
Die unterbliebene Befunderhebung hat nach alldem dazu geführt, dass es der Kl. nunmehr unmöglich ist zu beweisen, dass bei frühzeitiger Einleitung der Geburt die Hirnschädigung nicht oder jedenfalls nur in wesentlich geringerem Umfang entstanden wäre. Dieses Aufklärungserschwernis rechtfertigt es ebenfalls, dem Bekl. die Beweislast dafür aufzuerlegen, dass die Hirnschädigung der Kl. bereits zu Beginn der Behandlung um 10.00 Uhr so weit fortgeschritten war, dass auch eine sofortige Geburtsbeendigung keine Verbesserung für die Kl. bedeutet haben würde. Diesen Beweis hat der Bekl. nicht geführt...