Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 04.09.2000, Az.: 6 B 421/00

Bewertungsfreiraum; erweiterter Sekundarabschluss I; Mindestanforderungen; Nachprüfung; Neubescheidung; Notenänderung; Pflichtfremdsprachen; vorläufiges Zeugnis; Zusage

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
04.09.2000
Aktenzeichen
6 B 421/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2000, 41254
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur Mitteilung eines Fachlehrers über die voraussichtliche Notenvergabe und der späteren Erteilung einer schlechteren Note. Erweiterter Sekundarabschluss I bei dem Fehlen der Mindestvoraussetzungen in zwei Fächern. Zur Anwendung der Regeln für eine Nachprüfung der Zeugnisnote. (Bestätigt: OVG Lüneburg, Beschl. vom 02.10.2000,13 M 3348/00)

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4.000,-- DM festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der am 25. Februar 1982 geborene Antragsteller begehrt die Erteilung des Erweiterten Sekundarabschlusses I. Er beabsichtigt, zum Schuljahr 2000/2001 in die 11. Klasse einer Integrierten Gesamtschule zu wechseln, um dort den Schulbesuch bis zum Abitur fortzusetzen.

2

Dem Antragsteller, der sowohl die 9. als auch die 10. Jahrgangsstufe an dem Gymnasium nach Nichtversetzungsentscheidungen der Klassenkonferenz wiederholen musste, hat im Abschlusszeugnis der 10. Klasse vom 12. Juli 2000 folgende Fachnoten erhalten:

3

Deutsch:                                               ausreichend

4

Englisch:                                                ausreichend

5

Französisch:                                          mangelhaft

6

Musik: befriedigend

7

Kunst:                                                    sehr gut

8

Geschichte:                                           mangelhaft

9

Politik:                                                   ausreichend

10

Erdkunde:                                             ausreichend

11

Mathematik:                                          ausreichend

12

Physik:                                                  befriedigend

13

Chemie:                                     gut

14

 Biologie:                                                ausreichend

15

Sport:                                                    ausreichend.

16

Aufgrund dieser Fachnoten wurde ihm der Sekundarabschluss I - Realschulabschluss - zuerkannt.

17

Gegen diese Entscheidung erhob der Antragsteller am 13. Juli 2000 Widerspruch und machte geltend, dass die Note im Fach Geschichte fehlerhaft festgesetzt worden sei. Die Fachlehrerin habe ihm am 26. Juni 2000 im Beisein eines Schülers zugesagt, dass er mit der Note "ausreichend" rechnen könne, falls er sich nicht weiter verschlechtere. Da er danach aus Krankheitsgründen gefehlt habe und sich nicht mehr habe verschlechtern können, müsse ihm im Fach Geschichte die Note "ausreichend" gegeben werden. Sein Vertrauen sei insoweit schutzwürdig.

18

Die Klassenkonferenz der Klasse 10.1 half dem Rechtsbehelf des Antragstellers nach nochmaliger Beratung über die Angelegenheit unter Einbeziehung einer dienstlichen Äußerung der Fachlehrerin für Geschichte über die Bildung der Jahreszensur nicht ab und leitete den Vorgang der Bezirksregierung Braunschweig zur Entscheidung über den Widerspruch zu. Mit Widerspruchsbescheid vom 24. August 2000 wies die Bezirksregierung Braunschweig den Rechtsbehelf als unbegründet zurück.

19

Am 24. August 2000 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht. Er macht zusätzlich zu dem Vorbringen im Widerspruchsverfahren geltend:

20

Die Fachlehrerin für Geschichte habe ihm anhand ihres Zensurenbuches in dem Gespräch vom 26. Juni 2000 erklärt, dass er im ersten Halbjahr mit einer "glatten 4" beurteilt worden sei und er nach dem im April ermittelten Leistungsstand noch immer mit "ausreichend" bewertet werde. Im Vertrauen hierauf habe er nicht mehr alles daran gesetzt, eine Chance zur Leistungsverbesserung zu erhalten. Wie sich auch aus einer von allen Mitschülern unterzeichneten Erklärung ergebe, habe er sich sowohl qualitativ als auch quantitativ überdurchschnittlich am mündlichen Unterricht beteiligt. Die Gesamtnote in diesem Fach werde zu 20 v.H. aus den schriftlichen und zu 80 v.H. aus den mündlichen Leistungen gebildet. In einem vor der Zeugniskonferenz mit seinem Vater geführten Gespräch habe die Geschichtslehrerin noch geäußert, sich über die Fachnote noch einmal Gedanken machen zu wollen, nachdem sie mit ihrer Äußerung vom 26. Juni 2000 konfrontiert worden sei. Im Hinblick auf diesen Sachverhalt und den von der Fachlehrerin geschaffenen Vertrauenstatbestand habe es in dem Ermessen der Fachlehrerin gelegen, die Note doch noch zu ändern.

21

Der Antragsteller beantragt,

22

den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm unter Abänderung der Note im Fach Geschichte von "mangelhaft" auf "ausreichend" vorläufig ein Zeugnis über die Zuerkennung des Erweiterten Sekundarabschlusses I zu erteilen.

23

Der Antragsgegner beantragt,

24

den Antrag abzulehnen.

25

Er entgegnet:

26

Der Antragsteller habe auch nach einer Wiederholung der 10. Klasse in den Fächern Französisch und Geschichte jeweils die Note "mangelhaft" und in allen Langfächern jeweils nur ein "ausreichend" erhalten. Wie bereits im Widerspruchsbescheid vom 24. August 2000 dargelegt worden sei, verfüge der Antragsteller damit für die Fachnote Französisch über keine Ausgleichsmöglichkeit. Die Lehrerin für das Fach Geschichte sei in einer dienstlichen Äußerung den Behauptungen des Antragstellers entgegengetreten. Den Eltern des Antragstellers sei noch am 9. Juni 2000 ein "Blauer Brief" zugeleitet worden, nach dessen Inhalt wegen der nicht ausreichenden Leistungen in den Fächern Französisch und Geschichte die Voraussetzungen für den Erweiterten Sekundarabschluss I nicht gegeben seien. In dieser Mitteilung sei außerdem ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass bei einer erneuten Nichtversetzung ein weiterer Besuch des Gymnasiums nicht mehr möglich sei. Die Mutter des Antragstellers habe am 12. Juni 2000 den Empfang dieses Briefes schriftlich bestätigt. Es könne deshalb nicht die Rede davon sein, dass die Geschichtslehrerin nach dem vom Antragsteller dargestellten Gespräch vom 26. Juni 2000 plötzlich und überraschend eine Verschlechterung der Note bewirkt habe. In Anbetracht der vom Antragsteller erreichten Zeugnisnoten seien die Voraussetzungen für eine Nachprüfung gemäß § 19 Versetzungs-VO nicht gegeben.

27

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

28

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

29

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um von dem Rechtsuchenden wesentliche Nachteile abzuwenden. Ihrer Natur nach darf eine solche Anordnung jedoch nur eine einstweilige Regelung treffen oder einen vorläufigen Zustand schaffen. Dieser Sicherungszweck der einstweiligen Anordnung verbietet es im Allgemeinen, einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorzugreifen. Von diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung Ausnahmen nur zugelassen, wenn wirksamer Rechtsschutz im Klageverfahren nicht oder nicht rechtzeitig erreichbar ist und dieses für den Antragsteller zu schlechthin unzumutbaren Nachteilen führen würde (Finckelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., RN 217 f. m.w.N.). Darüber hinaus setzt eine einstweilige Anordnung voraus, dass der Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in einem Hauptsacheverfahren Erfolg haben und den Erweiterten Sekundarabschluss I erreichen wird. Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor.

30

Es ist bereits zweifelhaft, ob dem Antragsgegner in Anbetracht des der Klassenkonferenz für den Fall einer notwendig werdenden erneuten Entscheidung über die Zuerkennung des Erweiterten Sekundarabschlusses I zukommenden pädagogischen Wertungsfreiraums die Erteilung eines (vorläufigen) Zeugnisses aufgegeben werden könnte (vgl. hierzu: Nds. OVG Lüneburg, Beschl. v. 29.11.1984, 13 OVG B 93/84). Dies kann jedoch letztlich offen bleiben, weil die für den Fall einer Neubescheidung zu fordernde hinreichende Aussicht des Antragstellers, den angestrebten Erweiterten Sekundarabschluss I zu erhalten, nicht gegeben ist.

31

Rechtsgrundlage für die Zeugnisentscheidung der Klassenkonferenz sind die §§ 59 Abs. 4, 60 Abs. 1 Nr. 2 und 3 NSchG in Verbindung mit der Verordnung über die Abschlüsse im Sekundarbereich I (AVO-S I) vom 7. April 1994 (Nds. GVBl. 1994, 197) und der darin in Bezug genommenen Versetzungsverordnung (VersetzungsVO) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 1. Juli 1999 (Nds. GVBl. 1999, 139). Danach hat die Konferenz auf der Grundlage der am Ende des Schuljahres vorliegenden Noten auch der nur in einem Schulhalbjahr unterrichteten Fächer über die Versetzung nach Klasse 11 und den am Ende des 10. Schuljahres zu erteilenden Abschluss zu entscheiden. Den Erweiterten Sekundarabschluss I und damit die Versetzung in die gymnasiale Oberstufe erwirbt, wer die Mindestanforderungen in allen Pflicht- und Wahlpflichtfächern erfüllt hat (§ 9 AVO-S I) Diese Mindestanforderungen bedingen ausreichende Leistungen in allen Fächern (§ 23 Abs. 1 AVO-S I). Werden diese Mindestanforderungen in nur einem Fach um eine Notenstufe unterschritten, bedarf dies keines Ausgleichs (§ 23 Abs. 3 AVO-S I). Werden - wie hier - die Mindestanforderungen nach § 23 Abs. 1 AVO-S I in zwei Fächern um eine Notenstufe unterschritten, kann der entsprechende Abschluss erworben werden, wenn in zwei zum Notenausgleich im Sinne des § 24 AVO-S I geeigneten Fächern die Note "befriedigend" oder besser erteilt worden ist (§ 23 Abs. 4 AVO-S I). Ob die Konferenz von der Ausgleichsregelung Gebrauch macht, steht in ihrer pflichtgemäßen Beurteilung, in die unter pädagogischen und fachlichen Gesichtspunkten die wesentlichen Umstände des Einzelfalles einzubeziehen sind (§ 23 Abs. 7 AVO-S I).

32

Hiernach ist die Möglichkeit eines Notenausgleichs nicht gegeben. Für die als vierstündiges Fach geltende Pflichtfremdsprache Französisch fehlt es an mindestens befriedigenden Leistungen in einem geeigneten Ausgleichsfach. Die Konferenz hat daher auf der Grundlage der dem Antragsteller zuerkannten Fachnoten zutreffend sowohl von einer Anwendung der Ausgleichsregelung als auch - wegen der im vorausgegangenen Schuljahr erfolgten Nichtversetzung - von der Möglichkeit einer Zulassung zur Nachprüfung keinen Gebrauch gemacht (§ 25 AVO-SI i.V.m. § 19 Abs. 2 Nr. 1 VersetzungsVO) und ihm auf der Grundlage des § 10 AVO-S I den Sekundarabschluss I - Realschulabschluss - zuerkannt.

33

Soweit der Antragsteller die Benotung im Fach Geschichte mit "mangelhaft" beanstandet, hält das Gericht einen Anspruch auf die Festsetzung der von ihm angestrebten Fachnote "ausreichend" für nicht gegeben. Hierbei geht die Kammer im Anschluss an die ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf dem Gebiet des Prüfungsrechts (vgl. Beschl. v. 17.12.1997, NVwZ 1998, 738 [BVerwG 17.12.1997 - BVerwG 6 B 55/97]; Urt. v. 4.5.1999, NVwZ 2000, 915 m.w.N.) davon aus, dass den Lehrkräften im Bereich einer fachlich-wissenschaftlichen Bewertung von Prüfungsleistungen wegen der Eigenart des Bewertungsvorgangs ein der verwaltungsgerichtlichen Prüfung entzogene Bewertungsspielraum zusteht. Im Rahmen einer solchermaßen eingeschränkten Kontrollbefugnis können die Gerichte das Bewertungsergebnis lediglich daraufhin überprüfen, ob es auf der Grundlage eines fehlerhaften Bewertungsverfahrens, auf einer zutreffenden Tatsachengrundlage, unter Beachtung allgemein anerkannter Bewertungsgrundsätze sowie frei von sachfremden Erwägungen und Willkür zustande gekommen ist. In diesem Sinne eingeschränkt ist auch die Kontrolle von Entscheidungen der Klassenkonferenz über die Versetzung eines Schülers und/oder über die Zuerkennung eines schulrechtlichen Abschlusses (VGH Mannheim, Beschl. v. 28.9.1992, NVwZ-RR 1993, 358 [VGH Baden-Württemberg 28.09.1992 - 9 S 2187/92]). Hiernach sind bei der in diesem Verfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sachlage die vom Antragsteller gegen die Fachnote Geschichte erhobenen Rügen nicht begründet.

34

In ihrer dienstlichen Äußerung vom 11. Juli 2000 hat die Fachlehrerin die Gründe für die Bildung der Jahresnote in diesem Fach im Einzelnen dargelegt. Danach hatte der Antragsteller im ersten Halbjahr in Geschichte die Note "ausreichend" erhalten. Im Verlauf des zweiten Halbjahres hatte der Antragsteller in der schriftlichen Arbeit die Note "mangelhaft" erhalten und waren seine mündlichen Leistungen nach einer aus der Sicht der Pädagogin eingetretenen erheblichen Verschlechterung ebenfalls nicht mehr "ausreichend". Dies hatte dazu geführt, dass den Eltern des Antragstellers unter dem 9. Juni 2000 von dem Antragsgegner eine Warnmitteilung zugeleitet wurde, nach deren Inhalt die Zuerkennung des Erweiterten Sekundarabschlusses I wegen der zu diesem Zeitpunkt in den Fächern Französisch und Geschichte mangelhaften Leistungsstände als gefährdet angesehen wurde. Innerhalb des Zeitraumes von dieser Warnmitteilung bis zur Ermittlung der Jahresnote durch die Fachlehrerin ist eine Leistungsverbesserung weder dargetan noch sonst ersichtlich. Insbesondere überzeugt nicht die - von der Fachlehrerin als schlichtweg falsch zurückgewiesene - Behauptung des Antragstellers, die Fachlehrerin habe nur relativ kurze Zeit nach dieser Warnmitteilung und ohne einen von ihr vermerkten deutlichen Leistungsanstieg die Erteilung der Note "ausreichend" in Aussicht gestellt. Die vom Antragsteller beigebrachte und von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern unterzeichnete Erklärung, dass der Antragsteller sich sowohl qualitativ als auch quantitativ überdurchschnittlich am Unterricht dieses Faches beteiligt habe, ist nicht geeignet, die Rechtmäßigkeit der Leistungsbewertung insbesondere hinsichtlich des mündlichen Teils in Zweifel zu ziehen. Den Erklärenden fehlt es nicht nur an der fachlichen Kompetenz zu einer solchen pädagogischen Einschätzung; die Erklärung ist darüber hinaus in dieser Pauschalität auch inhaltlich ohne Substanz. Selbst wenn die Fachlehrerin - wovon die Kammer allerdings nicht ausgeht - dem Antragsteller vorerst die Erteilung einer noch ausreichenden Jahresnote in Aussicht gestellt haben sollte, wäre sie hierdurch nicht gehindert gewesen, bei der endgültigen Festsetzung der Note ein "mangelhaft" zu erteilen, wenn - wovon das Gericht ausgeht - die tatsächlich erbrachten Leistungen des Antragstellers dies rechtfertigten. Das Vertrauen des Antragstellers in eine solche Ankündigung der voraussichtlich zu vergebenden Zeugnisnote ist insoweit auch unter dem Gesichtspunkt nicht schutzwürdig, keine weiteren Anstrengungen zu einer Leistungsverbesserung unternommen zu haben. Der Antragsteller hat im Übrigen selbst angegeben, in der Zeit vom 26. Juni bis zum Zeitpunkt der endgültigen Festsetzung der Fachnote krankheitsbedingt am Geschichtsunterricht nicht teilgenommen zu haben. Er hätte deshalb ohnehin keine Gelegenheit gehabt, in diesem Zeitraum seine Leistungen zu verbessern.

35

Der Antrag ist nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 As. 1 VwGO abzulehnen.

36

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG und beläuft sich auf die Hälfte des in einem Hauptsacheverfahren anzunehmenden Wertes (Nr. 37.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, abgedruckt bei: Kopp/Schenke, VwGO, 11. Aufl., § 189).