Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 22.08.1990, Az.: 3 Sa 10/82

Unwirksamkeit einer Kündigung wegen Frsitverstössen; Kündigungsfristen bei Arbeitern und Angestellten; Ergänzende Rechtsanwendung im Arbeitsrecht

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
22.08.1990
Aktenzeichen
3 Sa 10/82
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1990, 10519
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1990:0822.3SA10.82.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Oldenburg - 10.11.1981 - AZ: 4 Ca 1920/81

Fundstellen

  • AuR 1991, 120 (amtl. Leitsatz)
  • BB 1990, 2264 (amtl. Leitsatz)
  • DB 1991, 178 (amtl. Leitsatz)
  • NZA 1991, 73 (amtl. Leitsatz)
  • ZIP 1991, 185-191 (Volltext mit amtl. LS)

Prozessführer

...

Prozessgegner

die Firma ...

Zusammenfassung

Der Kläger wendet sich als angestellter Tischler der Beklagten mit seiner Klage gegen dessen Kündigung wegen eines möglichen Frsitverstosses sowie der fehlenden sozialen Rechtfertigung der Kündigung. Die Klage wurde von dem erstinstanzlich erkennenden Arbeitsgericht abgewiesen. Auf die dahingehend eingelegte Berufung des Klägers wurde die Kündigung erst zu einem späteren Zeitpunkt als von der Beklagten und dem Ausgangsgericht angenommenen Frist festgestellt, da der Kläger aufgrund seiner Tätigkeit die Rechtsstellung eines Arbeiters und nicht die eines Angestellten innehatte und daher im Wege der ergänzenden Rechtsanwendung weiterreichende Kündigungsfristen einzuhalten waren.

In dem Rechtststreit
hat
die 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 22. August 1990
durch die Richter Frohner, Mende und van der Wall
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird unter teilweiser Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 10. November 1981 - 4 Ca 1920/81 - festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 13. August 1981 erst zum 30. September 1981 beendet worden ist.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten nunmehr hinsichtlich einer Kündigung vom 13. August 1981 nur noch über die Einhaltung der - richtigen - Kündigungsfrist.

2

Der Kläger, der 1973 seine Prüfung als Tischlergeselle bestanden hatte, war bei der Beklagten seit April 1979 als "Auslieferungstischler" beschäftigt. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag existiert zwischen den Parteien nicht. Ausweislich der Versicherungskarte war der Kläger bei der Rentenversicherung für Angestellte in ... versichert. Krankenversichert war er bei der ... Die sozialversicherungsrechtliche Anmeldung wurde vom Steuerberater der Beklagten vorgenommen, ohne daß dem eine Erörterung zwischen den Parteien vorangegangen wäre. Im Vorarbeitsverhältnis war der Kläger bei der zuständigen ... bzw. der zuständigen ... versichert.

3

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft Allgemeinverbindlichkeitserklärung vom 28. Juli 1981 (Bundesanzeiger Nr. 154/1981 vom 21. August 1981) der Manteltarifvertrag vom 27. Februar 1981 für alle Beschäftigten einschließlich der Auszubildenden (ausgenommen sind alle Personen, die nach § 5 Abs. 2 und 3 BetrVerfG nicht als Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes gelten) in den Betrieben des Einzelhandels im Lande Niedersachsen, abgeschlossen zwischen dem Einzelhandelsverband Niedersachsen e. V. einerseits und der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft - Landesverband Niedersachsen/Bremen - sowie der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen - Landesbezirksleitung Niedersachsen/Bremen - andererseits Anwendung. Dieser sieht in seinem § 2 unterschiedliche Kündigungsfristen für Angestellte einerseits, für gewerbliche Arbeitnehmer andererseits vor.

4

Die Tätigkeit des Klägers bei der Beklagten war derart gestaltet, daß ihm morgens Aufträge übermittelt wurden, teils Aufträge zur Möbelauslieferung, teils Aufträge zur Bearbeitung von Reklamationen. Der Kläger, dem Inkassovollmacht erteilt worden war, fuhr alsdann zu den Kunden der Beklagten und baute dort die anzuliefernden Möbel auf. Im Falle von Reklamationen wurden von ihm beim Kunden die erforderlichen Reparaturarbeiten durchgeführt. Mitunter vereinbarte er die Termine mit den Kunden. Der Kläger war im Betrieb der Beklagten der einzige Auslieferungstischler. Daneben wurden damals noch zwei Verkäufer sowie zwei Auszubildende beschäftigt.

5

Mit Schreiben vom 13. August 1981 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. August 1981. Als Begründung hierfür wurde angegeben, daß die Beschäftigung eines Auslieferungstischlers wegen des zurückgegangenen Auftragseinganges in absehbarer Zeit nicht mehr erforderlich sei.

6

Mit der am 19. August 1981 beim Arbeitsgericht Oldenburg eingegangenen Klage hat sich der Kläger gegen diese Kündigung gewehrt. Er hat zum einen vorgetragen, daß die Beklagte die Kündigungsfrist nicht eingehalten habe, da er als Angestellter, nicht als Arbeiter, anzusehen sei. Außerdem hat er die Auffassung vertreten, daß die ausgesprochene Kündigung auch sozial ungerechtfertigt sei.

7

Der Kläger hat beantragt,

festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 13. August 1981 nicht beendet worden ist, sondern auf unbestimmte Zeit fortbesteht.

8

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Die Beklagte hat vorgetragen, der Kläger sei nicht als Angestellter, sondern als gewerblicher Arbeitnehmer anzusehen. Der Kläger habe weder verkäuferische, verwaltungstechnische noch organisatorische Aufgaben ausgeführt. Im übrigen sei die ausgesprochene Kündigung auch ansonsten wirksam, schon deshalb, weil das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung finde.

10

Die 4. Kammer des Arbeitsgerichts Oldenburg hat durch Urteil vom 10. November 1981 - 4 Ca 1920/81 - die Klage abgewiesen, dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits auferlegt sowie schließlich den Streitwert auf 4.800,00 DM festgesetzt, wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe (Bl. 34 bis 36 d. A.) Bezug genommen.

11

Mit der (statthaften und auch ansonsten zulässigen) Berufung hat der Kläger sein Klagziel hinsichtlich der Einhaltung der Kündigungsfristen für Angestellte weiter verfolgt. Er hat gemeint, daß seine Tätigkeit als die eines Angestellten qualifiziert werden müsse, so daß ihm nur unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von sechs Wochen zum Schluß eines Kalendervierteljahres habe gekündigt werden können.

12

Der Kläger hat beantragt,

unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 13. August 1981 erst zum 30. September 1981 beendet worden ist.

13

Die Beklagte hat beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

14

Die Beklagte hat die angefochtene Entscheidung verteidigt.

15

Durch Beschluß vom 23. April 1982 (EzA Artikel 3 Grundgesetz Nr. 15) hat die Kammer das Verfahren gemäß Artikel 100 Abs. 1 Grundgesetz ausgesetzt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob § 622 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 BGB in der Fassung des Ersten Arbeitsrechtsbereinigungsgesetzes vom 14. August 1969 (BGBl. I Seite 1106) wegen Verstoßes gegen Artikel 3 Grundgesetz insoweit verfassungswidrig ist, als dort unterschiedliche Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte bestimmt werden. In dem Verfahren 1 BvL 2/83 u.a. hat das Bundesverfassungsgericht am 30. Mai 1990 unter anderem beschlossen: "§ 622 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 1. Halbsatz des Bürgerlichen Gesetzbuches in der Fassung des Artikels 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung des Kündigungsrechtes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschriften (Erstes Arbeitsrechtsbereinigungsgesetz) vom 14. August 1969 ... ist mit Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit hiernach die Kündigungsfristen für Arbeiter kürzer sind als für Angestellte." Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Beschluß (BB Beilage 27 zu Heft 21/1990 = NZA 1990 Seite 721 ff. [BVerfG 30.05.1990 - 1 BvL 2/83], sub C. II. der Gründe) ausgeführt: "In einer solchen Lage muß das Bundesverfassungsgericht sich grundsätzlich darauf beschränken, die diskriminierende Bestimmung als unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären. Diese darf dann bis zur Neuregelung von staatlichen Stellen nicht mehr angewandt werden. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Rechtslage unverzüglich mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen. Gerichte müssen anhängige Verfahren, bei denen die Entscheidung von der verfassungswidrigen Norm abhängt, aussetzen, bis eine Neuregelung in Kraft tritt."

16

Der Kläger und Berufungskläger beantragt weiterhin,

unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 13. August 1981 erst zum 30. September 1981 beendet worden ist.

17

Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt wiederum,

die Berufung zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

18

Die Berufung des Klägers ist begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die streitgegenständliche Kündigung der Beklagten vom 13. August 1981 erst zum 30. September 1981 beendet worden. Dies folgt zugunsten des Klägers, dessen Tätigkeit als die eines Arbeiters zu qualifizieren ist, aus § 622 Abs. 1 BGB. Diese Vorschrift ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 zur Unvereinbarkeit von § 622 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 1. Halbsatz BGB mit Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz in der Übergangszeit bis zur Neuregelung des Kündigungsfristenrechts durch den Gesetzgeber im Wege ergänzender Rechtsanwendung auch auf Arbeiter anzuwenden.

19

I.

Nach der Überzeugung des Berufungsgerichts kommt - entgegen der Rechtsmeinung des Bundesverfassungsgerichts - eine Aussetzung des Verfahrens bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung nicht in Betracht (vgl. auch BAG Beschluß vom 26.01.1982 DB 1982, 1014).

20

1.

Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts begründet insoweit keine normativen Verhaltenspflichten der Fachgerichte (Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, Jur. Diss. Münster, Berlin 1979, Seite 121 ff.; zur Unzulässigkeit der dem Gesetzgeber zum 30. Juni 1993 gesetzten Frist vgl. Hein, Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht, Jur. Diss. Bonn, Baden-Baden 1988, Seite 176 ff., 201; zur gar nicht gegebenen oder nur inkonsequenten Befolgung von Auflagen des Bundesverfassungsgerichts durch den Gesetzgeber vgl. Benda, Grundrechtswidrige Gesetze, Baden-Baden 1979, Seite 52). Denn an der Bindungswirkung gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG nehmen lediglich Entscheidungsformel und die die Entscheidung tragenden Gründe teil (Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, 11. Lieferung 01.04.1989, § 31 Rdnr. 16; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, Jur. Habil. Hagen, Berlin 1985, Seite 236 ff.; Schenke, Verfassungsgericht und Fachgerichte, Heidelberg 1987, Seite 60 ff.). Zu den verfassungsrechtlich "tragenden Gründen" gehört die offenbar durch die Stellungnahme des Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts (sub A. IV. 2. der Gründe des Beschlusses vom 30. Mai 1990) veranlaßte Äußerung zur Aussetzung anhängiger Verfahren nicht. Es besteht auch keine "präsumtive Verbindlichkeit" von höchstrichterlichen Entscheidungen (vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Auflage 1976, Seite 243 ff., 258 ff.; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt am Main 1972, Seite 187). Vielmehr hat im Prinzip jeder Richter, der dieselbe Rechtsfrage erneut zu beurteilen hat, selbständig, nach seiner gewissenhaft gebildeten Überzeugung zu entscheiden. Er darf eine höchstrichterliche Entscheidung nicht gewissermaßen "blind"übernehmen. Er ist nicht nur dazu berechtigt, sondern sogar dazu verpflichtet, von ihr wieder abzugehen, wenn er zu der Überzeugung gelangt, daß die Frage anders entschieden werden muß (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Auflage 1979, Kapitel 5 5. Seite 422 f.).

21

2.

Grundsätzlich bedürfen auch gesetzesfreie und gesetzlose Konfliktfälle der richterlichen Entscheidung. Das angerufene Gericht darf sich nicht vor einer Entscheidung "drücken", nur weil der Gesetzgeber die vom Verfassungsgericht geforderte gesetzliche Neuregelung noch nicht getroffen hat (Bertram/Schulte NZA 1989, 249, 251 unter Hinweis auf Kissel in: FAZ vom 14.09.1985). Es hat notfalls den für seinen Spruch benötigten Rechtssatz selbst zu finden. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch von 1907 umschreibt das in Artikel 1 mit folgenden Worten: "Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. - Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. - Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung" (sicherlich problematisch Art. 4 des "Code Civil des Francais" vom 21.03.1804: "Ein Richter, der sich weigert, eine Entscheidung zu fällen, unter dem Vorwand, daß das Gesetz keine oder keine eindeutige oder genügende Vorschrift für den fraglichen Fall enthalte, ist wegen Rechtsbeugung strafbar.") So haben sich Gerichte für Arbeitssachen bisher durch das Fehlen jeder gesetzlichen Regelung nicht gehindert gesehen, im Arbeitskampf zentimetergenau zu bestimmen, wie breit der Zugang zu einem bestreikten Betrieb zu sein hat, der notwendig ist, um den Zu- und Abtransport von Rohstoffen und Waren und das Betreten des Betriebes durch Arbeitswillige zu ermöglichen. Die Rechtsprechung hat eine Reihe von Rechtsinstituten, die im Gesetz selbst nicht vorgesehen sind, wie beispielsweise Sicherungsübereignung, Einziehungsermächtigung oder Anwartschaftsrechte zugelassen und weiter ausgebaut, obwohl ihre Zulassung keineswegs aus dem Gesetz gefolgert werden kann, "mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs" (Larenz a.a.O. 4. Seite 403) und - weitgehend unausgesprochen - mit Rücksicht auf die dahinterstehenden ökonomischen Interessen. Ein nicht absehbares Zuwarten auf den Gesetzgeber durch eine zeitweilige Entscheidungsverweigerung ist zudem sinnwidrig bei einer "Rechtsverweigerungslücke" (Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964, S. 140, 144 ff.), die durch Überlegungen, die auf rechtliche Argumente gestützt sind, ausfüllbar ist: "Fehlt etwa die erforderliche Regelung einer Frist, so wird man eine angemessene Frist festzusetzen haben ..." (Canaris a.a.O. S. 175 f.).

22

Bei der Entscheidungsverpflichtung des Gerichts bedarf es somit für die Aussetzung eines Rechtsstreits einer normativen Legitimation. Nach der Überzeugung des Berufungsgerichts besteht eine solche nicht.

23

3.

Eine Aussetzung nach § 148 ZPO kommt nicht in Betracht. Eine solche Aussetzung ist prozeßleitende Maßnahme zur Verhinderung überflüssiger Mehrarbeit in parallel geführten Prozessen und sich widersprechender Entscheidungen. Nach dieser Vorschrift ist eine Aussetzung nur wegen der Vorgreiflichkeit eines anderen Rechtsverhältnisses möglich. Weder darf im Hinblick auf ein anderweitig bereits anhängiges Normenkontrollverfahren nach § 148 ZPO ausgesetzt werden (vgl. BFH Urteil vom 08.06.1990, 1896; BVerfG Beschluß vom 27.02.1973 AP Nr. 8 zu § 19 HAG sub B 1. am Ende der Gründe; anderer Auffassung offenbar BAG Beschluß vom 28.01.1988 AP Nr. 24 zu § 622 BGB = EzA § 148 ZPO Nr. 15; Beschluß vom 28.04.1988 - 2 AZR 567/87 -) noch kommt nach dieser Vorschrift eine Aussetzung anhängiger Verfahren bis zu einer gesetzlichen Neuregelung einer vom Bundesverfassungsgericht als unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärten Rechtsmaterie in Betracht. In diesen Fällen ist auch eine analoge Anwendung wie z.B. im Falle der Vorlage gemäß Artikel III des 3. Mietrechtsänderungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes vom 05.06.1980 (BGBl. S. 675) nicht statthaft.

24

4.

Nach geltendem Prozeßrecht ist es ebenfalls unzulässig, durch Teilurteil festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis eines Arbeiters durch die streitgegenständliche Kündigung Jedenfalls nicht vor dem sich aus § 622 Abs. 2 BGB ergebenden Termin beendet worden sei, im übrigen das Verfahren teilweise auszusetzen, um keine endgültige Rechtslage zu schaffen, die bei einem rechtskräftigen Urteil auch nicht mehr durch eine gesetzliche Neuregelung korrigiert werden könne (vgl. aber BAG Beschlüsse vom 28.02. und 12.12.1985 EzA § 622 BGB neue Fassung Nr. 22 und 23; neuerdings noch Beschluß vom 25.01.1990 - 2 AZR 398/89 -; auch LAG Frankfurt/Main Beschluß vom 23.09.1985 - 11 Sa 1477/84 -; LAG Düsseldorf Beschluß vom 18.07.1985 - 5 Sa 1014/84 -). Denn ein Teilurteil darf nach § 301 ZPO nur dann ergehen, wenn die Entscheidungsreife einen Teil des Streitstoffs betrifft, der auch nach sonstigen Vorschriften Gegenstand einer selbständigen Entscheidung sein kann (Thomas/Putzo, ZPO, 14. Auflage, § 301 Anm. 1.; AK-ZPO-Fenge § 301 Rdnr. 8). Nach der sogenannten punktuellen Streitgegenstandstheorie im Kündigungsschutzprozeß, der auch das Bundesarbeitsgericht folgt (EzA § 4 KSchG n. F. Nr. 31), ist Streitgegenstand die Frage, ob das Arbeitsverhältnis durch eine ganz bestimmte, in der Klage bezeichnete Kündigung zu dem gewollten Termin aufgelöst ist oder nicht, also die Frage nach der Wirksamkeit einer konkreten Kündigung unter allen ihren rechtlichen Gesichtspunkten (KR-Friedrich, 3. Auflage 1989, § 4 KSchG Rdnrn. 225 ff., 227; ebenfalls KR-M. Wolf, 3. Auflage 1989, Grundsätze Rdnr. 597). Mit dieser Auffassung eines notwendigerweise einheitlichen Streitgegenstandes ist es unvereinbar, einzelne rechtliche Gesichtspunkte im Wege eines Teilurteils "abzuschichten". So hat das Bundesarbeitsgericht selbst die Entscheidung über die soziale Rechtfertigung einer Kündigung gemäß § 1 KSchG neben einem Auflösungsantrag gemäß § 9 KSchG für nicht teilurteilsfähig gehalten (Urteil vom 04.04.1957 AP Nr. 1 zu § 301 ZPO; vgl. aber auch AP Nr. 6 zu § 9 KSchG 1969). Würde man die Frage der Kündigungsfrist für teilurteilsfähig erachten, müßte konsequenterweise auch ein Teilurteil über die Frage der ordnungsgemäßen Beteiligung des Betriebsrats gemäß § 102 BetrVG möglich sein.

25

Ein Teilurteil kommt allenfalls in den Fällen in Betracht, in denen im Wege einer objektiven Klagenhäufung gemäß § 260 ZPO neben der Kündigungsschutzklage gemäß § 4 KSchG eine allgemeine Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO verbunden worden ist, also eine Mehrheit von Streitgegenständen bei Einheit des Verfahrens vorliegt. Hier ist es durchaus denkbar, den Feststellungsantrag aus § 256 ZPO für bestimmte, abgrenzbare Zeiträume im Wege eines Teilurteils gesondert zu bescheiden ("Die Klage wird abgewiesen, soweit mit ihr die Feststellung begehrt worden ist, daß das Arbeitsverhältnis über den ... hinaus fortbesteht").

26

Eine "Problemlösung" kann bei einer Kündigungsschutzklage gemäß § 4 KSchG auch nicht dadurch herbeigeführt werden, daß gemäß § 139 ZPO auf die Erhebung einer negativen (Zwischen) Feststellungswiderklage (§§ 280, 256, 33 ZPO) durch den Kündigenden hingewirkt wird ("Festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung spätestens zum ... beendet worden ist"). Denn hierbei handelt es sich der Sache nach um eine bloße Negation des Klageantrages, die gemäß § 261 ZPO unzulässig ist.

27

5.

Ein eigenständiges Rechtsinstitut einer "außerordentlichen Aussetzung" extra legem als zivilprozessuale Konsequenz der ebenfalls extra legem entwickelten Unvereinbarerklärung durch das Bundesverfassungsgericht (methodisch vergleichbar der von der herrschenden Meinung anerkannten "außerordentlichen Beschwerde" in Fällen sogenannter greifbarer Gesetzwidrigkeit, vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 14. Auflage, § 567 Anm. 4. m.w.N.) kann allenfalls dann anerkannt werden, wenn die Aussetzung durch das Gewaltenteilungsprinzip der Verfassung zwingend geboten ist und sich noch mit der rechtsstaatlich gebotenen Effektivität des Rechtsschutzes (BVerfGE 45, 422, 432 [BVerfG 06.07.1977 - 1 BvR 3/77]) [BVerfG 06.07.1977 - 1 BvR 3/77] sowie den ebenfalls, im Rechtsstaatsprinzip enthaltenen Gebot der Bewahrung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden vereinbaren läßt ("Praktische Konkordanz" mehrerer miteinander kollidierender verfassungsrechtlicher Vorgaben; vgl. in diesem Zusammenhang zum Beschleunigungsgebot des Arbeitsgerichtsgesetzes Bertram/Schulte NZA 1989, 249, 251). Im vorliegenden Fall verbietet sich freilich eine solche Aussetzung, weil zum einen durch eine Entscheidung des Gerichts materiell nicht in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingegriffen wird, diese andererseits aber eine unerträgliche Rechtssicherheit zur Folge hätte (vgl. auch BAG Urteil vom 02.04.1987 NZA 1987, 808, 809 [BAG 02.04.1987 - 2 AZR 418/86] rechte Spalte). Dies gilt selbst dann, wenn man nicht von einer Zeitspanne bis zum 30. Juni 1993 ausgeht, sondern berücksichtigt, daß der "gesamtdeutsche Gesetzgeber" nach Artikel 30 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Bulletin Nr. 104 vom 06.09.1990 Seite 884 und hierzu Lorenz DB DDR-Report Heft Nr. 38/1990 Seite 3119) verpflichtet ist, das Arbeitsvertragsrecht und damit auch das Kündigungsfristenrecht "möglichst bald" neu zu kodifizieren (vgl. hierzu auch die Anlage I gemäß Artikeln 8 und 11 des Einigungsvertrages Kapitel VIII Sachgebiet A Abschnitt I sowie Abschnitt III 1.). Kraushaar (BB 1990 Seite 1764, 1765 ff.) hat völlig zutreffend auf die außerordentlich große Zahl von Kündigungsschutzklagen hingewiesen, in denen es auf die Länge der Kündigungsfrist ankommt. In der Tat wäre eine Aussetzung all dieser Verfahren "eine schwer erträgliche Belastung für die betroffenen Arbeiter und ihrer Arbeitgeber". Hinzuzurechnen ist die Zahl jener Verfahren, in denen gemäß § 9 Abs. 2 KSchG der Auflösungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses festzusetzen ist, sowie der Verfahren, in denen um die Abgrenzung von Lohnfortzahlungsansprüchen gemäß §§ 1, 6 Lohnfortzahlungsgesetz gestritten wird. Ein Vielfaches macht die Zahl jener Sachverhalte aus, in denen im Hinblick auf die Regelung in § 117 Arbeitsförderungsgesetz die Kündigungsfrist zu bestimmen ist. Bei der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit muß die Arbeitsverwaltung die "ordentliche Kündigungsfrist" heute bestimmen können und nicht "möglichst bald" oder 1993 oder gar noch später (vgl. Art. 2 und 3 des Gesetzes vom 26.06.1990 BGBl. I S. 1206, 1207 als Folge der Entscheidung des BVerfG vom 16.11.1982 E 62, 256, 275 ff.). Zu nennen sind weiter die Verfahren über die Wirksamkeit fristloser Kündigungen, weil gemäß § 626 Abs. 1 BGB die Frage der Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses in Bezug auf den "Ablauf der Kündigungsfrist" zu entscheiden ist. Dabei kann die Weiterbeschäftigung für eine kurze Zeit eher zuzumuten sein als die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für die Dauer einer längeren oder gar sehr langen Kündigungsfrist. Deshalb mag zwar in diesen Fällen die vorläufige weitere Anwendung des (für unvereinbar mit dem Grundgesetz - insoweit verbindlich für alle staatlichen Stellen - erklärten) § 622 Abs. 2 BGB in der bisherigen Fassung nicht zwangsläufig zu einem Rechtsnachteil für den gekündigten gewerblichen Arbeitnehmer führen; jedoch brächte eine solche Durchbrechung des Normanwendungsverbots einen erheblichen Rechtsnachteil für den - kündigenden - Arbeitgeber (vgl. aber BAG Urteil vom 02.04.1987 a.a.O. Seite 809, in dem weder die Durchbrechung des Normanwendungsverbots noch der Rechtsnachteil für den Kündigenden problematisiert werden). Deshalb bedarf es auch hier einer ergänzenden Rechtsanwendung einer mit der Verfassung in Einklang stehenden Norm zur Ausfüllung der entstandenen "Lücke", aber ohne Durchbrechung der Anwendungssperre einer für verfassungswidrig erklärten Bestimmung. Zu einer Rechtssicherheit und Rechtsfrieden in unerträglicher Weise belastenden Aussetzung will sich hier offenbar niemand verstehen, der sonst so bemühten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zum Trotz.

28

Einer Aussetzung anhängiger Verfahren widerstreiten aber zudem die praktischen Bedürfnisse in den Betrieben und Unternehmen. Eine (prozessuale) Aussetzung enthielte letztlich die (materiell-rechtliche) Aussage, daß derzeit der Rechtsordnung eine Kündigungsfrist für Arbeiter und Arbeiterinnen nicht zu entnehmen sei. Anderenfalls ließe sich eine Aussetzung von Rechtsstreitigkeiten unter keinem Gesichtspunkt rechtfertigen. Eine solche Aussage freilich würde praktisch ein Kündigungsverbot darstellen. Denn eine ordentliche fristgemäße Kündigung bedarf denknotwendigerweise zu ihrer Rechtswirksamkeit einer bestimmbaren Kündigungsfrist. Ist eine solche nicht festzustellen, darf eine ordentliche Kündigung nicht ausgesprochen werden. Ein solcher Ausschluß ordentlicher Kündigungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf nicht absehbare Zeit ließe sich mit den praktischen Bedürfnissen des Arbeitslebens nicht vereinbaren. Umgekehrt: Darf in den Betrieben weiterhin ordentlich gekündigt werden, bedeutet dies die Anerkennung einer Bestimmbarkeit von Kündigungsfristen. Sind derzeit Kündigungsfristen nach der Rechtsordnung bestimmbar, dürfen anhängige Verfahren aber nicht einfach durch Aussetzung "offengehalten" werden.

29

6.

Unter Verzicht "auf das Apodiktische des Hoheitsspruchs" ist es heute notwendig, "daß der Richter seinen Spruch mit den Parteien und der Öffentlichkeit diskutieren, ihn erklären und sich dabei als ein Mensch wie jeder andere Mensch erweisen muß" (Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, Frankfurt a. M. 1970, S. 136; anders das Richterbild bei Montesquien, De l'esprit des lois, Paris 1758. Tome I, Livre XI, Chapitre VI, Edition Ernest Flammarion page 177: "... la bouche qui prononce les paroles de la loi, des êtres inanimés qui n'en peuvent moderer ni la force ni la rigueur."). Eine solche argumentative Auseinandersetzung läßt sich am ehesten auf der Grundlage einer "rationalen Rechtsfindung" führen (vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Halbbd. 5. Aufl. Tübingen 1976, S. 561 ff., in idealtypischer Abgrenzung zu einer "Kadi-Justiz", einer unformalen Rechtsfindung nach konkreten ethischen oder anderen praktischen Werturteilen, und zu einer "empirischen Justiz", der schlichten Verweisung auf Entscheidungen anderer, insbesondere höherer Gerichte). Eine rationale Rechtsfindung entspricht auch mehr dem Postulat Gadamers (Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl. Tübingen 1965, S. 312): "In der Idee der rechtlichen Ordnung liegt, daß das Urteil des Richters nicht einer unvorhersehbaren Willkür entspringt, sondern der gerechten Erwägung des Ganzen."

30

Nun ist die Prozeßführung für das Ergebnis des Verfahrens kaum weniger bedeutsam als die Urteilsfindung selbst (Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, Neuwied 1978, S. 21). Deshalb ist schon zu erwägen, ob nicht ein Versuch, nun wirklich überholte Rechts- und Denkstrukturen durch voluntative Aussetzungsentscheidungen zumindest zeitweilig zu konservieren, unter Außerachtlassung der ja nicht wertfreien Dogmatik von Verfahrensnormen (hierzu Henckel, Vom Gerechtigkeitswert verfahrensrechtlicher Normen, Göttinger Rektoratsrede 1966, S. 6 ff.), allzu leicht in den Augen der Rechtssuchenden den Anschein eines "halb lächerlichen, halb ärgerlichen Juristen - Hokuspokus" (Franz Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozeß, Vortrag zu Dresden 1901, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1958, S. 15) annehmen könnte. Die Kammer sieht die Gefahr, daß eine solche "Prozeßpolitik" (Levin, Richterliche Prozeßleitung und Sitzungspolizei, Berlin 1913, S. 46) zulasten der Einsicht gehen könnte, "daß der Prozeß eine unentbehrliche staatliche Wohlfahrtseinrichtung ist, daß alle einzelnen und die Gesamtheit daran interessiert sind, wie der Rechtsgenuß, diese Bedingung für die Wohlfahrt eines jeden, mit Erfolg verteidigt und behauptet werden könne" (Franz Klein a.a.O. S. 25).

31

II.

Die "Abwicklung verfassungswidriger Rechtslagen durch Richterrechtsbildung" (Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, Jur. Habil. Göttingen, Baden-Baden 1980, Seite 311) erfolgt im Falle der vom Bundesverfassungsgericht verbindlich festgestellten Kollision des § 622 Abs. 2 BGB mit Art. 3 GG durch eine "ergänzende Rechtsanwendung" der für die Angestellten geltenden Kündigungsfristenbestimmungen des § 622 Abs. 1 BGB sowie des Gesetzes über die Fristen für die Kündigung von Angestellten vom 09. Juli 1926 auf Arbeiter in den Übergangszeitraum bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung dieser Rechtsmaterie (vgl. die "ergänzende Rechtsanwendung" bei der teilweise für verfassungswidrig erklärten (BVerfG AP Nr. 7 zu § 9 MuSchG 1968) Vorschrift des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG, obwohl eine gesetzliche Regelung beabsichtigt ist, aber derzeit noch fehlt, vgl. § 21 Abs. 4 Nr. 2 des Entw. eines ArbeitszeitG BT-Drucksache 11/360 vom 25.07.1987 S. 12).

32

1.

Hierbei ist zunächst davon auszugehen, daß sich die Beklagte nicht auf die kurzen Kündigungsfristen für gewerbliche Arbeitnehmer aus § 2 des auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbaren Manteltarifvertrages vom 27. Februar 1981 für den Niedersächsischen Einzelhandel berufen kann. Zwar hat die Kammer bereits in ihrem Aussetzungs- und Vorlagebeschluß vom 23. April 1982 ausgeführt, daß die Tätigkeit des Klägers als die eines Arbeiters zu qualifizieren ist (vgl. hierzu neuerdings die Abgrenzung von Arbeitern und Angestellten in der Anlage I zum Einigungsvertrag a.a.O. Kapitel VIII Sachgebiet A Abschnitt III 12. a, Bulletin a.a.O. Seite 973). Denn auch die tarifvertragliche Kündigungsfristenregelung knüpfte, wie § 622 Abs. 2 BGB, an den arbeitsrechtlichen Status eines Angestellten bzw. eines Arbeiters an. Weil aber auch die Tarifvertragsparteien an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden sind, durften auch sie zur Rechtfertigung ungleicher Kündigungsfristen nicht pauschal Arbeiter und Angestellte verschieden behandeln. Dies führt zur Unwirksamkeit der genannten tarifvertraglichen Bestimmungen (vgl. auch den Beschluß des Bundesverfassungsrechts vom 30. Mai 1990 sub B I. der Gründe), wie übrigens auch der Kündigungsfristenbestimmungen in anderen Tarifverträgen, die den gleichen - unzulässigen - Anknüpfungspunkt an die Großgruppen der Arbeiter und Angestellten gewählt haben. Insoweit ist Art. 100 GG nicht einschlägig, weil der normative Teil eines Tarifvertrages lediglich ein Gesetz in materiellen, nicht im formellen Sinne darstellt, mit der Folge, daß die Verwerfungskompetenz wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz auch den mit der Materie befaßten Fachgerichten zukommt (vgl. auch LAG Nds. ZIP 1984, 1130, 1132).

33

2.

a)

Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß dann, wenn das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz feststellt, nach den in § 78 BVerfGG der Normenkontrollentscheidung zugeordneten Tenor diese regelmäßig für nichtig zu erklären ist. Die tatsächliche Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts hat extra legem von einer Nichtigerklärung, wie eben auch in dem Beschluß vom 30. Mai 1990, dann abgesehen, wenn dadurch in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingegriffen oder ein Rechtszustand herbeigeführt werden würde, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch weniger entspräche als die angegriffene Regelung (vgl. hierzu: Heußner NJW 1982, 257; Ipsen JZ 1983, 41; derselbe, Constitutional Review of Laws, in: Christian Starck (Hrsg.), Main principles of the German Basic Law, Baden-Baden 1983, Seite 107 ff., 132; Maurer Festschrift Werner Weber 1974 Seite 345 ff.; Pestalozza Festgabe Bundesverfassungsgericht I 1976, Seite 523 ff.; A.P. Pohle, Die Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen, Jur. Diss. Bielefeld, Frankfurt am Main 1979 Seite 63 ff.). Freilich hat auch die Feststellung der Unvereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz ohne Nichtigerklärung Gesetzeskraft gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG und wirkt daher konstitutiv gegen alle, rückwirkend von Zeitpunkt der Kollision des Gesetzes mit dem Grundgesetz an mit der weiteren Folge, daß Gerichte und Verwaltung die verfassungswidrige Vorschrift in dem sich aus Tenor und Gründen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergebenden Ausmaß nicht mehr anwenden dürfen. Diese in der Regel anzunehmende Anwendungssperre bezieht sich im vorliegenden Falle allein auf die Vorschrift des § 622 Abs. 2 BGB in dem vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Umfange, freilich nicht auf die genannten Kündigungsfristenbestimmungen für Angestellte, die nach wie vor anwendbares, mit der Verfassung nicht kollidierendes Recht darstellen. Sie sind für die Übergangszeit bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung auch auf die bislang benachteiligte Gruppe der Arbeiter anzuwenden, weil der Gesetzgeber für diese Übergangszeit gar keine andere Mahl als diejenige hat, die vom Gesetz bislang gleichheitswidrig nicht begünstigte Gruppe in die in Gestalt längerer Kündigungsfristen gewährte Begünstigung mit einzubeziehen. Eine solche "ergänzende Rechtsanwendung" (vgl. Bundesverfassungsgericht E 52, 357; BAG EzA § 9 MuSchG n.F. Nr. 20; BAG Urteil vom 06.10.1983 - 2 AZR 368/82 -) berührt nicht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei einer Neuregelung der Kündigungsfristen für Arbeitnehmer. Der Gesetzgeber mag zwar für die Zukunft (auch unter retrospektiver Einwirkung auf bereits bestehende Rechtsbeziehungen, vgl. BAG AP Nr. 13 zu § 42 SchwbG sub II 3. b) und c) der Gründe; BVerfGE 77, 370 = EzA § 42 SchwbG Nr. 16) die derzeit bestehenden Bestimmungen über Kündigungsfrist für Angestellte verschlechtern können (vgl. zu den Möglichkeiten: Senne, Die Entwürfe zu einem Arbeitsvertragsgesetz, Grundlagen und Kritik, Jur. Diss. Marburg 1980, Würzburg 1980, Seite 148 ff., vgl. auch die Kündigungsfristenregelungen in § 55 des Arbeitsgesetzbuches der - früheren - DDR in der Fassung des Änderungs- und Ergänzungsgesetzes vom 22. Juni 1990 GBl I Nr. 35 Seite 371), jedenfalls bei einer aufgrund des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gebotenen angemessenen Übergangsregelung für konkret bestehende Arbeitsverhältnisse (BVerfG E 67, 1, 21, Abweichende Meinung der Richter Steinberger und Böckenförde, vgl. auch die Regelung in § 23 Abs. 1 Satz 4 KSchG durch das BeschFG 1985). Diese Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers besteht indes nicht rückwirkend für die Vergangenheit sowie für den Übergangszeitraum bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung. Der Gesetzgeber ist nämlich bei einer Neuregelung gehalten, auch für die Vergangenheit eine den Grundsätzen des allgemeinen Gleichheitssatzes entsprechende Regelung zu erlassen (BVerfG E 55, 100).

34

Im Blick auf die Vergangenheit kann die von der Verfassung geforderte Gleichheit "nur durch Einbeziehung der Vernachlässigten in die Begünstigung" (Rudolf Schneider AöR Band 89 (1964) Seite 24 ff.) erreicht werden (so wohl auch Pohle a.a.O. Seite 81). Gerade auch eine Behandlung der Anlaßfälle nach dem "Altrecht" ist wegen der Gefahr einer Aushöhlung der Funktion und Bedeutung des Normenkontrollverfahrens ausgeschlossen (Schneider, Die Funktion der Normenkontrolle und des richterlichen Prüfungsrechts im Rahmen der Rechtsfolgenbestimmung verfassungswidriger Gesetze, Jur. Diss. Heidelberg, Frankfurt am Main 1988, Seite 157). Die gesetzliche Begünstigung einer Gruppe von Arbeitnehmern, nämlich der Angestellen, durch längere Kündigungsfristen verstößt materiell nicht gegen die Verfassung, ist, wie bereits angeführt, weiterhin anwendbares Recht. In diese nun einmal gewährte Rechtsposition und daraus resultierende abgewickelte der Vergangenheit angehörende Tatbestände kann der Gesetzgeber wegen des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbotes nicht nachträglich verschlechternd eingreifen (Bertram/Schulte NZA 1989, 249, 250; vgl. weiter Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 20 II Rd.-Ziffern 57 ff., VII Rd.-Ziffern 65 ff.; Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Band II, 6. Auflage Art. 20 Rd.-Ziffern 1566 ff.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, 7. Auflage 1990, Art. 20 Rd.Ziffern 14 ff.). Die Eigenart rückwirkender Gesetze bei einer sogenannten echten (retroaktiven) Rückwirkung, die verfassungsrechtlich eben unzulässig ist, besteht ja gerade darin, daß sie eine bis zu ihrem Inkrafttreten bestehende Rechtslage mit Wirkung für die Vergangenheit durch neues Recht ändern, daß sie also an die Stelle der für einen vergangenen Zeitraum geltenden rechtlichen Ordnung auf abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende Sachverhalte nachträglich eine andere Ordnung treten lassen würde. Wollte der Gesetzgeber nachträglich die Kündigungsfristenbestimmungen verschlechtern, der Gruppe der Angestellten aber gleichwohl unter "Besitzstandsgesichtspunkten" ihre bisherigen Kündigungsfristen belassen, so würde sich durch eine solche "Neuregelung" an der bisherigen Benachteiligung der Arbeiter gegenüber den Angestellten nichts ändern, würde der Gleichheitsverstoß gerade nicht geheilt werden, weil auch dadurch der Sache nach weiterhin pauschal die Gesamtgruppe der Arbeiter gegenüber der Gesamtgruppe der Angestellten ungleich behandelt werden würde, was indes nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 eben unzulässig ist. Auch im Hinblick auf die Unmöglichkeit, die faktischen Auswirkungen des derzeitigen Rechtszustandes, der in vielen Fällen durch Kündigungen vollzogen worden ist, nachträglich rückgängig zu machen, ist eine rückwirkende Verschlechterung der Kündigungsfristenbestimmungen ausgeschlossen. Insofern entscheidet sich die nachträgliche Änderung der Kündigungsregeln von Dauerschuldverhältnissen qualitativ von Änderungen der Regeln über die Gewährung von (Geld) Leistungen (vgl. beispielsweise die "offene" Situation infolge der Beschlüsse des BVerfG vom 29. Mai 1990 - 1 BvL 20/84 u.a. - sowie vom 12. Juni 1990 - 1 BvL 72/86 - zur familiengerechten Einkommensbesteuerung). Dem Gesetzgeber wird daher für die Vergangenheit bzw. für die Übergangszeit gar nichts anderes übrig bleiben, als die den Angestellten bislang gewährte Begünstigung auch auf die bislang benachteiligte Gruppe der Arbeiter zu erstrecken. Irgend eine andere Möglichkeit, dem Gleichheitssatz für diesen Zeitraum Rechnung zu tragen, besteht nicht, der Grundsatz der Gleichheit kann für diese zurückliegende Zeit nicht auf andere Weise hergestellt werden (vgl. BVerfG E 8, 1, 10; E 15, 46, 76), eine andere Differenzierung, eine andere Gruppenbildung, will man sie rechtspolitisch überhaupt haben, kann nur die Zukunft vorgenommen werden. Gibt es aber nicht mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des festgestellten Gleichheitsverstoßes für den genannten Zeitraum, so greift die von der Kammer für richtig gehaltene ergänzende Rechtsanwendung materiell nicht in die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers ein (vgl. BVerfG E 22, 349, 362).

35

Daß ein formelles diesbezügliches Gesetz nicht besteht, ist wie in anderen Fällen der Lückenausfüllung durch richterliche Rechtsfortbildung hinzunehmen. Dies gilt um so mehr, als der Gesetzgeber, ebenso wie die Tarifvertragsparteien, durch die Entscheidung vom 30. Mai 1990 nicht unvermittelt "getroffen" worden ist. Vielmehr lag diese in der Logik des Beschlusses vom 16. November 1982 (vgl. Wlotzke, Aufgaben im gesetzlichen Arbeitsrecht, Festschrift 40 Jahre Der Betrieb, Stuttgart 1988, S. 267 ff., 300 f.). Der Gesetzgeber hatte somit bereits etwa acht Jahre Zeit, sich auf die jetzt eingetretene Situation vorzubereiten. Die "Enthaltsamkeit" des Gesetzgebers darf sich nicht zu Lasten der Rechtssuchenden auswirken.

36

Zu berücksichtigen ist lediglich, daß im Hinblick auf die in § 79 BVerfGG getroffene Regelung eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Bestimmung auf bereits vollständig abgewickelte bürgerlich-rechtliche Vertragsbeziehungen der benachteiligten Gruppe nicht mehr einzuwirken vermag (vgl. BVerfG E 32, 387, 390), so daß - allerdings auch im Hinblick auf den denkbaren Gesichtspunkt der Verwirkung von Klagebefugnissen - in der Vergangenheit liegende, nicht angefochtene Kündigungen von Arbeitern nicht nachträglich in Zweifel gezogen werden können (vgl. auch die Übergangsvorschrift in Art. 221 EGBGB durch Art. 3 des ArbGG - Änderungsgesetzes vom 26. Juni 1990 (BGBl. I 1206 und hierzu Deutscher Bundestag Drucksachen 11/5465 sowie 11/7096)).

37

Einer nachträglichen Verschlechterung der geltenden Kündigungsfristen für Angestellte stünde auch das Schutzprinzip aus den verfassungsrechtlichen Wertungen der Art. 12 (Berufsfreiheit), 20, 28 (Sozialstaatsprinzip) GG entgegen (vgl. hierzu das Urteil der erkennenden Kammer vom 20.10.1989 - 3 Sa 1610/88 - demnächst LAGE § 620 BGB Nr. 22). Das Grundgesetz schützt eine personenbezogene, inhaltlich auf Dauerbeschäftigung als Grundlage der individuellen Lebensplanung angelegte Berufsfreiheit des Arbeitnehmers. Wenn es zugleich aber auch die Kündigung als Mittel zur Ausübung der Vertragsbeendigungsfreiheit des Arbeitgebers gewährleistet, so verlangt der Schutz der Berufsfreiheit des Arbeitnehmers eine angemessene Berücksichtigung des Bedürfnisses, sich rechtzeitig auf eine Vertragsbeendigung einstellen zu können. Dazu gewährt die Kündigungsfrist die nötige Anpassungszeit, ist doch die Beendigung des Arbeitsvertrags für den Arbeitnehmer mit dem Risiko des Verlustes des Arbeitsplatzes und einer damit verbundenen Gefährdung seines Lebensunterhalts verbunden (vgl. KR-M. Wolf, 3. Auflage 1989, Grundsätze Rdnrn. 3 f.). Deshalb kommt der Einhaltung der Kündigungsfrist für den Arbeitnehmer auch eine soziale Schutzfunktion zu, die nicht nachträglich beseitigt oder auch nur verschlechtert werden kann. Zwar gebietet die Verfassung nicht die Einhaltung bestimmter Kündigungsfristen, stellt das gegenwärtige Kündigungsfristenrecht für Angestellte nicht die einzig denkbare verfassungsgemäße Regelung dieser Materie dar, so daß für die Zukunft durchaus Verschlechterungen Platz greifen könnten. Nur darf eben der gewährte und vollzogene Kündigungsschutz nicht nachträglich entwertet werden.

38

b)

Die danach gegebene Anwendbarkeit der Vorschrift des § 622 Abs. 1 BGB auch auf Arbeiter und Arbeiterinnen führt nicht notwendigerweise zu einer generellen Grundkündigungsfrist von sechs Wochen zum Quartalsende. (Allerdings sind nunmehr auch auf Arbeiter die für Angestellte geltenden festen Kündigungstermine, nicht nur die Kündigungsfristen, anzuwenden, weil die Benachteiligung der Gruppe der Arbeiter durch die bei den Angestellten gegebene "Kombination von Frist und Termin" zu den "tragenden Gründen" des Beschlusses des BVerfG vom 30. Mai 1990 zählt.) Denn es wird zu prüfen sein, im Hinblick darauf, daß für Angestellte einzelvertraglich eine Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende gemäß § 622 Abs. 1 Satz 2 BGB vereinbart werden kann, bei Arbeitern eine einzelvertragliche Verkürzung der gesetzlichen Kündigungsfristen nicht zulässig gewesen ist, ob nicht im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung gemäß § 157 BGB regelmäßig von einer solchen Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende in den ersten Beschäftigungsjahren wird ausgegangen werden können, weil möglicherweise unterstellt werden kann, daß die Arbeitsvertragsparteien diese kürzest mögliche Kündigungsfrist gewählt hätten, wäre ihnen die Möglichkeit einer vertraglichen Abrede bekannt gewesen. Freilich bedarf im vorliegenden Falle diese Frage keiner Entscheidung, weil sowohl die Grundkündigungsfrist von sechs lochen zum Quartalsende als auch eine vertragliche Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende das Arbeitsverhältnis der Parteien zum gleichen Zeitpunkt beendet hat.

39

c)

Abschließend mag darauf hingewiesen werden, daß die Anwendung des § 2 Abs. 1 des Angestellten-Kündigungsfristengesetzes vom 09. Juli 1926 auf Arbeiter die Beschäftigung von in der Regel mehr als zwei Arbeitnehmern ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten bei dem Arbeitgeber voraussetzt. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, so verbleibt es bei gewerblichen Arbeitnehmern im Falle einer längeren Beschäftigungsdauer bei den verlängerten Kündigungsfristen aus § 622 Abs. 2 BGB, weil insoweit keine Benachteiligung gegenüber Angestellten vorliegt, die bei einem Arbeitgeber beschäftigt sind, der in der Regel nicht mehr als zwei Angestellte beschäftigt. Vielmehr liegt in diesem Sonderfall eine Benachteiligung der Angestellten vor, da die verlängerten Kündigungsfristen des § 622 Abs. 2 BGB für Arbeiter nicht darauf abstellen, wieviele Arbeitnehmer - Arbeiter oder Angestellte - beim Arbeitgeber beschäftigt sind. Für diese Angestellten, für die § 2 des Gesetzes vom 09. Juli 1926 nicht anwendbar ist, gelten die verlängerten Kündigungsfristen aus § 622 Abs. 2 BGB, weil sie bislang gegenüber Arbeitern benachteiligt worden sind. Insoweit greift die aus dem Beschluß vom 30. Mai 1990 folgende Normanwendungssperre nicht ein, ebensowenig wie für Arbeiter in Betrieben bis zu zwei Arbeitnehmern.

40

Der Kostenstreitwert des Berufungsverfahrens entspricht dem vom Arbeitsgericht gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG festgesetzten Wert des Streitgegenstandes.

41

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Zulassung der Revision auf § 72 Abs. 2 ArbGG.