Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 23.05.2001, Az.: L 2 RI 357/98

Höhe einer Altersrente; Versicherungskarte; Beweiskraft von Entgeltbescheinigungen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
23.05.2001
Aktenzeichen
L 2 RI 357/98
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 15922
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2001:0523.L2RI357.98.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - 31.07.1998 - AZ: S 11 RI 95/94

Prozessführer

XXX

Prozessgegner

Landesversicherungsanstalt Hannover,

die Geschäftsführung, Lange Weihe 2/4, 30880 Laatzen,

hat der 2. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle

auf die mündliche Verhandlung vom 23. Mai 2001

durch

seine Richter D., E. und F. sowie

die ehrenamtlichen Richter G. und H.

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1

Die Beteiligten streiten um die Höhe einer Altersrente für einen abgelaufenen Zeitraum.

2

Die Klägerin ist die Witwe des am 13. März 1929 geborenen und Ende Juli 1999 verstorbenen I. (Versicherten). Dieser hatte während seines Berufslebens als Schneidermeister vor dem Rentenbezug zuletzt bei der Firma J. in K. gearbeitet, die in der Versicherungskarte 08 für das Jahr 1972 beitragspflichtige Bruttoarbeitsentgelte in Höhe von insgesamt 14.729,93 DM und zusätzlich für den Zeitraum von Januar 1972 bis Mai 1972 Entgelte von 5.870,98 DM bescheinigte. Die Versicherungskarte wurde am 14. August 1973 aufgerechnet.

3

Mitte Januar 1992 beantragte der Versicherte die Gewährung der Altersrente für langjährig Versicherte, die die Beklagte mit Bescheid vom 1. Dezember 1992 ab 1. April 1992 bewilligte. Dabei legte sie für die Beschäftigungsmonate von Januar bis Dezember 1972 Bruttoarbeitsentgelte nur in Höhe von 13.958,97 DM und in Höhe von 5.133,49 DM zugrunde. Die vollständige Berücksichtigung der doppelten Entgeltbescheinigung für das Jahr 1972 lehnte sie im Vorverfahren ab. Die für die Zeit vom 1. Januar 1972 bis 31. Mai 1972 bescheinigten Entgelte seien im Rentenbescheid zu Recht nur bis zur Höhe der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt worden. Zwar könne gemäß § 286 Abs. 3 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) die Richtigkeit der in der Versicherungskarte eingetragenen Beschäftigungszeiten, der Arbeitsentgelte und der Beiträge von den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung nicht mehr angefochten werden, wenn nach Aufrechnung der Versicherungskarte zehn Jahre vergangen seien, damit die Rechtsstellung des Versicherten nach Ablauf dieser Frist nicht noch verschlechtert werde. Durch die Berücksichtigung der Arbeitsentgelte bis zur Beitragsbemessungsgrenze bleibe hier aber die Rechtsstellung des Versicherten gewahrt. Denn Arbeitsentgelte über der Beitragsbemessungsgrenze könnten ohnehin keine Berücksichtigung finden (Widerspruchsbescheid vom 18. April 1994).

4

Mit der hiergegen gerichteten Klage vor dem Sozialgericht (SG) Osnabrück machte der Versicherte geltend, dass die in der Versicherungskarte 08 für das Jahr 1972 vermerkten beitragspflichtigen Bruttoarbeitsentgelte insgesamt bestandsgeschützt seien. Sie müssten ungekürzt in die Rentenberechung einfließen. Mit Urteil vom 31. Juli 1998 hat das SG der Klage stattgegeben. Nach § 286 Abs. 3 SGB VI und der bis zum 31. Dezember 1991 gültigen inhaltsgleichen Vorschrift des § 1423 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) sei die vorgenommene Doppeleintragung in der Versicherungskarte 08 grundsätzlich bestandsgeschützt, weil die Richtigkeit der Eintragung der Arbeitsentgelte und der Beiträge nach Ablauf von zehn Jahren nach Aufrechnung der Versicherungskarte von den Trägern der Rentenversicherung nicht beanstandet werden könnten. Dies gelte auch für die vorliegende Doppeleintragung. Nach Ablauf der Zehn-Jahres-Frist entstehe ein materielles Versicherungsrecht, ohne dass es auf den Rechtsgrund der Markenverwendung oder darauf ankäme, ob ein solcher Rechtsgrund überhaupt vorliege (BSG SozR Nr. 9 zu § 1423 RVO). Die für alle Zweige der gesetzlichen Rentenversicherung getroffene Regelung führe danach im Interesse des Rechtsfriedens zum endgültigen und unverlierbaren Bestandsschutz. Die Bestandsschutzregelung bewirke im Ergebnis die Feststellung, dass die den eingetragenen Arbeitsentgelten entsprechenden Beiträge für die eingetragene Beschäftigungszeit entrichtet seien. Der Ablauf der Zehn-Jahres-Frist heile etwaige Mängel der Eintragung und bewirke, dass die aus der Versicherungskarte ersichtlichen Beiträge selbst dann als rechtswirksam zu gelten hätten, wenn sie überhaupt nicht geleistet seien. Dementsprechend komme es nicht darauf an, ob die offensichtlich doppelte Eintragung der Beschäftigungszeiten und der beitragspflichtigen Arbeitsentgelte für den Zeitraum von Januar 1972 bis Ende Mai 1972 in den maßgeblichen Spalten der Versicherungskarte 08 zu Recht oder zu Unrecht erfolgt sei. Denn die Beklagte hätte den fraglichen Widerspruch schon vor Ablauf der Zehn-Jahres-Frist beanstanden können, was offenkundig nicht geschehen sei. Schließlich erreichten auch die eingetragenen Arbeitsentgelte für 1972 nicht die damals geltende Beitragsbemessungsgrenze von 25.200,00 DM. Ein rechtlicher Grund für eine auf die monatliche Beitragsbemessungsgrenze in Höhe von 2.100,00 DM begrenzte Berücksichtigung der Doppeleintragungen liege nicht vor.

5

Mit der hiergegen eingelegten Berufung vertritt die Beklagte die Ansicht, dass der Beanstandungsschutz grundsätzlich nicht für Doppeleintragungen durch denselben Arbeitgeber gelte. In diesen Fällen seien jeweils nur die höheren eingetragenen Entgelte zu berücksichtigen. Dennoch sei sie dem Versicherten entgegengekommen, indem sie in dem angefochtenen Rentenbescheid jeweils beide Entgelteintragungen berücksichtigt habe. Dies sei jedoch in jedem Falle nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze möglich gewesen, nicht aber für darüber hinausgehende Entgelte.

6

Die Beitragsbemessungsgrenze für das Jahr 1972 betrage 25.200,00 DM. Dies entspreche einer monatlichen Beitragsbemessungsgrenze von 2.100,00 DM.

7

Demgegenüber seien hier folgende Entgelte bescheinigt:

01.01.1972 bis 31.12.1972 à 14.729,93 : 12 =1.227,49 DM monatlich
01.01.1972 bis 31.05.1972 à 5.870,98 : 5 =1.174,20 DM monatlich
=2.401,69 DM
8

Danach wäre in der Zeit von Januar 1972 bis Mai 1972 die monatliche Beitragsbemessungsgrenze um jeweils 301,69 DM überschritten worden, sodass für diesen Zeitraum bei der Feststellung der Altersrente die bescheinigten Entgelte nur anteilig begrenzt berücksichtigt worden seien.

9

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 31. Juli 1998 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

10

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

11

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

12

Der Entscheidung haben die Verwaltungsakten der Beklagten und die Gerichtsakte zugrunde gelegen.

Entscheidungsgründe

13

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig, aber nicht begründet.

14

Die Beklagte hat die Altersrente des Versicherten neu festzustellen und dabei für das Jahr 1972 ein beitragspflichtiges Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von insgesamt 20.600,91 DM zu berücksichtigen. Dementsprechend hat sie ihre angefochtenen Bescheide zu ändern.

15

Nach § 63 Abs. 1 SGB VI richtet sich die Höhe des Rentenanspruchs vor allem nach der Höhe des während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Arbeitsentgeltes und Arbeitseinkommen. Dabei hat der Rentenversicherungsträger gemäß § 70 Abs. 1 Satz 1 SGB VI für Beitragszeiten Entgeltpunkte zu ermitteln, indem die Beitragsbemessungsgrundlage durch das Durchschnittsentgelt für dasselbe Kalenderjahr geteilt wird. Im Rahmen dieser Ermittlungen ist es ihm aber nach Ablauf von zehn Jahren nach Aufrechnung einer Versicherungskarte versagt, die Richtigkeit der Eintragung der Beschäftigungszeiten, der Arbeitsentgelte und der Beiträge anzufechten, § 286 Abs. 3 SGB VI. Dies gilt nach Satz 2 der Vorschrift dann nicht, wenn Versicherte, ihre Vertreter oder zur Fürsorge für sie Verpflichtete die Eintragung in die Entgeltbescheinigung in betrügerischer Absicht herbeigeführt haben, wofür im vorliegenden Fall allerdings Anhaltspunkte fehlen.

16

Da die Versicherungskarte 08 am 14. August 1973 aufgerechnet wurde, kann die Beklagte die Richtigkeit der Eintragungen in diese Versicherungskarte nicht mehr beanstanden. Sie muss die Altersrente nach Maßgabe der dort bescheinigten Entgelte feststellen und sich entgegenhalten lassen, dass aus der widerleglichen Vermutung nach § 286 Abs. 2 SGB VI nach Ablauf der Frist des Abs. 3 der Vorschrift eine unwiderlegliche wird mit der Folge, dass es auch hier nicht mehr darauf ankommt, ob und inwieweit die Entgeltbescheinigungen den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen (vgl. dazu Kasseler Kommentar - Gürtner, SGB VI, § 286 Rdnr. 13). Dem SG ist darin beizupflichten, dass sich der Beanstandungsschutz auch auf Doppeleintragungen erstreckt. Zwar hat das BSG mit Urteil vom 23. Oktober 1975 festgestellt, dass die Eintragung eines die Beitragsbemessungsgrenze übersteigenden Arbeitsentgeltes in der Versicherungskarte nicht vom gesetzlichen Beanstandungsschutz erfasst wird (vgl. BSG SozR 2200 § 1255 RVO Nr. 3). Diese Entscheidung betraf jedoch in den Jahren 1942 und 1943 erzielte Entgelte, die gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 2 der 2. Verordnung über die Vereinfachung des Lohnabzuges vom 24. April 1942 (2. LAV, Reichsgesetzblatt 1942, 252) bescheinigt waren und deshalb nicht als Anhalt für höhere Beitragsentrichtungen zur gesetzlichen Rentenversicherung gewertet werden konnten. Anders liegen die Verhältnisse im vorliegenden Fall. Die Arbeitsentgelte, die der Versicherte 1972 erzielt hat, sind nach Maßgabe des § 1401 Abs. 2 Nr. 2 RVO a.F. bescheinigt worden, durch den § 10 2. LAV ersetzt worden war. Ab 1957 hatten Arbeitgeber zum Nachweis der Beitragsentrichtung alsbald nach Ablauf eines jeden Kalenderjahres neben dem Beschäftigungszeitraum das gesamte beitragspflichtige Bruttoarbeitsentgelt, welches der Versicherte im Vorjahr erhalten hatte, zu bescheinigen. Hieraus ergibt sich auch für die Versicherungskarte 08 eine Verstärkung der Beweiskraft der Entgeltbescheinigungen, der die Beklagte bei der Feststellung der Altersrente Rechnung zu tragen hat.

17

Nach alledem musste ihre Berufung erfolglos bleiben.

18

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.