Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 10.05.2001, Az.: L 8 AL 216/99

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
10.05.2001
Aktenzeichen
L 8 AL 216/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 34253
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2001:0510.L8AL216.99.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 06.05.1999 - AZ: S 4a AL 40201/96

Tenor:

  1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 6. Mai 1999 wird zurückgewiesen.

    Kosten sind nicht zu erstatten.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) ab 9. April 1996. Streitig ist ihre Verfügbarkeit (§ 103 Arbeitsförderungsgesetz - AFG -).

2

Die am 20. April 1965 geborene Klägerin war von August 1987 bis Oktober 1989 im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme versicherungspflichtig tätig und stand ab 13. Oktober 1989 im Leistungsbezug bei der Beklagten. Sie erhielt zuletzt Alhi ab 12. Oktober 1995 in Höhe von 226,20 DM wöchentlich (Bewilligungsbescheid vom 28. September 1995 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 4. Januar 1996). Die Leistungen wurden ihr bis zum Ende des Bewilligungsabschnitts am 30. April 1996 bewilligt.

3

Der behandelnde Nervenarzt Dr. I., J., stellte in einem Befundbericht an die Hausärztin Dr. K. vom 1. September 1995 fest, dass bei der Klägerin offenbar seit Kindheit eine Lernbehinderung und verminderte Intelligenzbefähigung vorlägen; sie sei auf dem freien Arbeitsmarkt sicherlich nicht konkurrenzfähig und benötige spezielle Hilfen; zu denken sei an eine Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte. Nachdem der Arbeitsamtsärztliche Dienst beim Arbeitsamt J. im Gutachten vom 29. September 1995 feststellte, dass die Klägerin voraussichtlich länger als sechs Monate nicht leistungsfähig sei, teilte die Beklagte mit Schreiben vom 4. Oktober 1995 der Klägerin mit, dass Leistungen gemäß § 105a Abs 1 Satz 1 AFG bis zur Feststellung von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit iS der gesetzlichen Rentenversicherungen fortgezahlt werden, wobei die Klägerin verpflichtet sei, einen Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation bei dem zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen. Den Reha-Antrag der Klägerin vom 5. Oktober 1995 wies die Landesversicherungsanstalt (LVA) L. mit Bescheid vom 19. März 1996 ab, weil ihr Leistungsvermögen seit Geburt vollständig aufgehoben sei. Eine Versichertenrente könne nicht gewährt werden, weil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

4

Mit Bescheid vom 3. April 1996 hob die Beklagte die Bewilligung von Alhi mit Wirkung vom 9. April 1996 gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf, weil die Klägerin der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe. Die Sperrwirkung des § 105a AFG ende mit Eingang des Rentenablehnungsbescheides der LVA L.. Der hiergegen gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 2. Mai 1996).

5

Zwischenzeitlich hatte die Klägerin am 11. April 1996 einen neuen Antrag auf Fortzahlung der Alhi gestellt. Die Beklagte lehnte dieses Begehren wegen fehlender Verfügbarkeit durch Bescheid vom 18. April 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 1996 ab. Gegen beide Widerspruchsbescheide wurde getrennt Klage erhoben (am 30. Mai 1996 und am 27. Juni 1996). Diese wurden vom Sozialgericht (SG) zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

6

Das SG hat Stellungnahmen von den behandelnden Ärzten eingeholt sowie ein psychiatrisches Gutachten von Dr. M., Facharzt für Psychiatrie, vom 8. März 1999 veranlasst. Der Sachverständige ist zum Ergebnis gekommen, dass die Klägerin den wirtschaftlichen Erfordernissen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht standhalte. Sie sei nur unter folgenden Voraussetzungen in der Lage, einer Arbeit nachzugehen: geringer Leistungsdruck, hochfrequente repetitive Anleitung und Beaufsichtigung, deutlich reduzierte Arbeitszeiten, qualitativ äußerst einfache Arbeiten, keine Erfordernisse von geistiger Flexibilität und Anpassungsfähigkeit.

7

Mit Urteil vom 6. Mai 1999 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, mit der Entscheidung der LVA über die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin sei die Wirkung aus § 105a Abs 1 AFG entfallen. Die Klägerin sei nach den eingeholten ärztlichen Unterlagen nicht in der Lage, eine Beschäftigung auszuüben, die den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entspreche. Eine diagnostische Fehleinschätzung, wie diese von der Hausärztin der Klägerin ins Gespräch gebracht worden sei, könne ausgeschlossen werden. Denn der Intelligenzquotient der Klägerin liege unterhalb von 99,87 % der Bevölkerung.

8

Gegen das am 12. Mai 1999 zugestellte Urteil richtet sich die am 8. Juni 1999 eingegangene Berufung der Klägerin. Sie ist der Auffassung, dass sie sehr wohl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelbar sei. Auf jeden Fall könne sie in einer Werkstatt für Behinderte tätig werden und Leistungen mit einem gewissen wirtschaftlichen Wert erbringen.

9

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

  1. 1

    das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 6. Mai 1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. April 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 1996 und den weiteren Bescheid vom 18. April 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 1996 aufzuheben,

  2. 2

    die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Mai 1996 Arbeitslosenhilfe zu gewähren.

10

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

11

Die Beklagte verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.

12

Parallel zum laufenden Verfahren beim Rentenversicherungsträger bemühte sich die Beklagte um eine Eingliederung der Klägerin in eine Werkstatt für Behinderte. Eine erste Beratung fand am 6. November 1995 statt. Später wurde auch der Vater der Klägerin hinzugezogen, weil sie die Befürchtung hatte, dass der Vater mit einer Tätigkeit der Klägerin in der Werkstatt für Behinderte nicht einverstanden wäre. Am 11. Dezember 1995 wurde der Klägerin ein Eingliederungsvorschlag im Arbeitstrainingsbereich für sechs Monate unter Zahlung von Übergangsgeld und Fahrkostenerstattung unterbreitet. Damit waren die Klägerin und ihr Vater nicht einverstanden. Weitere Beratungen fanden am 23. Mai und am 27. Juni 1996 statt. Am 15. August 1996 wurde der Reha-Vorgang abgeschlossen, weil die Klägerin ihre Einverständniserklärung nicht eingereicht hatte.

13

Im Rahmen eines Erörterungstermins vor dem Berichterstatter am 16. Januar 2001 ist die Klägerin persönlich angehört worden.

14

Wegen des umfassenden Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakten, auf die Verwaltungsvorgänge des Arbeitsamtes J. (Stamm-Nr: N.) einschließlich der Unterlagen des Arbeitsamtsärztlichen Dienstes sowie auf die Rehabilitationsakten der LVA L. verwiesen.

Gründe

15

Der Senat entscheidet mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

16

Die eine Geldleistung von mehr als 1.000,00 DM betreffende Berufung ist statthaft und zulässig (§§ 144, 151 SGG). Sie ist aber unbegründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Der Klägerin steht ab 9. April 1996 keine Alhi zu.

17

Streitgegenstand ist zunächst der Bescheid vom 3. April 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 1996, mit dem die Beklagte die Bewilligung von Alhi vom 9. April bis zum 30. April 1996 aufgehoben hat. Ist dieser Bescheid rechtswidrig, lebt die Bewilligung von Alhi aus dem früheren Bewilligungsbescheid auf, ohne dass es eines Leistungsantrages bedarf. Der Leistungsantrag der Klägerin vom 11. April 1996 muss sich offenbar auf den neuen Bewilligungsabschnitt ab 1. Mai 1996 beziehen. Darüber hat die Beklagte mit Bescheid vom 18. April 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 1996 entschieden. Durch die verbundenen Klageverfahren ist folglich auch der Leistungsanspruch der Klägerin ab 1. Mai 1996 Streitgegenstand geworden. Bezüglich dieses Anspruchs ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG) die richtige Verfahrensart.

18

Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Leistungsbewilligung ist § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Diese Voraussetzungen sind hier ab dem Zeitpunkt erfüllt, in dem im Rahmen der sog "Nahtlosigkeitsregelung" des § 105a AFG eine Feststellung des zuständigen Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung über die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin vorliegt.

19

Zwar könnte beim ersten Blick an einen Anwendungsfall des § 45 SGB X gedacht werden, weil die fehlende Vermittlungsfähigkeit der Klägerin schon beim Erlass des Bewilligungsbescheides vom 28. September 1995 vorgelegen hatte. Die Systematik der hier maßgeblichen Vorschrift § 105a AFG zeigt jedoch, dass ein Fall der nachträglichen Änderung iS des § 48 SGB X vorliegt.

20

§ 105a AFG setzt eine nicht nur vorübergehende Minderung der Leistungsfähigkeit für eine mehr als kurzzeitige Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes voraus und fingiert insoweit die fehlende Verfügbarkeit für die Dauer des Rentenantragsverfahrens bis zu einer Entscheidung des Rentenversicherungsträgers, ob Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit vorliegt. Die Beklagte ist in diesen Fällen zur Leistungsfortzahlung verpflichtet, auch wenn sie genau erkennen kann, dass Erwerbsunfähigkeit vorliegt. Erst die Feststellung durch den Rentenversicherungsträger über Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit hat konstitutive Wirkung für den Leistungsverlauf bei der Beklagten, und nicht ihre ursprüngliche Leistungsbewilligung. Daraus ergibt sich, dass die Beklagte nicht befugt ist, mit Wirkung für die Vergangenheit die Leistungsbewilligung aufzuheben, selbst wenn keine Verfügbarkeit vorlag. Nur die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers beendet die Wirkung der Nahtlosigkeitsregelung aus § 105a Abs 1 AFG und versetzt die Beklagte in die Lage, nunmehr in eigener Zuständigkeit für die Zukunft die Voraussetzungen nach § 103 AFG zu prüfen.

21

Im Falle der Klägerin hat die LVA L. mit Bescheid vom 19. März 1996 festgestellt, dass ihr Leistungsvermögen seit Geburt aufgehoben ist, sodass Erwerbsunfähigkeit gegeben ist. Mit dieser Feststellung ist eine Regelung iS des § 105a Abs 1 Satz 2 AFG getroffen worden, auch wenn eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht zu zahlen ist, weil die versicherungsrechtlichen Wartezeiten nicht erfüllt sind (Bundessozialgericht - BSG - SozR 3-4100 § 105a Nr 4). Darin liegt eine wesentliche nachträgliche Änderung, die die Beklagte berechtigt, gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X für die Zukunft, hier durch Bescheid vom 3. April 1996 mit Wirkung vom 9. April 1996, die Leistungsbewilligung aufzuheben.

22

Ab diesem Tage war die Klägerin nicht verfügbar iS des § 103 AFG. Die Anspruchsvoraussetzungen der Verfügbarkeit müssen zunächst objektiven Anforderungen genügen. Die objektive Verfügbarkeit setzt das Arbeitenkönnen und Arbeitendürfen in Bezug auf eine zumutbare, nach § 168 AFG die Beitragspflicht begründende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes voraus (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG). Das wird zugunsten der Klägerin unterstellt. Der Senat betrachtet sie in Anlehnung an die Entscheidungen des BSG (SozR 3-2200 § 1147 Nr 1 und SozR 3-2600 § 44 Nr 6) für fähig, als Behinderte in einer Werkstatt für Behinderte tätig zu werden und folglich das ihr verbliebene Leistungsvermögen erwerbswirtschaftlich zu nutzen und Arbeitsentgelt zu erzielen.

23

Eine Vermittlung der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kommt nicht in Betracht. Das steht für den Senat auf der Basis des Sachverständigengutachtens Dr. O. vom 8. März 1999 fest. Zwecks Vermeidung von unnötigen Wiederholungen wird insoweit auf die zutreffenden Ausführungen des SG Bezug genommen (§ 153 Abs 2 SGG).

24

Die Verfügbarkeit setzt darüber hinaus auch die subjektive Bereitschaft der Arbeitslosen voraus, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen, die sie ausüben kann und darf (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 2a AFG). Die subjektive Verfügbarkeit ist im Falle der Klägerin zu verneinen. Sie war nämlich nicht bereit, in dem einzigen Arbeitsmarktsegment, das entsprechend ihrem Leistungsvermögen nur noch in Betracht kam, nämlich in beschützten Werkstätten für Behinderte, tätig zu werden. Das geht aus den von der Klägerin nicht bestrittenen Beratungsvermerken der Beklagten hervor. Danach hat sich die Klägerin den Arbeitsplatz bei der Werkstatt für Behinderte angesehen, eine Zustimmung zu dem Eingliederungsvorschlag jedoch nicht erteilt. In der persönlichen Anhörung vor dem Berichterstatter anlässlich des Erörterungstermins am 16. Januar 2001 hat die Klägerin bestätigt, dass nach Beratung mit ihrem Vater sie zum Entschluss gekommen ist, nicht in der Werkstatt für Behinderte tätig werden zu wollen. Deswegen hat sie sich nicht mehr beim Arbeitsamt gemeldet und ist zum Sozialamt gegangen.

25

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

26

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 SGG) liegen nicht vor.