Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 17.05.2001, Az.: L 6/3U 473/97

Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente auf Grund einer beidseitigen Hörminderung; Feststellung einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit für den ursächlichen Zusammenhang zwischen einem Arbeitsunfall und der Schädigung; Beurteilung der Kausalität bei erheblicher primärer Schädigung des Versicherten und dem Vorliegen sich anschließender Brückensymptome bis zum Istzustand

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
17.05.2001
Aktenzeichen
L 6/3U 473/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 15896
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2001:0517.L6.3U473.97.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 19.11.1997 - S 7a U 70266/95

Prozessführer

XXX

Prozessgegner

Norddeutsche Metall-Berufsgenossenschaft, Bezirksverwaltung Bremen, Töferbohmstraße 10, 28195 Bremen,

hat der 6. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle

auf die mündliche Verhandlung vom 17. Mai 2001

durch

den Vizepräsidenten des Landessozialgerichts Dr. D.,

den Richter am Landessozialgericht E.,

die Richterin am Landessozialgericht F. und

die ehrenamtlichen Richter G. und H.

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 19. November 1997 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1

Der Kläger begehrt die Anerkennung einer beidseitigen Hörminderung als Unfallfolgen und die Zahlung einer Verletztenrente.

2

Der Kläger war von 1966 bis 1972 als Schiffselektriker bei den I. beschäftigt. Am 1. September 1969 kam es bei Farbspritzarbeiten zu einer Verpuffung, bei der hohe Stichflammen auftraten und durch die Druckwelle u.a. Flurplatten und Gerüstbohlen umhergeschleudert wurden. Der Kläger erlitt dabei nach dem Durchgangsarztbericht vom 1. September 1969 eine fragliche Commotio cerebri und eine Rauchvergiftung und befand sich drei Tage in der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses J.. Am 2. September 1969 gab er gegenüber dem Neurologen ein "komisch-taubes" Gefühl im rechten Ohr an, weitere Beschwerden bestanden nicht (so auch Nachschaubericht vom 3. September 1969). Im Nachschaubericht vom 8. September 1969 heißt es, der Kläger klage über ein vermindertes Hörvermögen des linken Ohres. Am 8. Dezember 1969 stellte sich der Kläger bei dem HNO-Arzt Dr. K. vor und gab eine Hörverschlechterung besonders rechts an. Die Trommelfelle beidseits waren intakt, der übrige HNO-Befund normal. Bei der Hörprüfung war das Hörvermögen für Flüstersprache bis auf 0,3 rechts und 0,5 links eingeschränkt, die Umgangssprache wurde rechts bis 5 m, links bis 6 m verstanden. Dr. L. diagnostizierte ein Schalltrauma mit C5-Senke beidseits bei bestehender alter Innenohrschwerhörigkeit und eine Schallleitungskomponente.

3

Von Januar 1976 bis November 1984 war der Kläger in hno-ärztlicher Behandlung bei Dr. M.. Nach dessen Bericht vom 24. Oktober 1994 gab der Kläger im Januar 1976 an, im letzten Vierteljahr nach einer Erkältung Schwerhörigkeit beobachtet zu haben. Über einen Unfall habe er nicht berichtet. Die Hörfunktionsprüfung am 16. November 1984 habe eine mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit rechts und eine mittelgradige Schwerhörigkeit links ergeben. 1985 erfolgten Hörprüfungen durch den Hörgeräteakustiker N. sowie den HNO-Ärzten O..

4

Am 18. März 1993 beantragte der Kläger die Anerkennung von Unfallfolgen. Die Beklagte holte das hno-ärztliche Gutachten von Dr. P. vom 20. Juni 1994 ein. Der Gutachter diagnostizierte eine hochgradige Innenohrschwerhörigkeit rechts und eine mittelgradige Innenohrschwerhörigkeit links zunehmend zum Hochfrequenzbereich. Das Ausmaß der Hörstörung, die Schädigung des Hörvermögens auch im mittleren und Tieftonbereich und die anamnestischen Angaben einer weiteren Hörverschlechterung nach dem Schalltrauma seien als Hinweis darauf zu werten, dass die jetzt bestehende Hörstörung nicht in vollem Umfang auf das Trauma zurückzuführen sei. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 14. November 1994 (nach Auswertung der Messergebnisse ab 1984) führte er aus, die dokumentierte Hörverschlechterung des Hörvermögens in den Jahren 1985 bis 1992 bzw. 1985 bis 1994 könne nicht auf das Unfallgeschehen zurückgeführt werden, sondern müsse Ausdruck eines endogenen Krankheitsprozesses sein. Mit Bescheid vom 22. Dezember 1994 lehnte die Beklagte die Zahlung einer Verletztenrente ab (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 20. Oktober 1995).

5

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg holte das SG auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gutachten des Priv.-Doz. Dr. Q. vom 18. März 1997 ein. Der Sachverständige diagnostizierte eine beidseitige hochgradige Schwerhörigkeit, die auf den Unfall zurückzuführen sei. Unmittelbar nach dem Unfallereignis habe eine Hörstörung vorgelegen, in den Folgejahren sei es nach den Angaben des Klägers zu einer zunehmenden Verschlechterung der Hörsituation gekommen. Bereits 1984 (zum Zeitpunkt der ersten dokumentierten Hörprüfung) habe bei dem damals 37jährigen Kläger eine Hörstörung vorgelegen, die weit über das Ausmaß einer altersüblichen Hörstörung hinausgehe und für die keine andere Ursache als der Unfall ersichtlich sei. Die dokumentierte Progredienz schließe nach neuerer medizinischer Lehrmeinung den Kausalzusammenhang nicht aus. Der massive seitendifferente Hörschaden lasse sich gut mit dem intensiven Knalltrauma in Einklang bringen. In seiner von der Beklagten vorgelegten Stellungnahme vom 7. September 1997 zu dem Gutachten von PD Dr. Q. führte Prof. Dr. R. aus, allein die Auswirkungen der Druckwelle auf die Umgebung lasse keine Rückschlüsse auf den Verletzungsmechanismus des Ohres zu. Von einem schwerwiegenden Trauma könne nicht ausgegangen werden, denn nach den anamnestischen Angaben des Klägers und den Untersuchungsbefunden nach dem Unfall habe eine erhebliche Hörstörung nicht vorgelegen. Eine Progredienz von schalltraumabedingten Innenohrstörungen sei nur zu erwarten, wenn eine erhebliche Hörstörung (Hörminderung über 80 Dezibel) vorliege und außerdem Brückensymptome feststellbar seien.

6

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 19. November 1997 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es stehe nicht fest, dass das Explosionstrauma beim Kläger eine Hörminderung hinterlassen habe. Für Unfallfolgen sprächen das vom Kläger seinerzeit geschilderte Vertäubungsgefühl sowie die nachgewiesene Haarzellenschädigung. Im Übrigen sei alles zweifelhaft. Ein Explosionstrauma betreffe die hohen Frequenzen, während beim Kläger der mittlere und der Tieftonbereich betroffen seien. Es sei ein endogener Prozess anzunehmen, der auch nach Beendigung der Lärmarbeit fortgeschritten sei. Schon Anfang 1970 sei eine alte Innenohrschwerhörigkeit festgestellt worden. Bei Dr. M. habe der Kläger angegeben, erst 1976 nach einer Erkältung eine Schwerhörigkeit bemerkt zu haben. Da die Unfallfolgen in ihrem Ausmaß in keiner Weise abzugrenzen seien, könne auch keine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) geschätzt werden. Dr. Q. begründe eine unfallbedingte Progredienz der Hörverschlechterung mit der auf Vermutungen beruhenden Intensität der Explosion.

7

Gegen dieses am 5. Dezember 1997 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24. Dezember 1997 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiter verfolgt.

8

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 19. November 1997 und den Bescheid der Beklagten vom 22. Dezember 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 1995 aufzuheben,

  2. 2.

    festzustellen, dass eine beidseitige Hörminderung Folge des Arbeitsunfalls vom 1. September 1969 ist,

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab dem 1. Januar 1989 eine Verletztenrente in Höhe von 30 v.H. der Vollrente und ab 1. November 1996 in Höhe von 35 v. H. der Vollrente zu zahlen.

9

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 19. November 1997 zurückzuweisen.

10

Der Senat hat das Gutachten von Prof. Dr. S. vom 5. Januar 2000 eingeholt, die Beklagte hat dazu die Stellungnahme von Prof. Dr. R. vom 8. März 2000 vorgelegt.

11

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, des Vorbringens der Beteiligten und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.

Entscheidungsgründe

12

Die Berufung ist zulässig, sie erweist sich jedoch als unbegründet. Das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, denn der Kläger hat weder einen Anspruch auf Feststellung von Unfallfolgen noch auf Gewährung einer Verletztenrente.

13

Das Begehren des Klägers richtet sich auch nach Eingliederung des Rechts der Gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (SGB) zum 1. Januar 1997 nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das ergibt sich aus der Übergangsregelung in § 212 SGB VII, wonach auf Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1997 aufgetreten sind, das alte Recht (§§ 548, 580, 581 RVO) anzuwenden ist.

14

Der Senat vermag nicht festzustellen, dass die beidseitige Hörminderung mit der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 1. September 1969 zurückzuführen ist. Ein ursächlicher Zusammenhang ist nur dann wahrscheinlich, wenn nach Feststellung, Prüfung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles insgesamt deutlich mehr für als gegen das Bestehen des Ursachenzusammenhanges spricht. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Gegen einen ursächlichen Zusammenhang sprechen folgende Erwägungen:

15

1.

Alle Gutachter haben in Übereinstimmung mit der medizinischen Fachliteratur (vgl. Feldmann, Das Gutachten des HNO-Arztes, 4. Auflage, S. 132) darauf hingewiesen, dass es bei einem Explosions- bzw. Knalltrauma in der Regel zu einer Schädigung des Hörorgans im Hochfrequenzbereich kommt. Beim Kläger sind dagegen auch der mittlere und der Tieftonbereich betroffen, dies spricht nach den Ausführungen von Dr. P. und Prof. Dr. R. eher gegen einen Ursachenzusammenhang. Dr. Q. und Dres. S. haben sich mit dieser Frage nicht auseinandergesetzt.

16

2.

Die Hörstörung hat sich seit dem Unfall (nach den Angaben des Klägers) bzw. seit den ersten dokumentierten Messungen ab 1984 verschlechtert. Eine Progredienz der Innenohrschwerhörigkeit nach einem Knall- oder Explosionstrauma ist nach der neueren medizinischen Lehrmeinung zwar nicht völlig ausgeschlossen (vgl. Gutachten Dr. T.). Wie Prof. Dr. R. in diesem Zusammenhang jedoch einschränkend ausgeführt hat, ist mit einem Fortschreiten der Schwerhörigkeit dann zu rechnen, wenn die primäre Schädigung erheblich war und zwischen der primären Schädigung und dem jetzigen Zustand Brückensymptome vorliegen (vgl. dazu Feldmann, a.a.O., S. 383). Beide Voraussetzungen sind jedoch hier nicht erfüllt.

  1. a)

    Es lässt sich nicht feststellen, dass die Explosion eine maßgebliche Primärschädigung der Ohren des Klägers herbeigeführt hat.

    • Den zeitnah nach dem Unfall mitgeteilten Befunden lässt sich keine Zerreißung eines Trommelfelles bzw. eine Blutung aus dem Ohr als Zeichen einer Mittelohr- oder Trommelfellverletzung entnehmen.

    • Der Kläger hat zudem während des stationären Aufenthaltes im Krankenhaus J. bis auf ein "komisches taubes Gefühl" nicht über Beschwerden geklagt.

    • Die erste hno-ärztliche Untersuchung erfolgt erst drei Monate nach dem Unfall, dies spricht eher dafür, dass die primäre durch den Unfall bedingte Hörschädigung nicht erheblich war. Darauf haben Dres. S. einleuchtend hingewiesen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung lag keine ausgeprägte Hörminderung (lediglich eine Hochtonsenke bei C5 beidseits) vor (vgl. Gutachten Prof. Dr. R.).

  2. b)

    Es lässt sich nicht feststellen, dass der Kläger in den Jahren nach dem Unfall unter nennenswerten Hörstörungen gelitten hätte, die mit dem 1984 erhobenen Befund bzw. dem jetzigen Zustand in Zusammenhang gebracht werden könnten.

17

Dokumentiert ist lediglich das "komisch taube Gefühl" direkt nach dem Unfall. Auch der Kläger selbst hat nicht angegeben, dass er sich in der Folgezeit in hno-ärztliche Behandlung begeben musste. Nach seinen Angaben ist es seit 1972 subjektiv zu einer zunehmenden Hörminderung gekommen. 1975 sei er von einem HNO-Arzt mit einem Hörgerät versorgt worden, ohne dass ein Hörtest gemacht worden sei. Hörprüfungen seien erstmals 1984/1985 auf Veranlassung eines Hörgeräteakustikers durchgeführt worden.

18

Auch aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen ergibt sich kein Verlauf der Erkrankung, der für einen Zusammenhang mit dem 1969 erlittenen Unfall spricht. Nach dem Bericht von Dr. M. vom 24. Oktober 1994 hat sich der Kläger am 23. Januar 1976 - d.h. 6 Jahre nach dem Unfall - erstmals vorgestellt. Dabei hat er einen Arbeitsunfall nicht erwähnt, sondern angegeben, im letzten Vierteljahr nach einer Erkältung Schwerhörigkeit beobachtet zu haben.

19

Nach alledem kommt es nicht darauf an, ob schon zum Zeitpunkt des Unfalls eine Hörstörung (laut Dr. L. eine alte Innenohrschwerhörigkeit) vorlag.

20

Eine für den Kläger günstigere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der Gutachten von PD Dr. Q. und von Dres. S., denn diese Gutachten überzeugen nicht.

21

Die Beurteilung von Dr. Q. basiert auf der Unterstellung, dass anlässlich der Explosion eine massive Schädigung eingetreten sei. Zur Begründung verweist er auf das Ausmaß der dokumentierten Zerstörung in der Umgebung der Explosion. Zutreffend ist zwar, dass die Explosion eine erhebliche Druckwelle ausgelöst hat, die zum Herumfliegen von Gegenständen geführt hat. Dieser Umstand lässt aber entgegen der Ansicht des Sachverständigen keinen Rückschluss auf die tatsächlichen Verletzungen des Klägers zu.

22

Dres. S. gehen in ihrem Gutachten davon aus, dass der 1985 (von dem HNO-Arzt U.) festgestellte Hörschaden auf den Arbeitsunfall vom 1. September 1969 zurückzuführen sei, nicht jedoch die ab 1985 eingetretenen Verschlechterungen des Hörvermögens, die ihrer Meinung nach auf einer chronisch-degenerativen Innenohrschädigung beruhen. Eine nachvollziehbare Begründung für beide Annahmen enthält das Gutachten jedoch nicht.

23

Da sich keine Folgen des Arbeitsunfalls vom 1. September 1969 feststellen lassen, hat der Kläger auch keinen Anspruch auf die Zahlung einer Verletztenrente.

24

Nach alledem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

25

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.