Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 23.06.1994, Az.: 12 L 7319/91

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
23.06.1994
Aktenzeichen
12 L 7319/91
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1994, 14010
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1994:0623.12L7319.91.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BVerwG - 12.10.1994 - AZ: BVerwG 9 B 494.94

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Das Individualgrundrecht auf Asyl kann in Anspruch nehmen, wer politische Verfolgung erlitten hat, weil ihm in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale, nämlich die politische Überzeugung, die religiöse Grundentscheidung oder andere unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt intensive und ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzende Rechtsverletzungen zugefügt worden sind oder unmittelbar gedroht haben. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten.

  2. 2.

    Die gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung für einen Gruppenangehörigen ist auch dann aus dem Schicksal anderer Gruppenmitglieder herzuleiten, wenn diese Referenzfälle politischer Verfolgung es noch nicht rechtfertigen, vom Typus einer gruppengerichteten Verfolgung auszugehen.

  3. 3.

    Asylberechtigt ist auch, wer seinen Heimatstaat unverfolgt verlassen hat, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht.

  4. 4.

    Politische Verfolgung ist gegeben, wenn die Angehörigen einer religiösen Gruppe ihrer religiösen Identität beraubt werden sollen, indem ihnen eine Verleugnung oder gar Preisgabe tragender Inhalte ihres Glaubens zugemutet wird und sie darin gehindert werden, ihren eigenen Glauben, so wie sie ihn verstehen, im privaten Bereich und unter sich zu bekennen.

  5. 5.

    Angesichts der Verhältnisse in Pakistan ist es einem Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft nicht zuzumuten, in seinem Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.

Tenor:

Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten gegen das Urteil des Einzelrichters des Verwaltungsgerichtes Stade - 6. Kammer Stade - vom 20. August 1990 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte verpflichtet wird, festzustellen, daß in der Person der Kläger zu 1) bis 3) des ersten Rechtszuges die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten trägt die Kosten des Berufungsverfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1

Die Kläger zu 1) bis 3), pakistanische Staatsangehörige, begehren ihre Anerkennung als Asylberechtigte.

2

Der im Jahre 1952 in Faizalabad, Provinz Punjab, geborene Kläger zu 1), die im Jahre 1959 ebenfalls in Faizalabad geborene Klägerin zu 2) und die am 3. Oktober 1980 in Karachi, Provinz Sind, geborene Klägerin zu 3) verließen mit am 16. bzw. 2. Juli 1988 - für die Kläger zu 1) und 2) - ausgestellten Reisepässen, in denen die Religionszugehörigkeit der Kläger zu 1) und 2) mit "Muslim" angegeben wurde, zusammen mit den am 18. Februar 1982 und am 15. Februar 1988 geborenen Klägern zu 4) und 5) des ersten Rechtszuges am 2. August 1988 ihr Heimatland auf dem Luftwege und gelangten nach einem Zwischenaufenthalt in Amsterdam am darauffolgenden Tage in die Bundesrepublik Deutschland. Am 9. August 1988 stellten die Kläger zu 1) bis 5) unter Bezugnahme auf einen Schriftsatz ihres jetzigen Prozeßbevollmächtigten vom 8. August 1988 Asylanträge, die die Kläger zu 1) und 2) in der Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) am 11. Oktober 1988 ergänzend begründeten, und zwar erklärte der Kläger zu 1):

3

Eine Schulausbildung habe er nicht genossen, er sei aber seit dem Jahre 1968 in einer Werkstatt in Karachi zum Automechaniker ausgebildet worden. Bereits im Jahre 1974 sei er wegen seiner Religionszugehörigkeit verfolgt worden. So sei ihm in diesem Jahre seine Stelle als Automechaniker seiner Religionszugehörigkeit wegen gekündigt worden, ebenfalls habe er seine Wohnung verloren, auch habe man versucht, ihn zu verprügeln. Da er wegen der Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Muslim-Jamaat auch in der Folgezeit ohne Beschäftigung gewesen sei, habe er bei Freunden oder in der Moschee übernachten müssen. Schließlich sei es ihm, nachdem er sich zuvor mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen habe, im Jahre 1977 gelungen, wieder eine Anstellung als Automechaniker zu finden. So sei er von 1977 bis Ende 1987 bei der Privatfirma B + S Motors in Karachi fest angestellt gewesen, ohne daß zunächst seine Religionszugehörigkeit bekannt geworden sei. Daneben habe er auch selbst Autos gekauft, diese repariert und mit Gewinn weiterveräußert. Er habe gut verdient, Rücklagen bilden können und für sich und seine Familie - im Jahre 1979 habe er die Klägerin zu 2) geheiratet - in der Tariq Road in Karachi eine Wohnung kaufen können. Im Frühjahr 1987 sei es erneut zu Problemen gekommen, nachdem seine Religionszugehörigkeit bekannt geworden sei. Seine Arbeitskollegen hätten versucht, ihn zu verprügeln oder sogar zu töten. Sein Arbeitsverhältnis sei schließlich Ende 1987 gekündigt worden, hierbei habe er auch den restlichen Lohn nicht erhalten. Zuvor sei ihm untersagt worden, aus einer gemeinsamen Wasserstelle Wasser zu entnehmen und mit den übrigen Arbeitern der Firma gemeinsam zu essen. Darüber hinaus sei er verbal beleidigt und bedroht worden, auch habe er zwei- oder dreimal Ohrfeigen bekommen. Alle seien gegen ihn eingestellt gewesen. Als der Firmeninhaber von seiner - des Klägers zu 1) - Religionszugehörigkeit erfahren habe, habe er ihm gekündigt. Eine neue Arbeitsstelle habe er danach nicht antreten können. Zwar habe es in seiner Gegend zahlreiche Autowerkstätten gegeben, nachdem aber die Tatsache, daß er wegen seiner Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft entlassen worden sei, bekannt geworden sei, habe er nirgendwo eine neue Arbeitstelle bekommen, obwohl er sich darum bemüht habe. Nur seiner Religionszugehörigkeit wegen sei er nicht wieder eingestellt worden. Darüber hinaus habe seine Tochter, die Klägerin zu 3), in dieser Zeit auch in der Schule Probleme bekommen. Die anderen Mitschüler hätten mit ihr nichts zu tun haben wollen, hätten sie beleidigt und belästigt. Ein- oder zweimal sei sie auch geschlagen worden. Deshalb habe er mit seiner Familie in Pakistan nicht länger leben können. Er habe seine Wohnung weit unter Wert, nämlich zur Hälfte des von ihm ursprünglich gezahlten Kaufpreises veräußert und die Ausreise über einen Agenten organisieren lassen. Dieser habe ihm gegen Geld einen Paß und ein Visum für die Niederlande besorgt.

4

Die Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft sei von Mirza Ghulam Ahmad, der von 1835 bis 1908 gelebt habe, gegründet worden. Der Khalif Hakim Moulvi Nooruddin habe im Jahre 1889 den ersten Treueeid geleistet. Die weiteren Khalifen der Gemeinschaft hießen Mirza Bashirrudin Ahmad, Mirza Nazir Ahmad und Mirza Tahir Ahmad. Letzterer Khalif lebe noch und halte sich derzeit in London auf. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Glauben der Ahmadis und dem der anderen Muslime bestehe darin, daß die Ahmadis sagten, Jesus Christus sei auf der Erde gestorben. Auch liege dessen Grab in Srinagar/Indien; weiter glaubten die Ahmadis daran, daß der Imam Mahdi bereits erschienen sei. Die anderen Muslime sagten, daß Jesus Christus lebendig in den Himmel geholt worden sei und daß der Imam Mahdi noch kommen werde. Mohammad sei der letzte Prophet mit eigener Lehre gewesen, nach ihm könnten aber Nachfolgepropheten kommen, wenn auch ohne eigene Lehre.

5

Die Klägerin zu 2) erklärte bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt, sie habe mit ihrer Familie bis etwa sieben bis acht Monaten vor ihrer Ausreise mit ihren Nachbarn in der Tariq Road ohne Probleme zusammenleben können. Ende 1987/Anfang 1988 hätten dann ihre Probleme als Ahmadis begonnen. Ihre Nachbarn hätten sich ihnen gegenüber abweisend und diskriminierend verhalten. Man habe sie in der Weise behelligt, daß öfter an ihrer Haustür geklingelt worden sei, wenn man etwas gebraucht habe, seien Nachbarn nicht dagewesen, die einem hätten helfen können; wenn man Nachbarn angesprochen habe, habe man keine Antwort erhalten. Unmittelbar sei sie nicht beleidigt und auch nicht angegriffen worden, man habe sie aber oft bedroht und ihr sowie ihrer Familie bedeutet, sie sollten die Gegend verlassen.

6

Die Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft sei von Mirza Ghulam Ahmad gegründet worden, der von 1835 bis 1908 gelebt habe. Hakim Moulvi Nooruddin habe im Jahre 1889 den ersten Treueeid geleistet, dieser sei auch der erste Khalif der Gemeinschaft gewesen. Die weiteren Khalifen der Gemeinschaft hießen Mirza Bashirrudin Ahmad, Mirza Nazir Ahmad und Mirza Tahir Ahmad, letzterer lebe noch und halte sich in London auf. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Glauben der Ahmadis und dem der übrigen Muslime bestehe darin, daß nach der Prophezeihung Mohammads Mirza Ghulam Ahmad der verheißene Messias sei, an den die Ahmadis glaubten. Die anderen Muslime glaubten dies nicht. Die Ahmadis glaubten außerdem, daß Jesus Christus auf der Erde gestorben sei und nicht wieder erscheinen werde, während die anderen Muslime dies auch nicht glaubten.

7

Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 12. Januar 1989 die Asylanträge der Kläger zu 1) bis 5) im wesentlichen mit der Begründung ab, die Kläger zu 1) bis 5) könnten sich allenfalls auf eine mittelbare Verfolgung berufen, die dem pakistanischen Staat aber nicht zuzurechnen sei. Daraufhin erließ die Ausländerbehörde, der Beklagte zu 2) des ersten Rechtszuges, gegen die Kläger zu 1) und 2) mit Verfügung vom 10. August 1989 aufenthaltsbeendende Maßnahmen, auch befristete er mit Verfügung vom 8. August 1989 den Aufenthalt der Kläger zu 3) bis 5) nach dem Ausländergesetz und räumte ihnen zur Vorbereitung der Ausreise eine Frist von einem Monat nach Unanfechtbarkeit der Ablehnung ihrer Asylanträge ein.

8

Die Kläger zu 1) bis 5) haben fristgemäß gegen die Bescheide vom 12. Januar, 8. und 10. August 1989 Klage erhoben. Das Verwaltungsgericht hat die Kläger zu 1) und 2) im Termin vom 20. August 1990 informatorisch angehört. Hierbei hat der Kläger zu 1) erklärt:

9

Als er sich durch einen Agenten in Pakistan die Pässe für die Ausreise habe ausstellen lassen, habe er dem Agenten lediglich Paßbilder übergeben und die Personalien angegeben, eine Erklärung, in der der Religionsgründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft herabgesetzt worden sei, habe er nicht unterschrieben. In Pakistan habe er regelmäßig an den Jugendtreffen der Gemeinschaft teilgenommen, außerdem habe er an den Versammlungen teilgenommen, die in der Nähe seiner Wohnung in einem Gebetszentrum der Ahmadis stattgefunden hätten. Dort hätten er und seine Familie mit anderen Ahmadi-Familien gebetet, das Freitagsgebet habe er in der Moschee verrichtet. Bis zum Jahre 1984 habe er sich auch missionarisch in der Weise betätigt, daß er im Freundes- und Bekanntenkreis seine Religion verbreitet habe, danach sei den Ahmadis das Missionieren verboten worden. In der Bundesrepublik Deutschland sei er in seiner örtlichen Gemeinde Sekretär für die Sozialarbeit der Jugendorganisation der Gemeinschaft. In Stade habe er in einer Grundschule mit anderen zusammen soziale Dienste geleistet, man habe dort kostenlos gearbeitet. Das Freitagsgebet verrichte er in Buxtehude, die täglichen Gebete könne er zu Hause verrichten, außerdem habe er zahlreiche Spenden an die Glaubensgemeinschaft entrichtet. Weiter habe er an den jährlichen Versammlungen der Gemeinschaft in Groß Gerau teilgenommen, außerdem sei er vor kurzem bei der Jahresversammlung der Ahmadiyya-Muslim-Jamaat in London gewesen.

10

Die Klägerin zu 2) erklärte bei ihrer Anhörung am 20. August 1990:

11

In Pakistan habe sie in ihrer Gemeinschaft ein Amt nicht innegehabt, sie habe das Freitagsgebet in der Moschee verrichtet und einmal im Monat an Frauenversammlungen teilgenommen. Im Bundesgebiet verrichte sie das Freitagsgebet regelmäßig in Buxtehude. Sie sei Sekretärin für die Sozialarbeit der Frauenorganisation ihrer örtlichen Gemeinschaft. Überdies sei sie auch einmal in London bei der Jahresversammlung gewesen. Ihre älteste Tochter, die Klägerin zu 3), sei in der Lage, das Gebet zu sprechen, auch habe sie ihr beigebracht, den Koran zu lesen.

12

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 20. August 1990 den Bescheid des Bundesamtes vom 12. Januar 1989 insoweit aufgehoben, als in ihm die Asylanträge der Kläger zu 1) und 3) abgelehnt worden sind, auch hat es die Beklagte zu 1) verpflichtet, die Kläger zu 1) bis 3) als Asylberechtigte anzuerkennen, im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es u.a. ausgeführt, die Kläger zu 1) bis 3) seien als Asylberechtigte anzuerkennen, weil diese gläubige Ahmadis seien, denen aufgrund der Strafvorschrift des Art. 298 C des Pakistanischen Strafgesetzbuches bei einer Rückkehr nach Pakistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung drohe. Demgegenüber seien die Asylanträge der Kläger zu 4) und 5), die bisher nur eine kindliche Frömmigkeit hätten entwickeln können und die überdies weder straf- noch religionsmündig seien, vom Bundesamt zu Recht abgelehnt worden; schließlich seien die ausländerrechtlichen und die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen des Beklagten zu 2) nicht zu beanstanden.

13

Gegen dieses Urteil hat der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt, zu deren Begründung trägt er vor:

14

Den Klägern zu 1) bis 3) drohe bei einer Rückkehr in ihre Heimat nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung von staatlicher Seite; denn die Gefahr einer staatlich zu verantworteten Gruppenverfolgung seitens fanatischer Muslime sei gegenwärtig und für absehbare Zukunft mit hinreichender Sicherheit auszuschließen. Die Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft könnten im häuslichkommunikativen Bereich ihre Religion unbehelligt ausüben, im übrigen sei der pakistanische Staat auch gegenüber den Ahmadis schutzwillig und schutzfähig. Schließlich sei sowohl die Frage einer unmittelbaren staatlichen wie einer mittelbaren religiösen Verfolgung der Ahmadis vor dem Hintergrund der inzwischen in Pakistan eingetretenen politischen Umwälzungen zu sehen.

15

Der Bundesbeauftragte beantragt sinngemäß,

16

das Urteil des Verwaltungsgerichtes teilweise zu ändern und die gegen die Beklagte zu 1) des ersten Rechtszuges gerichtete Klage auch insoweit abzuweisen, als sie die Kläger zu 1) bis 3) betrifft.

17

Die Kläger zu 1) bis 3) beantragen,

18

die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Beklagte zu 1) des ersten Rechtszuges verpflichtet wird, festzustellen, daß in der Person der Kläger zu 1) bis 3) die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.

19

Sie machen geltend:

20

Die Kläger zu 1) und 2) hätten sich im Juni bzw. im Juli 1993 von der pakistanischen Botschaft in Bonn nur deshalb neue Nationalpässe ausstellen lassen, um an der Jahresversammlung der Ahmadiyya-Gemeinschaft in London teilnehmen zu können, die Pässe seien ihnen aber so spät übersandt worden, daß sie an der Jahresversammlung nicht mehr hätten teilnehmen können. Der Kläger zu 1), der für zwei Jahre Sekretär für soziale Arbeiten und für die Reinigung der Moschee gewesen sei, habe derzeit ein Amt nicht inne.

21

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten zu 1) (Beiakte A) und der Ausländerakten des Landkreises Stade (Beiakten B bis H, K und L) sowie auf die in den Verfügungen des Berichterstatters vom 9. Mai und 8. Juni 1994 bezeichneten Erkenntnismittel verwiesen. Die Akten und die bezeichneten Erkenntnismittel sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

22

Der Berichterstatter des Senats hat die Kläger zu 1) bis 3) im Termin vom 4. Mai 1994 angehört, auch hat er eine Stellungnahme der Nuur-Moschee zu den religiösen Aktivitäten der Kläger zu 1) und 2) in der Bundesrepublik Deutschland eingeholt; hinsichtlich des Inhaltes der Stellungnahme der Nuur Moschee wird auf deren Schreiben vom 28. Januar 1994 und hinsichtlich der Anhörung der Kläger zu 1) und 3) auf das Terminsprotokoll vom 4. Mai 1994 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

23

Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO), ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Kläger zu 1) bis 3) zu Recht als Asylberechtigte anerkannt. Die Kläger zu 1) bis 3) haben allerdings nicht glaubhaft machen können, vor ihrer Ausreise aus Pakistan individuell verfolgt worden zu sein, weshalb sie nicht als vorverfolgt anzusehen sind. Den Klägern zu 1) bis 3) droht aber, sofern sie nach Pakistan zurückkehren, politische Verfolgung in Gestalt von Strafverfolgungsmaßnahmen aufgrund des Art. 298 B, des Art. 298 C und des Art. 295 C des Pakistanischen Strafgesetzbuches (PPC).

24

Gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. Juni 1993 (BGBl. I S. 1002) genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Sie werden nach Maßgabe der §§ 1 ff. AsylVfG in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juli 1993 (BGBl. I S. 1361) als Asylberechtigte anerkannt. Das Individualgrundrecht auf Asyl kann in Anspruch nehmen, wer politische Verfolgung erlitten hat, weil ihm in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale, nämlich die politische Überzeugung, die religiöse Grundentscheidung oder andere unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt intensive und ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzende Rechtsverletzungen zugefügt worden sind oder unmittelbar gedroht haben. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315; Beschl. der 1. Kammer des 2. Senats v. 11. 5. 1993 - 2 BvR 2245/92-, v. 11. 5. 1993 - 2 BvR 1989/92, 55 und 250/93 - und v. 1. 7. 1993 - 2 BvR 855/93 -). Die in diesem Sinne gezielt zugefügte Rechtsverletzung muß von einer Intensität sein, die sich nicht nur als Beeinträchtigung, sondern als ausgrenzende Verfolgung darstellt, so daß der davon Betroffene gezwungen war, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen.

25

Bei der Prüfung der Frage, ob sich ein Flüchtling in diesem Sinne in einer ausweglosen Lage befindet, vor der ihm das Asylrecht Schutz gewähren soll, sind alle Umstände in den Blick zu nehmen, die objektiv geeignet sind, bei ihm begründete Furcht vor (drohender) Verfolgung hervorzurufen. Die Gefahr eigener politischer Verfolgung eines Asylbewerbers kann sich aber nicht nur aus gegen ihn selbst, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der Asylbewerber mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet so daß seine bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutsverletzungen als eher zufällig anzusehen ist (BVerfG, Beschl. v. 23. 1. 1991 - 2 BvR 902/85, 515/89, 1827/89 -, InfAuslR 1991, 200). Sieht der Verfolger von individuellen Merkmalen gänzlich ab, weil seine Verfolgung der durch das asylerhebliche Merkmal gekennzeichneten Gruppe als solcher und damit grundsätzlich allen Gruppenmitgliedern gilt, so kann eine solche Gruppengerichtetheit der Verfolgung dazu führen, daß jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muß. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt allerdings voraus, daß Gruppenmitglieder Rechtsgutsbeeinträchtigungen erleiden, aus deren Intensität und Häufigkeit jedes einzelne Gruppenmitglied die begründete Furcht herleiten kann, selbst alsbald ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Das wird vor allem bei gruppengerichteten Massenverfolgungen der Fall sein, die das ganze Land oder Teile desselben erfassen. Eine Gruppenverfolgung kann auch dann angenommen werden, wenn unbedeutende oder kleine Minderheiten mit solcher Härte, Ausdauer und Unnachsichtigkeit verfolgt werden, daß jeder Angehörige dieser Minderheit sich ständig der Gefährdung an Leib, Leben oder persönlicher Freiheit ausgesetzt sieht (BVerfG, Beschl. v. 23. 1. 1991, aaO), mit anderen Worten, wenn die die Angehörigen der Gruppe treffenden "Verfolgungsschläge" nach ihrer Intensität so dicht und eng gestreut fallen, daß bei objektiver Betrachtung für jedes Gruppenmitglied und damit auch für den Asylbewerber die Furcht begründet ist, selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden (BVerwG, Beschl. v. 24. 9. 1992 - BVerwG 9 B 130.92, NVwZ 1993, 192 = InfAuslR 1993, 31).

26

Die unmittelbare Betroffenheit des einzelnen durch gerade auf ihn zielende Verfolgungsmaßnahmen ebenso wie die Gruppengerichtetheit der Verfolgung sind allerdings nur Eckpunkte eines durch fließende Übergänge gekennzeichneten Erscheinungsbildes politischer Verfolgung. Die gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung für einen Gruppenangehörigen ist auch dann aus dem Schicksal anderer Gruppenmitglieder herzuleiten, wenn diese Referenzfälle politischer Verfolgung es noch nicht rechtfertigen, vom Typus einer gruppengerichteten Verfolgung auszugehen. Hier wie da ist es von Belang, ob vergleichbares Verfolgungsgeschehen sich in der Vergangenheit schon häufiger ereignet hat, ob die Gruppenangehörigen als Minderheit in einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung leben müssen, das Verfolgungshandlungen, wenn nicht gar in den Augen der Verfolger rechtfertigt, so doch tatsächlich begünstigt, und ob sie ganz allgemein Unterdrückungen und Nachstellungen ausgesetzt sind, mögen diese als solche auch noch nicht von einer Schwere sein, die die Annahme politischer Verfolgung begründet. "Bezogen auf die fachgerichtlich entwickelten Unterscheidungen liegt es nahe, den vom Bundesverwaltungsgericht in der Abgrenzung zur Gruppenverfolgung geprägten Begriff der Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit in diesem Sinne zu verstehen und ihn damit in einer Weise heuristisch zu verwenden, die der vielgestaltigen Realität politischer Verfolgung Rechnung trägt" (BVerfG, Beschl. v. 23. 1. 1991, aaO). Das heißt jedoch nicht, daß neben die Formen der Einzel- und Gruppenverfolgung eine dritte Kategorie asylerheblicher Verfolgungsbetroffenheit treten soll. Vielmehr weisen die vom Bundesverfassungsgericht (aaO) hervorgehobenen Gesichtspunkte nur darauf hin, daß es Fälle gibt, in denen es dem Asylsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles und objektiver Beurteilung der Verfolgungsgefahr nicht zuzumuten ist, in seinem Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Diese Unzumutbarkeit kann sich grundsätzlich auch aus Referenzfällen stattgefundener oder stattfindender politischer Verfolgung sowie aus einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung ergeben. Die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen jedoch nach ihrer Intensität und Häufigkeit von einem solchen Gewicht sein, daß sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Asylbewerber die begründete Furcht ableiten läßt, selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden (BVerwG, Urt. v. 23. 7. 1991 - BVerwG 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, 375 ff [BVerwG 23.07.1991 - 9 C 154/90] = DVBl. 1991, 1089).

27

Schließlich genießt nicht nur derjenige Asylrecht, der seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat. Asylberechtigt ist vielmehr auch der Asylsuchende, der seinen Heimatstaat unverfolgt verlassen hat, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen, z.B. aufgrund vor Vorgängen oder Ereignissen in seinem Heimatland, die unabhängig von seiner Person nach seiner Ausreise eingetreten sind (sog. objektive Nachfluchtgründe, vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 26. 11. 1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51, 64 ff) [BVerfG 26.11.1986 - 2 BvR 1058/85], mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht (BVerwG, Urt. v. 23. 7. 1991, aaO). Ob eine Verfolgungsgefahr für die absehbare Zukunft besteht, ist aufgrund einer Prognose zu beurteilen, die - ausgehend von den Verhältnissen im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) - die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Asylbewerbers in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat. In diesem Zusammenhang ist eine regional begrenzte politische Verfolgung beachtlich, wenn sie in dem Teil des Heimatstaates droht, in den der Asylbewerber hypothetisch zurückkehren würde, und wenn dem Asylsuchenden ein Ausweichen vor der drohenden Verfolgung in andere Landesteile nicht zumutbar wäre (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989, aaO).

28

Auch politisch (religiös) motivierte Verfolgungshandlungen Dritter können dem Staate als dessen eigene - mittelbare staatliche - politische Verfolgung zugerechnet werden, allerdings nur dann, wenn er "einzelne oder Gruppen zu Verfolgungsmaßnahmen anregt oder derartige Handlungen unterstützt oder tatenlos hinnimmt und damit dem Betroffenen den erforderlichen Schutz versagt, weil er hierzu nicht willens oder nicht in der Lage ist" (vgl. BVerfG, Beschl. v. 2. 7. 1980, - 1 BvR 147, 181, 182/80 -, BVerfGE 54, 341). Dieser Auffassung hat sich das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 2. 8. 1983 - BVerwG 9 C 818.81 -, BVerwGE 67, 317; Urt. v. 3. 12. 1985 - BVerwG 9 C 33.85 u.a. -, BVerwGE 72, 269; Urt. v. 15. 5. 1990 - BVerwG 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 - zur mittelbaren Gruppenverfolgung -) angeschlossen. Dabei kann eine mittelbare staatliche Verfolgung wegen Schutzversagung nicht schon dann angenommen werden, wenn der Staat keinen lückenlosen Schutz vor politisch motiviertem Übergriffen durch nichtstaatliche Stellen oder Einzelpersonen gewährleisten könne (BVerwG, Urt. v. 3. 12. 1985, aaO). Der Staat muß aber die ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, verhindert er auf Dauer Übergriffe nicht, so erweist er sich als nicht schutzfähig (vgl. BVerwG, Urt. v. 2. 8. 1983, aaO).

29

Nach der mit der Ordinance XX vom 26. April 1984 eingeführten Strafvorschrift des Art. 298 B PPC ist es Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft unter Androhung einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe verboten, den Begründer der Ahmadiyya-Muslim-Bewegung, seine Frauen oder Nachkommen mit Worten zu bezeichnen, die allein dem Propheten Mohammed und dessen Angehörigen vorbehalten sind, ihre Gebetsstätten Moscheen zu nennen und den Gebetsruf "Azan" zu benutzen. Nach dem ebenfalls durch die Ordinance XX eingeführten Art. 298 C PPC ist es Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft unter der gleichen Strafandrohung untersagt, sich als Muslim zu bezeichnen, als Muslim aufzutreten, den Glauben als Muslim zu predigen und zu propagieren, missionarisch tätig zu sein oder in sonstiger Weise die religiösen Gefühle der Muslime zu beeinträchtigen. Nach dem am 5. Oktober 1986 eingeführten Art. 295 C PPC wird mit der Todesstrafe (die Alternative Freiheitsstrafe ist entfallen: vgl. amnesty international v. 24. April 1992) bedroht, wer in Sprache, Schrift, durch Zeichen oder durch Unterstellung oder Andeutung den Namen des Propheten Mohammed direkt oder indirekt befleckt.

30

Ob diese Strafbestimmungen eine politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG darstellen, hängt davon ab, welche religiösen Verhaltensweisen von Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft sie erfassen. Auch religiöse oder religiös motivierte Verfolgung kann politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG sein (BVerfG. Beschluß v. 1. 7. 1987 - 2 BvR 478/86 und 962/86 -, BVerfGE 76, 143 zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F.). Sie ist dies allerdings nicht schon dann, wenn die Religionsfreiheit überhaupt Eingriffen und Beeinträchtigungen ausgesetzt ist, vielmehr müssen die Eingriffe und Beeinträchtigungen eine Schwere und Intensität aufweisen, die die Menschenwürde verletzten. So ist politische Verfolgung gegeben, wenn die Angehörigen einer religiösen Gruppe ihrer religiösen Identität beraubt werden sollen, indem ihnen eine Verleugnung oder gar Preisgabe tragender Inhalte ihres Glaubens zugemutet wird und sie darin gehindert werden, ihren eigenen Glauben, so wie sie ihn verstehen (vgl. BVerfG, aaO, 158), im privaten Bereich und unter sich zu bekennen. Die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich, wie etwa der häusliche Gottesdienst, aber auch die Möglichkeit zum Reden über den eigenen Glauben und zum religiösen Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, ferner das Gebet und der Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf, gehören zu dem Bereich, den der Mensch als "religiöses Existensminimum" zu seinem Leben- und Bestehenkönnen als sittliche Person benötigt. Hingegen erleidet der Angehörige einer Glaubensgemeinschaft dann nicht politische Verfolgung, wenn die staatlichen Maßnahmen, die in die Religionsfreiheit eingreifen, dazu dienen, den öffentlichen Frieden durchzusetzen (BVerfG, aaO; Beschl, v. 12. 8. 1992 - 2 BvR 293/90 - AuAS 1992; Beschl. v. 21. 9. 1992 - 2 BvR 1814/89 u.a. -; Beschl. v. 21. 12. 1992 - 2 BvR 1263/92 u.a. -; Beschl. v. 2. 2. 1993 - BvR 1890/91 u.a. -; Beschl. v. 25. 5. 1993 - 2 BvR 1550/92 u.a. -, DVBl. 1993, 883; Beschl. v. 20. 9. 1993 - 2 BvR 645/93 u.a. -; Beschl. v. 17. 1. 1994 - 2 BvR 1426/93 u.a.; jeweils 1. Kammer des 2. Senates).

31

Für die rechtliche Würdigung ist von Bedeutung, ob Strafvorschriften, die ihrem Wortlaut nach auch Verhaltensweisen im häuslich-privaten Bereich betreffen, so ausgelegt und angewendet werden, daß auch religiöse Verhaltensweisen im privaten und gemeinschaftinternen Bereich bestraft werden (BVerfG aaO; BVerwG, Urt. v. 23. 7. 1991 - 9 BVerwG 68.90 -; Urt. v. 31. 3. 1992 - BVerwG 9 C 34.90 -; Urt. v. 7. 4. 1992 - BVerwG 9 C 58.91 -; Urteil v. 26. 10. 1993 - BVerwG 9 C 50.92, m.w.N.). Schließen nämlich Strafvorschriften ihrem Wortlaut nach eine Religionsausübung im privaten oder gemeinschaftsinternen Bereich von der Strafandrohung nicht aus, so wird es doch für möglich gehalten, daß die Auslegung und Anwendung von Strafvorschriften in der Praxis der Behörden und Gerichte die Strafvorschriften gegenüber der privaten Religionsausübung "zurücknehmen" und damit insoweit für die Praxis "unschädlich" machen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12. 8. 1992, 21. 9. 1992; 21. 12. 1992; 2. 2. 1993; 25. 5. 1993; 20. 9. 1993; 17. 1. 1994; aaO). Es kommt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (aaO) darauf an, wie die vorgenannten Vorschriften angewandt werden, wobei administrative Maßnahmen wie Richtlinien an die Strafverfolgungsbehörden oder auch eine anerkennte allgemeine Rechtsüberzeugung die Rechtsanwendung bestimmen können.

32

Bestehen aber Verbotsnormen, die ihrem Regelungsgehalt nach eine Strafverfolgung auch wegen privater Religionsausübung ermöglichen, und wird eine solche Handhabung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht in Frage gestellt, so reicht zur Verneinung einer Verfolgungsgefahr nicht der Verweis darauf, daß die bekanntgewordenen Verhaftungen im allgemeinen öffentliches Verhalten betreffen. Maßgebend ist nicht allein die statistisch ermittelte Wahrscheinlichkeit, mit der die bestehenden Vorschriften bei privater Religionsausübung letztlich zur Strafverfolgung führen. Dann würde die Asylgewährung zum Schutz vor staatlichen Übergriffen auf die private Religionsausübung weitgehend leerlaufen; denn bei einem Vergleich mit Maßnahmen, die sich gegen öffentliches Verhalten richten, werden Maßnahmen gegen privates Glaubensverhalten immer nur einen unerheblichen Anteil bilden, weil die Wahrscheinlichkeit, daß Verhaltensweisen im privaten Bereich überhaupt von staatlichen Stellen wahrgenommen werden, immer gering ist (vgl. BVerfG, aaO).

33

Verlangt die Norm von den Angehörigen einer Religionsgemeinschaft unter Androhung von Strafen an Leib, Leben oder persönlicher Freiheit eine Verleugnung oder Preisgabe tragender Inhalte ihrer Glaubensüberzeugung, so darf dieser Normbefehl nur dann als "unbeachtlich" angesehen werden, wenn die Rechtsauslegung oder Rechtsanwendung diese Strafvorschriften gegenüber der privaten Religionsausübung ausdrücklich zurücknimmt und so gezielt für die Praxis "unschädlich" macht. Fehlt es hieran, so droht einem Asylbewerber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung aufgrund seines religiösen Verhaltens im privat-internen Bereich. Ein solcher Grad an Wahrscheinlichkeit ist - wie bereits erwähnt - anzunehmen, wenn bei der zusammenfassenden Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen überwiegen. In diesem Sinne ist eine Verfolgungsgefahr zu bejahen, wenn der Asylbewerber jederzeit damit rechnen muß, wegen seines religiösen Verhaltens im häuslich-internen Bereich belangt und nachhaltig bestraft zu werden. Darüber hinaus sind asylerhebliche Repressalien auch schon dann anzunehmen, wenn förmliche Verurteilungen fehlen (vgl. BVerfG, aaO). Stehen einer Vielzahl von Verhaftungen nur verhältnismäßig wenige Verurteilungen gegenüber, so ist doch in den Verhaftungen ein systematischer Zugriff gegenüber der häuslich-internen Glaubensbetätigung zu sehen (vgl. BVerfG, aaO), zumal wenn nicht zu erkennen ist, daß vorläufige Inhaftierungen deshalb beendet würden, weil sie von den Gerichten abgelehnt werden.

34

Der Senat übersieht nicht, daß sich die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (aaO) mit dem "herabgestuften" Wahrscheinlichkeitsmaßstab befassen, der anzuwenden ist, wenn zu prüfen ist, ob ein bereits verfolgter (vorverfolgter)Asylbewerber künftig in seinem Heimatland vor politischer Verfolgung sicher ist. So führt das Bundesverfassungsgericht (aaO) aus, der einmal vor politischer Verfolgung Entflohene müsse hinreichend sicher sein, daß bei seiner Rückkehr die privat vollzogene Religionsausübung auch dann, wenn sie den Behörden durch Ausspähen oder Zufall bekannt werde, nicht mit Strafen gegen Leib, Leben oder die persönliche Freiheit geahndet werde. Indessen ist bei den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes (aaO) zu differenzieren:

35

Das Bundesverfassungsgericht stellt in den erwähnten Beschlüssen (aaO) in Anknüpfung an seine Leitentscheidung vom 1. Juli 1987 (aaO) Maßstäbe für die Asylgewährung bei Einschränkungen der Freiheit des religiösen Bekenntnisses auf, insbesondere dann, wenn diese Einschränkung aufgrund von weitgefaßten Strafvorschriften erfolgt, und befaßt sich insoweit generell mit den Vorschriften des Pakistanischen Strafgesetzbuches.

36

Mit dem Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 13. 1. 1993 - BVerwG 9 C 49.92 -; Urt. v. 15. Dezember 1992 - BVerwG 9 C 61.91 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 151 = InfAuslR 1993, 152 = DVBl. 1993, 327) ist des weiteren davon auszugehen, daß der Wortlaut einer Strafvorschrift allein nicht ausreicht, um anzunehmen, mittels dieser Vorschrift greife der Staat in den asylrechtlich geschützten Bereich der Religionsfreiheit ein. Das gilt selbst dann, wenn der weitgefaßte Wortlaut von Strafvorschriften auch Betätigungen im häuslich-kommunikativen Bereich erfaßt, sofern dem in der Lebenswirklichkeit nicht Rechnung getragen wird. Deshalb kommt es darauf an, wie die Strafvorschriften in der Rechtspraxis des Landes gehandhabt werden. Dabei sind "oberinstanzliche" Leitentscheidungen, Entscheidungen der Instanzgerichte sowie sonstige Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden zu beachten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 1. 7. 1987, aaO; BVerwG, Urt. v. 30. 11. 1990 - BVerwG 9 C 60.89 -; BVerwGE 87, 52; Urt. v. 15. 12. 1992; Urt. v. 26. 10. 1993, aaO).

37

Die genannten Vorschriften des Pakistanischen Strafgesetzbuches werden nach ihrem Normbefehl, nach der Praxis des Supreme Court, der Obergerichte und der anderen Gerichte sowie der Strafverfolgungs- und Polizeibehörden in Pakistan tatsächlich auch auf religiöses Verhalten von Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft im häuslich-internen Bereich (forum internum) angewendet.

38

Eine solche Leitentscheidung stellt die Entscheidung des Supreme Court vom 3. Juli 1993 dar, die das Bundesverwaltungsgericht in dem Urteil vom 26. Oktober 1993 (aaO) noch nicht angesprochen hat. Der Supreme Court hat ausgeführt: Derjenige Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft verletze Art. 295 C PPC, der die Kalima (islamisches Glaubensbekenntnis: Allein Allah ist Gott und Mohammed ist sein Prophet) oder andere islamische Begriffe auf Ansichtskarten, Plakaten, Abzeichen, Emblemen veröffentliche oder wiedergebe. Davon erfaßt sind neben der Kalima die Wendung "Im Namen Gottes des Gnädigen und des Barmherzigen", "Der Friede Gottes sei mit Dir" und der traditionelle Gebetsaufruf des Islam (S. 56 ff des Urteilsumdrucks in der Übersetzung von Chathrin Rückforth, Frankfurt). Das Gericht verwehrt es den Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft, ihren Glauben als Islam zu bezeichnen und stellt weiter dar, die Shariah erlaube Nichtmuslimen nicht, die islamische Terminologie als ihre eigene zu benutzen. Damit werde das Ziel verfolgt (S. 12 f des Urteilsumdrucks), "die skrupellose und betrügerische Benutzung der islamischen Terminologie" zu vermeiden. Das Urteil räumt den Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft mithin nur eine Freiheit für die Ausübung einer Religion ein, die nicht die ihre ist, nämlich das Leben als Nichtmuslime und des Nichtbekenntnisses zum Islam. Aus den weiteren Ausführungen der Entscheidung (S. 64 ff des Urteilsumdrucks) folgt, daß die genannten Strafvorschriften auch die religiöse Betätigung im häuslichen und gemeinschaftsinternen Bereich erfassen. Abgestellt wird nämlich auf das Streben der Ahmadis, die erkennbaren Kennzeichen der Muslime "irgendwie beizubehalten", um unter dem Deckmantel der Zugehörigkeit zum Islam zu versuchen, andere für ihre Religion zu gewinnen. Damit ist mithin jede Betätigung, die "Predigen und Verbreiten des Glaubens" ist, erfaßt. Das bedeutet wiederum, daß jede religiöse Betätigung eines Ahmadis, sei es in der Öffentlichkeit oder im häuslichen und gemeinschaftsinternen Bereich, nach der Entscheidung des Supreme Court vom 3. Juli 1993 von den genannten Strafvorschriften erfaßt ist. Allgemeines Einverständnis bestehe - nach Auffassung des Supreme Court - darüber (S. 73 des Urteilsumdrucks), daß ein Ahmadi, der die "Kalima" spreche oder ein derartiges Emblem zeige, damit erkläre, daß Mirza Ghulam Ahmad (der Gründer der Gemeinschaft) der Prophet sei, dem Gehorsam erwiesen werden müsse, und dadurch jeden - wahren - Muslim täusche. Auch damit ist hervorgehoben, daß es gleichgültig ist, an welcher Stelle sich ein Angehöriger der Ahmadiyya-Gemeinschaft so verhält, sofern er dieses nur gegenüber einem Muslim tut, der nach der Auffassung des Supreme Court ein wahrer Muslim ist. Das wird auch durch die Bemerkung des Supreme Court (S. 74 des Urteilsumdruckes) deutlich, wenn "etwas gegen den Propheten gesagt" werde, könne das den wahren Muslim "je nach der Schwere des Angriffs" sogar dazu verleiten, den Frieden zu brechen und damit - mit anderen Worten - Selbstjustiz zu üben.

39

Auch nach Auffassung des Auswärtigen Amtes (Lagebericht vom 20. September 1993, Stand: 1. September 1993) stellt das Urteil für die Bemühungen, die rechtliche "Diskriminierung der Ahmadis" zu beenden, einen Rückschlag dar. Gegen Ahmadis anhängige Verfahren, in denen dieses Urteil abgewartet werden sollte, dürften zu deren Ungunsten entschieden werden. Die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 24. September 1993 (A 16 S 858/93), das Urteil des Supreme Court vom 3. Juli 1993 stelle nur einen Abschluß der Rechtsentwicklung in Pakistan dar und enthalte keine Verschärfung der die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft betreffenden Rechtsprechung, teilt der Senat nicht. Diese Bewertung ist auch nicht mit der - dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zum Zeitpunkt seiner Entscheidung noch nicht bekannten - Darstellung des Auswärtigen Amtes im Lagebericht vom 20. September 1993 zu vereinbaren, weil dort mitgeteilt ist, das Urteil des Supreme Court schließe nicht nur eine bisherige Entwicklung ab, sondern stelle vielmehr einen Rückschlag für die Angehörigen der Gemeinschaft dar (der Supreme Court habe die Verfassungsmäßigkeit der Ordinance XX und damit auch der in dieser Vorschrift vorgesehenen Strafbestimmungen bestätigt).

40

Die Praxis der Pakistanischen Obergerichte stellt sich wie folgt dar: Der Lahore High Court hat in seiner Entscheidung vom 17. September 1991 (vgl. Gutachten Dr. Conrad v. 21. April 1992 - Südasieninstitut der Universität Heidelberg -, S. 11 f., im folgenden: Conrad) ausgeführt: Ahmadis dürften sich zu ihrem Glauben bekennen, sich jedoch nicht als Muslime bezeichnen. Ihnen sei nicht gestattet, den Glauben der Muslime zu "besudeln". Jede Handlung der Muslime, die dazu diene, ihren, der wahren Muslime, Glauben zu schützen, hätten die Ahmadis daher zu dulden. Bereits das Wiedergeben des Glaubensbekenntnisses (der Kalima) durch einen Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft enthalte den versteckten, subversiven Hinweis auf die Prophetenrolle ihres Sektengründers. Damit sei der Gebrauch der Kalima durch Ahmadis nicht nur ein unbefugtes Sichausgeben als Muslime, sondern bedeute, daß damit der Namen des Propheten gelästert werde und unterfalle damit dem Straftatbestand des Art. 295 C PPC. Damit ist in dieser Entscheidung ausgedrückt, daß die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft ihren Glauben nicht so leben dürfen, wie sie ihn verstehen, nämlich als Islam (vgl. hierzu: BVerwG, Urt. v. 26. 10. 1993, aaO). Diese Auslegung der Vorschriften erfaßt auch den gemeinschaftsinternen Bereich. In der Entscheidung wird nicht zwischen religiösen Verhaltensweisen im privaten und gemeinschaftsinternen Bereich und in der Öffentlichkeit unterschieden. Der Islam, auch der Islam der Ahmadiyya-Gemeinschaft, ist eine von vorneherein auf Öffentlichkeit ausgerichtete Religion (Gutachten Conrad S. 16 f.). Daraus erklärt sich die hervorgehobene Bedeutung des öffentlichen Gebetes und Gebetaufrufs, neben der die "christlichem Denken entstammende Vorstellung einer besonders geschützten Hausandacht im Kernbereich religiöser Existenz" (Conrad, S. 17) keine besondere Rolle spielt. Vielmehr gehört es zum Kernbereich der religiösen Existenz eines Muslims die Botschaft seiner Religion in einer äußerlich unterscheidbaren religiösen Reglementierung der Lebensführung darzulegen. Damit wird eine Trennung der Bereiche Öffentlichkeit und Privatsphäre grundsätzlich übersprungen. Wie auch das Bundesverwaltungsgericht (aaO) gemeint hat, ist in diesem Urteil keine - ausdrückliche - Unterscheidung zwischen Innenbereich und Außenbereich der Religionsausübung getroffen worden. Vor dem eben dargestellten Hintergrund ist aber dem Urteil der Inhalt und auch der Leitsatz zu entnehmen, daß ein Bekenntnis zum Islam durch einen Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft auch im gemeinschaftsinternen Bereich nach den bezeichneten Strafbestimmungen bestraft werden müsse. Insoweit ist es ohne Belang, daß es bei der Entscheidung des Lahore High Court vom 17. September 1991 um die Rechtmäßigkeit einer Verbotsverfügung des District Magistrate von Jhang ging, die dieser am 21. März 1989 aus Anlaß der Jahrhundertfeier der Ahmadiyya-Gemeinschaft in Rabwah erlassen hatte. Allerdings wird die Rechtmäßigkeit dieser Verbotsverfügung mit der Öffentlichkeit der geplanten "Glaubenshandlungen" begründet, die eine Provokation der Muslime darstellten und gegen Recht und Ordnung verstießen, denen auch die in der Verfassung garantierte Religionsausübung der Ahmadiyya-Gemeinschaft unterliege. Mögen auch die Ausführungen in diesem Urteil zu Art. 295 C PPC nach deutschem Rechtsverständnis ein "obiter dictum" sein, so stellen sie doch im Ergebnis dem Rechtsgrundsatz auf, derjenige Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft, der das Glaubensbekenntnis zitiere, verstoße gegen Art. 295 C PPC.

41

Dasselbe Ergebnis ist der Entscheidung des High Court of Baluchistan, Quetta - Entscheidung vom 22. Dezember 1987 (Anlage zur Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 4. Juli 1990 an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen und die deutsche Übersetzung durch Alauddin-Kuckuk vom 11. Januar 1991) - zu entnehmen. Das Gericht hat angenommen: Ein Angehöriger der Ahmadiyya-Gemeinschaft, der die Kalima-Tayyaba (Glaubensbekenntnis: "Es gibt keinen Gott außer Allah, Mohammed ist sein Prophet") als Stirnband, Emblem u.a. trage, mache sich nach Art. 298 C PPC strafbar. Derjenige, der die Kalima-Tabayya trage, gebe sich als Muslim (im englisch gefaßten Text der Entscheidung: to pose) aus. Das Schutzgut des Art. 298 C PPC seien die "Gefühle der Muslime". Der Umstand der Tatbegehung auf öffentlicher Straße ist in diesem Urteil zwar erwähnt, ihm kommt aber keine Bedeutung zu (vgl. Conrad, s. 10), weil das Gericht nur darauf abhebt, maßgeblich sei, ob ein anderer - ein Muslim - dadurch getäuscht werde, daß ein Ahmadi dieses Abzeichen trage. Nach dieser Auslegung ist die Strafvorschrift also auf Verhalten im "forum internum" anzuwenden. Vor diesem Hintergrund enthält das Urteil des High Court of Baluchistan den Rechtssatz, einem Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft sei aufgrund der genannten Strafvorschrift das Tragen oder Sprechen der Kalima auch im gemeinschaftsinternen oder häuslichen Bereich untersagt.

42

Dieses Ergebnis ist auch aus der Entscheidung des Federal Shariat Court vom 28. Oktober 1984 (vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 1. 7. 1987, aaO, m.w.N.) zu gewinnen. Nach dieser Entscheidung sind die Art. 298 A, 298 B und 298 C PPC gezielt gegen die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft gerichtet, die Angehörigen dieser Gemeinschaft seien nach der Verfassung Pakistans Nichtmuslime. Damit ist also zugleich gesagt, daß sie nicht nach ihrem eigenen Verständnis ihren Glauben so ausüben dürfen, wie sie ihn verstehen, nämlich als Islam. Ihr Beharren, sich Muslime zu nennen, sei verfassungswidrig; denn die Ahmadis seien als "eine Bedrohung für die Einheit des muslimischen Ummah und als Fackelträger der Zerstörung anzusehen". Sie seien als Ketzer aus der Gemeinschaft aller Muslime auszustoßen. Diese Auslegung des Art. 298 B und 298 C PPC durch das Federal Shariat Court zeigt, daß durch diese Vorschriften den Ahmadis ein religiöses Leben nach ihren eigenen Vorstellungen untersagt wird. Eine Grenzziehung zwischen privater und öffentlicher Religionsausübung ist nach dieser Auslegung der Strafvorschrift nicht möglich (vgl. Marx, Umfang und Grenzen der Religionsfreiheit im Asylrecht unter besonderer Berücksichtigung der Pakistanischen Strafpraxis gegenüber Ahmadis, ZDWF-Schriftenreihe Nr. 52, Februar 1993, S. 38 f., 60 f.). Beim Vergehen nach Art. 295 C PPC sei die Todesstrafe zwingend. Soweit das Federal Shariat Court ausführt, den Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft gebiete die Shariah Schutz, weil die Religionsausübung von Nichtmuslimen geschützt sei, lassen damit die genannten Strafvorschriften nicht das Recht von Angehörigen der Gemeinschaft unberührt, sich zu ihrem Glauben zu bekennen. Belassen ist ihnen vielmehr nach der Entscheidung des Federal Shariat Court nur, sich zu ihrem Glauben an Mirza Ghulam Ahmad als Propheten und verheißenen Messias zu bekennen und insoweit ihre Religion zu praktizieren und in ihren Gebetsstätten nach ihren Vorschriften zu beten. Die Angehörigen der Ahmaddiyya-Gemeinschaft dürfen ihre Religion aber nicht so leben, wie sie sie verstehen. Ihnen ist im Gegenteil in dieser Entscheidung ausdrücklich untersagt, ihren Glauben so auszuüben, wie sie ihn verstehen, nämlich als Islam; auch ist es ihnen nach dieser Entscheidung untersagt worden, sich als Muslime zu bezeichnen. Vor dem bereits geschildeten Hintergrund der in einem vom Islam geprägten Land - wie Pakistan - fehlenden Grenzziehung zwischen öffentlicher und privater Religionsausübung ist auch dieser Entscheidung der Leitsatz zu entnehmen, daß die genannten Strafvorschriften auch religiöse Betätigungen von Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft im häuslichen und gemeinschaftsinternen Bereich erfassen.

43

Dabei ist noch einmal hervorzuheben, daß es nicht darum gehen kann, in Pakistan ergangenen gerichtlichen Entscheidungen den - positiv formulierten - Leitsatz zu entnehmen, die Strafvorschriften erfaßten auch die religiöse Betätigung von Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft im gemeinschaftsinternen Bereich. Vielmehr sind die genannten Entscheidungen nach dem in Pakistan bestehenden Rechtsverständnis (vgl. Conrad) darauf zu untersuchen, ob ihnen - wenn auch nicht ausdrücklich erwähnt - der Inhalt (auch als inhaltliche Leitentscheidung) zu entnehmen ist, daß religiöse Betätigung im häuslichen und gemeinschaftsinternen Bereich den genannten Strafnormen unterliege. Das ist nach dem Gesagten zu bejahen.

44

Die Entscheidung des Supreme Court vom 4. November 1992 läßt ein anderes Bild nicht gewinnen. In der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 31. März 1993 an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht ist allerdings noch gesagt, die Entscheidung des Gerichtes wirke sich dahin aus, daß künftig in ähnlichen Fällen häufiger Freilassung auf Kaution gewährt werde. In der Auskunft vom 28. April 1993 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof hat das Auswärtige Amt diese Bewertung allerdings deutlich eingeschränkt. Das Supreme Court habe es nämlich dem Verfahren der Hauptsache überlassen, die Streitfrage abschließend zu klären, ob bei einem Verstoß gegen Art. 295 C PPC Freilassung auf Kaution überhaupt möglich sei. Das Verfahren in der Hauptsache sei noch nicht abgeschlossen. Die Auskunft im Lagebericht vom 10. Februar 1993 wird ausdrücklich als nicht richtig dargestellt. Dieser Entscheidung des Supreme Court kann mithin nicht der Leitsatz entnommen werden, die Strafvorschriften erfaßten nur religiöse Betätigungen der Ahmadis in der Öffentlichkeit.

45

Die genannten Bestimmungen des Pakistanischen Strafgesetzbuches, die darauf gerichtet sind, die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft zum Glaubensabfall zu bewegen, werden auch von den Pakistanischen Strafgerichten und Strafverfolgungsbehörden so angewandt, daß dieses Ziel erreicht wird. Hinter diesen Gesetzesbestimmungen steht der Wille des Staates Pakistan, nach ihnen zu verfahren und sie durchzusetzen (Gutachten Dr. Munir Ahmed, Deutsches Orient-Institut, vom 31. Januar 1992, S. 5 ff.). In der Auskunft vom 14. Dezember 1989 an das Verwaltungsgericht Köln berichtete das Auswärtige Amt von drei Fällen, in denen Verurteilungen nach der Bestimmung des Art. 298 C PPC wegen religiösen Verhaltens erfolgten, das ausschließlich im privaten Bereich stattfand. Dabei sei ein Ahmadi wegen "Iftikaf" (Fasten und Gebet) in seinen Privaträumen zu sechs Monaten Freiheitsstrafe und 500 Rupien Geldstrafe verurteilt worden. Bereits im Juli 1986 seien sechs Ahmadis aus ihrer Moschee heraus verhaftet worden, weil sie dort gebetet und den Koran gelesen hätten (Gutachten Dr. Munir Ahmed vom 19. 3. 1987). Bis zum September 1988 waren insgesamt über 3.000 Ahmadis aufgrund der Ordinance XX vom 26. April 1986 einer strafrechtlichen Verfolgung wegen ihrer religiösen Betätigung ausgesetzt (vgl. amnesty international vom September 1981). Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27. Oktober 1988 an das Verwaltungsgericht Karlsruhe waren im März 1990 etwa 1.000 Verfahren gegen Ahmadis aufgrund der genannten Vorschriften anhängig. Die Berichte über Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Ahmadis wegen der Glaubensausübung im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich haben in der jüngeren Vergangenheit zugenommen. So ist am 13. Januar 1990 gegen eine Gruppe von Ahmadis in Abbottabad ein Strafverfahren eingeleitet worden, weil sie in einem Privathaus eine Gebetsstunde abgehalten hätten. Gegen zwölf Teilnehmer seien Verfahren wegen Verstoßes gegen Art. 298 C PPC eingeleitet worden, weil sie gebetet und aus dem Koran vorgelesen hätten. Fünf Personen seien verhaftet und nach dreieinhalb Monaten gegen Kaution freigelassen worden (amnesty international vom September 1991 und vom 24. April 1992; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 6. November 1990 an das Verwaltungsgericht Karlsruhe). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. November 1992 (Stand 1. Oktober 1992, S. 7 f.) sind "die Ahmadis in Pakistan" nicht "generell" gefährdet, ihre "Situation" bleibe "allerdings prekär". Im Lagebericht vom 10. Februar 1993 (Stand: 1. Januar 1993) hält das Auswärtige Amt an der Einschätzung fest, Ahmadis würden in Pakistan nicht systematisch vom Staat verfolgt (S. 2), räumt aber ein, es genüge häufig eine Strafanzeige einer Privatperson, um einen Ahmadi für einige Monate ins Gefängnis zu bringen, auch wenn er schließlich freigesprochen werden müßte; auch berichtet das Auswärtige Amt nunmehr (S. 4), in der Provinz Punjab habe das "oberste Provinzgericht" (gemeint ist offenbar der Lahore High Court) überzogene Urteile - "mehrmonatige Gefängnisstrafen für den mündlichen oder schriftlichen Gebrauch religiöser Floskeln wie 'im Namen Gottes' durch Ahmadis" bestätigt. Insgesamt wurden nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes seit Inkrafttreten der Ordinance XX von April 1984 bis September 1988 3.130 Ahmadis auf der Grundlage der Art. 298 A, 298 B sowie Art. 298 C PPC verhaftet und etwa 120 bis 150 Ahmadis verurteilt. Von Herbst 1988 bis zum Frühjahr 1990 wurden 235 weitere Strafverfahren gegen Ahmadis eingeleitet (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft v. 8. März 1990 an das Verwaltungsgericht Hannover). Im Frühjahr 1990 war nach Mitteilung des Auswärtigen Amtes von insgesamt ca. 1.000 anhängigen Verfahren gegen Ahmadis auszugehen (vgl. Auskunft v. 9. März 1990 an das Oberverwaltungsgericht Bremen). Von April 1992 bis Dezember 1992 sind 2.133 Strafanzeigen gegen Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft erstattet worden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. September 1993, S. 7). Ähnliche Berichte rühren von dem Rechtsanwalt Mujeeb-ur-Rahman sowie von dem als Zeugen vernommenen Paul Gerhard Hübsch, dem Pressesprecher der Ahmdiyya-Gemeinschaft, (vgl. Verwaltungsgericht Köln - 2 K 10728/89 u.a. -, Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 18. 2. 1992) her. So sind zwei Brüder verurteilt worden, die als Inhaber eines Geschäftes in Mardan Quittungsblocks mit der Aufschrift "Im Namen Gottes des Wohltätigen und Barmherzigen" benutzten (vgl. amnesty international, Gutachten v. 28. April 1989 an das Verwaltungsgericht Karlsruhe). Auch die Verurteilung von zwei Ahmadis durch den Sub Divisional Magistrate von Mardan am 9. Juli 1985 zu einer dreijährigen Haftstrafe und einer Geldstrafe beruhte auf einer Betätigung, die dem nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich zuzurechnen ist. Die Verurteilten trugen das Kalima Abzeichen und hatten es in ihrem Geschäft angebracht (Mitteilung der Ahmadiyya-Muslim-Jamaat vom 31. August 1992 an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen - mit Anlagen -). Entsprechendes gilt für die bereits erwähnte Verurteilung wegen religiösen Fastens im eigenen Haus und die Benutzung des Friedensgrußes (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft v. 14. Dezember 1989 an das Verwaltungsgericht Karlsruhe, Auskunft v. 5. März 1990 an das Hamburgische Oberverwaltungsgericht). Allerdings hat das Auswärtige Amt in der Auskunft vom 4. Mai 1990 an das Verwaltungsgericht Düsseldorf und vom 4. Juli 1990 an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen seine eben genannten Auskünfte relativiert, gleichwohl sind die Auskünfte dahin zu bewerten, daß das Schwergewicht des bestraften Verhaltens im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich lag. Im "forum internum" haben sich auch die vom Auswärtigen Amt (Auskunft v. 5. September 1990 an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen und Auskunft vom 6. November 1990 an das Verwaltungsgericht Karlsruhe) sowie die in der Pressemitteilung der Ahmadiyya Muslim Bewegung vom 11. Mai 1992 - nebst Anlagen - berichteten Vorfälle ereignet. Das gilt auch für die in den Mitteilungen der Ahmadiyya-Mulsim-Jamaat vom 31. August 1992, 4. Januar 1993 und 1. März 1993 bezeichneten Entscheidungen pakistanischer Gerichte (Kushab v. 19. 7. 1990 - Beten in einer Moschee; Sarghoda v. 25. 2. 1992 - Errichtung einer Gebetsstätte; polizeiliche Ermittlungen wegen Verwendung religiöser Wendungen in Briefen an Privatleute).

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Die genannten Strafvorschriften werden also auch auf religiöses Verhalten der Ahmadis im häuslich internen Bereich angewendet (amnesty international v. 24. April 1992). Das ergibt sich auch aus den Pressemitteilungen der Nuur-Moschee (Mitteilung vom 11. Mai 1992, Juni 1992) sowie aus den Auskünften des Auswärtigen Amtes (Auskunft vom 14. Dez. 1989 an das Verwaltungsgericht Karlsruhe, v. 5. März 1990 an das Hamburgische Oberverwaltungsgericht sowie Lagebericht vom 28. Juli 1992 und 21. November 1992). Auch der pakistanische Rechtsanwalt Mujeeb-ur-Rahman hat in seiner Aussage vom 13. August 1992 vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden dargestellt, Ahmadis würden auch wegen ihrer religiösen Betätigung im häuslich-internen Bereich verfolgt. Insbesondere könne "alles", was ein Ahmadi "mache", unter Strafe gestellt werden, das Tragen der "Kalima", das Zitieren des Korans in der eigenen Wohnung, das Gebrauchen des üblichen Grußes, das Drucken von Heiratskarten sowie Gebete in der eigenen Wohnung und in der Moschee; so sei ein Imam verhaftet worden, weil er bei der Freitagsansprache in der Moschee eine Rede gehalten habe. Er schätze, daß etwa 4000 Verfahren gegen Ahmadis in Pakistan anhängig seien, die auf die Vorschriften der Art. 295 C, 298 B und 298 C PPC gestützt worden seien. Die im Verhältnis zu den anhängigen Verfahren geringe Zahl von Verurteilungen erklärt sich daraus, daß die Verfahren häufig über viele Jahre verschleppt werden, damit es nicht zu einem Urteil kommt (vgl. Auswärtiges Amt, Ergänzung zum Lagebericht Pakistan, Stand: 15. April 1994). Deshalb seien Freisprüche ebenso selten wie Verurteilungen (Auswärtiges Amt, aaO).

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Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß die pakistanischen Gerichte nur über eine begrenzte Unabhängigkeit verfügen und es bei den Untergerichten keine Trennung zwischen Judikative und Exekutive gibt. Der oberste Verwaltungsbeamte der Verwaltungsbezirke ist zugleich Vorgesetzter der Amts- und Bezirksrichter (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 30. November 1992). Auch sind diese Gerichte politischen Einflüssen zugänglich und dem Druck radikaler religiöser muslimischer Gruppen "ausgesetzt" (Auswärtiges Amt, aaO). In dem Lagebericht vom 10. Februar 1993 betont das Auswärtige Amt, daß die Untergerichte stark den Einflüssen "örtlicher Machthaber" ausgesetzt seien (vgl. die von der Ahmadyya-Muslim-Jamaat in dem Schreiben vom 9. April 1993 an den Hess. Verwaltungsgerichtshof v. 9. April 1993 bezeichnete Gerichtsentscheidung). Überdies hat das Auswärtige Amt in seiner Antwort auf eine Parlamentarische Anfrage vom 19. April 1993 nochmals einschränkend hervorgehoben, die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft seien wegen der "gegen sie erlassenen Strafgesetze über die Anfeindungen durch persönliche Gegner oder radikal-religiöse Gruppen verwundbar" und der Druck sei besorgniserregend, der in "Gerichtsverfahren gegen Mitglieder religiöser Minderheiten von radikal-religiösen Gruppen auf einzelne Richter ausgeübt" werde. Das Auswärtige Amt hat in seiner Ergänzung zu dem Lagebericht Pakistan (Stand: 15. April 1994) nochmals betont, daß die Richter in "Ahmadi-Verfahren häufig unter großem Druck von seiten radikal-religiöser Gruppen" stünden "bis hin zu Morddrohungen gegen die Familie des Richters". Diesem Druck religiöser Gruppen treten die pakistanischen Behörden nicht gegenüber, im Gegenteil: "Wenn religiöse Gruppen Druck auf Gerichtsverfahren ausüben, versuchen die pakistanischen Behörden erfahrungsgemäß nur selten, ein faires Gerichtsverfahren zu gewährleisten" (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht vom 6. Mai 1994).

48

Insoweit stellt sich die Praxis der pakistanischen Untergerichte und Behörden regional unterschiedlich dar. Eine solche Rechtspraxis mag nicht europäischen Vorstellungen entsprechen, die davon ausgehen, daß die maßgebenden Strafvorschriften in der gesamten Rechtsordnung - im wesentlichen - einheitlich gehandhabt werden. In nicht wenigen Ländern tritt der Staat jedoch zwei- oder mehrgesichtig auf; er verfolgt für verschiedene Regionen unterschiedliche Kultur- oder Rechtsordnungen oder läßt solche zu und erlaubt auch die unterschiedliche Anwendung derselben Strafvorschriften (vgl. hierzu: BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989, aaO).

Als ein solcher Staat ist Pakistan einzuordnen, wie sich aus den eben erwähnten Auskünften und Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes ergibt. Das erklärt die von dem Bundesverwaltungsgericht in dem Urteil vom 26. Oktober 1993 (aaO) berichteten Unterschiede. So haben nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28. Juli 1992 Großveranstaltungen der Ahmadiyya-Gemeinschaft vor den Augen der Öffentlichkeit stattfinden können und nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 4. Juli 1990 an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen beim Freitagsgebet in der Moschee in Rawalpindi Lautsprecher benutzt werden können. Diese Mehrgesichtigkeit des pakistanischen Staates erklärt auch, daß innerhalb der Moschee von Lahore "Gemeindeleben" durchgeführt werden konnte (BVerwG, aaO, Urteilsabdruck S. 21).

49

Wie bereits erwähnt, können asylrechtlich erhebliche Repressalien auch ohne förmliche Verurteilungen erfolgen. Verfolgt wird auch derjenige, der mit einem Ermittlungs- und Strafverfahren überzogen wird und deshalb längere Zeit inhaftiert wird (in Untersuchungshaft). Wie schon zu der Praxis der pakistanischen Untergerichte und Polizei- sowie Strafverfolgungsbehörden dargestellt worden ist, sind eine Vielzahl von Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft mit Strafverfolgungsmaßnahmen überzogen worden, die nicht mit einer förmlichen Verurteilung geendet haben. Diese Maßnahmen sind deshalb von erheblicher Intensität, weil der Federal Shariat Court in seiner Entscheidung vom 30. Oktober 1990 (vgl. Conrad S. 11) die in Art. 295 C PPC für herabsetzende Äußerungen über den Prophethen Mohammed neben der Todesstrafe vorgesehene Alternative einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe für unislamisch erklärt hat, da für dieses Vergehen die Todesstrafe nach dem Gebot des Islams zwingend sei (Das Gericht setzte entsprechend Art. 203 D der Verfassung des Staates Pakistan der Regierung des Landes eine Frist, die Bestimmung zu ändern oder aber Klage vor dem Shariat-Senat des Supreme Court zu erheben.). Deshalb ist es nach der Praxis der pakistanischen Gerichte - jederzeit - möglich, daß ein Ahmadi wegen eines Verhaltens im häuslich-privaten Bereich, das als Lästerung des Propheten Mohammed angesehen wird, für längere Zeit in Untersuchungshaft genommen wird. Auch diese Praxis der pakistanischen Gerichte ist asylrelevant. So ist gegen zwei Ahmadis, die den Koran übersetzt haben, nach Art. 295 C PPC Untersuchungshaft angeordnet worden (Pressemitteilung der Ahmdiyya-Muslim-Jamaat vom 3. März 1992). In einem anderen Fall hat der Lahore High Court Untersuchungshaft angeordnet, weil ein Ahmadi in einem Gespräch mit einem Arbeitskollegen beleidigende Äußerungen über den Propheten Mohammed gemacht haben soll (vgl. Marx, S. 60 f.). Aus diesen und den weiteren bei Marx (aaO, S. 50 f.) geschilderten Fällen ist der Schluß zu ziehen, daß kein Ahmadi sicher sein kann, wegen Handlungen und Äußerungen im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich nicht zumindest in Untersuchungshaft genommen zu werden. Entgegen der Prognose des Auswärtigen Amtes in dem Lagebericht vom 30. September 1992 ist Art. 295 C PPC von pakistanischen Gerichten angewandt worden; gegen Angeklagte - allerdings nicht gegen Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft - ist die Todesstrafe verhängt worden (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10. Februar 1993, S. 4 und Der Spiegel vom 20. September 1993). Die Entscheidung des Supreme Court vom 2. November 1992 (siehe oben) hat diese Auslegung des Art. 295 C PPC nicht so relativiert, daß nicht mit der Verhängung von Untersuchungshaft zu rechnen ist, zumal die Untergerichte häufig unter dem Druck fundamentalistischer Muslime oder örtlicher Machthaber stehen (siehe oben).

50

Dabei läßt sich nicht feststellen, daß die Vielzahl der Verhaftungen (Untersuchungshaft) die Reaktion auf im wesentlichen öffentliches Verhalten sind, wobei "nicht die allein statistisch ermittelte Wahrscheinlichkeit, mit der die bestehenden Vorschriften bei privater Religionsausübung letztlich zur Strafverfolgung führen" (BVerwG aaO) maßgebend ist. Träfe man eine solche Feststellung, dann würde die Asylgewährung vor staatlichen Übergriffen auf die private Religionsausübung weitgehend leerlaufen; denn beim Vergleich mit Maßnahmen, die sich gegen öffentliches Verhalten richten, werden Maßnahmen gegen privates Glaubensverhalten immer nur einen unerheblichen Anteil bilden, weil die Wahrscheinlichkeit, daß Verhaltensweisen im privaten Bereich überhaupt von staatlichen Stellen wahrgenommen werden, immer gering ist (vgl. BVerfG aaO). Die vom Bundesverfassungsgericht (aaO) abweichende Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Urt. v. 24. 9. 1993, aaO) teilt der Senat aus den vom Bundesverfassungsgericht (aaO) genannten Gründen nicht. Eine solche Wahrscheinlichkeit liegt - nach dem hier anzuwendenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit - vor, wenn es allein aufgrund von Anzeigen böswilliger Nachbarn zu Strafverfolgungsmaßnahmen kommt und die Intensität der Strafverfolgung wiederum davon abhängt, inwieweit es dem persönlichen Gegner eines Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft oder radikal-religiösen Gruppen gelingt, auf die mit der Sache befaßten Behörden und Gerichte Druck auszuüben (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes v. 1. April 1993 und vom 20. September 1993 sowie Antwort des Auswärtigen Amtes auf die Parlamentarische Anfrage v. 19. April 1993). Auch berichtet das Auswärtige Amt in diesen Lageberichten von einer erheblichen Anzahl von Strafanzeigen wegen angeblicher religiöser Vergehen. Danach läßt sich nur der Schluß ziehen, daß ein gläubiger Angehöriger der Ahmadiyya-Gemeinschaft in Pakistan jederzeit mit Strafverfolgung, jedenfalls mit Untersuchungshaft, rechnen muß, auch wenn diese Strafverfolgungsmaßnahmen durch Anzeigen mißgünstiger Nachbarn oder anderer orthodoxer Muslime ausgelöst werden. Die Gerichte werden als Werkzeug privater Rache genutzt (NZZ v. 29. Dezember 1993). Ist es so, um es mit den Worten des Lageberichts vom 20. September 1993 wiederzugeben: "Häufig genügt eine Strafanzeige, um einen Ahmadi für einige Monate ins Gefängnis zu bringen, auch wenn er schließlich freigesprochen werden sollte, während solcher Verfahren stehen die Richter oft unter erheblichem Druck von seiten radikal-religiöser Gruppen", so ist der Schluß zwingend, daß jeder Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft jederzeit damit rechnen muß, aufgrund einer Strafanzeige für einige Monate inhaftiert zu werden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. September 1993 S. 7), auch wenn er schließlich freigesprochen werden sollte, wenn eine Privatperson - ein böswilliger Nachbar - die Strafvorschriften dazu benutzt, um sich an einem ihm mißliebigen Angehörigen der Gemeinschaft zu rächen. Kein Angehöriger der Ahmadiyya-Gemeinschaft kann daher vor schweren Eingriffen, die asylrechtlich relevant sind, sicher sein, er muß vielmehr jederzeit damit rechnen, von den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden sowie den Gerichten wegen religiöser Handlungen im häuslich-kommunikativen Bereich strafrechtlich belangt zu werden. Den dargestellten Überlegungen steht nicht entgegen, daß angesichts der Zahl von Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft, die in Pakistan leben, eine größere Zahl von Strafverfolgungsmaßnahmen hätte bekannt werden müssen, wenn die genannten Strafvorschriften von pakistanischen Behörden und Gerichten in dem eben beschriebenen Sinne praktiziert werden. Die Zahl der in Pakistan lebenden Angehörigen der Gemeinschaft steht nicht fest. Die Angaben schwanken zwischen 103.000 und 4 Mio. (Dr. Wohlgemuth, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, Gutachten vom 22. Februar 1988 an das Hamburgische Oberverwaltungsgericht, S. 454 f. m.w.N. im folgenden: Wohlgemuth). Der Federal Shariat Court hat in seiner bereits bezeichneten Entscheidung aus dem Jahre 1984 angegeben, in Pakistan lebten nur noch 103.000 Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft. Jedenfalls ist die Zahl von 4 Mio. Angehörigen der Gemeinschaft, die in Pakistan lebten, weit überhöht. Das Auswärtige Amt (Lagebericht vom 20. September 1993 S. 7) berichtet von 1 bis 2 Mio. Mitgliedern der Gemeinschaft in Pakistan. Es ist mit den einem Gericht in der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung stehenden Mitteln nicht möglich, verläßlich zu ermitteln, wie groß die Zahl der in Pakistan lebenden Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft ist. Aufgrund der Angaben in dem Gutachten Dr. Wohlgemuth (vgl. auch Brockhaus Enzyklopädie, 19. Aufl., Stichwort Ahmadis (2), 1 Mio. Mitglieder in aller Welt), ist - auch unter Einbeziehung der Berichte des Auswärtigen Amtes - in hohem Grade unwahrscheinlich, daß die Zahl der Angehörigen der Gemeinschaft in Pakistan die Millionengrenze überschreitet. Vor diesem Hintergrund aber gewinnt die Zahl der dargestellten Referenzfälle (siehe oben) erhöhtes Gewicht. Angesichts der - bereits geschilderten - Mehrgesichtigkeit des pakistanischen Staates besteht allerdings nicht in allen Teilen Pakistans ein staatliches Interesse, die bezeichneten Strafvorschriften auch in der Absicht anzuwenden, die Religionsausübung von Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft schlechthin zu untersagen. Deshalb ist es möglich, daß sie ihre Religion - auch - unbehelligt in ihren Gebetsstätten und im häuslichen und gemeinschaftsinternen Bereich ausüben, zugleich droht ihnen aber nach dem Gesagten jederzeit und an jedem Ort staatliche Verfolgung wegen der Religionsausübung im gemeinschaftsinternen und häuslichen Bereich. Die durch solche Anzeigen veranlaßten Strafverfolgungsmaßnahmen aber sind unmittelbare staatliche politische (religiöse) Verfolgung. Aus dem Gesamtgeschehen läßt sich nicht der Schluß ziehen, die Glaubensbetätigung im "forum internum" werde von den pakistanischen Behörden und Gerichten bewußt geduldet und diese seien nicht gewillt, gegen private Glaubensbetätigung vorzugehen. Vielmehr hängt es allein vom Zufall ab, ob religiöse Äußerungen im "forum internum" belangt werden, eben auch davon, ob böswillige Nachbarn Behörden von dem Verhalten eines Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft "im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich" unterrichten. Diese asylrechtlich relevanten Repressalien ohne förmliche Veurteilungen sind von besonderer Bedeutung, weil nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 10. Februar 1993 (S. 6) und 20. September 1993 (S. 11) die Zustände in pakistanischen Gefängnissen bedrückend sind und es häufig vorkommt, daß Personen monatelang und sogar jahrelang ohne Anklage inhaftiert werden; solche Häftlinge werden oft das Opfer staatlicher Willkürhandlungen. Mißhandlungen und Folter in Polizeistationen und Gefängnissen sind "an der Tagesordnung"; viele Frauen werden von den Gefängnisaufsehern vergewaltigt (SZ vom 14. Januar 1994; vgl. hierzu auch BVerfG - 1. Kammer des 2. Senats -, Beschl. v. 27. 9. 1993 - 2 BvR 2041/93 -, NVwZ - Beilage 3, 1993/19).

51

Eine Änderung der Verhältnisse ist nach dem Wahlsieg von Benazir Bhutto am 6. Oktober 1993 und ihrer späteren Wahl zur Ministerpräsidentin (vgl. BVerwG, Urt. v. 26. 10. 1993, aaO, S. 29 des Urteilsumdrucks) nicht zu erwarten. Wie bereits erwähnt, werden trotz der Niederlage der religiös ausgerichteten Parteien bei den Parlamentswahlen des Oktober 1993 Minderheiten weiterhin Opfer religiös verbrämter Verletzungen der Menschenrechte. Der Spielraum einer jeden Regierung Pakistans, die Verhältnisse zugunsten der Ahmadiyya-Gemeinschaft zu bessern, ist gering. Die Konferenz der Welt-Muslim-Organisation hat im April 1974 entschieden, diese Gemeinschaft sei eine subversive Bewegung gegen den Islam (Wohlgemuth S. 455); das hindert die Regierung jedes vom Islam bestimmten Staates, den Druck gegen diese Gemeinschaft zu verringern. Durch die Anerkennung des islamischen Rechtes als Richtschnur für die Anwendung des sonstigen Rechtes sind nichtorthodoxe Muslime "Spielball einer Willkürjustiz" (NZZ v. 29. Dezember 1993), weil (siehe oben) sich der auf die nicht unabhängigen Richter ausgeübte Druck orthodoxer Muslime auch auf die Rechtsanwendung auswirkt. Diese Einschätzung, die schon aufgrund der bisherigen Entwicklung (s. dazu oben) gerechtfertigt ist, wird noch dadurch unterstrichen, daß die Stellung Benazir Bhuttos durch familieninterne Streitigkeiten gefährdet ist ("Verschärfter Familienzwist im Hause Bhutto", NZZ v. 15. Januar 1994). Ihre Lage ist labil, sie muß nach allen Seiten Kompromisse schließen und kann sich den Schutz einer verachteten Minderheit nicht zum Ziel setzen (SZ v. 11. Oktober 1993; 18. Oktober 1993; 20. Oktober 1993). Sie ist auf wechselnde Mehrheiten angewiesen (AdG S. 38292). Insgesamt läßt sich sagen, daß der "Wahlsieg" Benazir Bhuttos die Verhältnisse in Pakistan nicht verändern wird und weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, daß die Art. 298 B, 298 C und 295 C PPC auf Religionsausübung von Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft auch im privaten oder gemeinschaftsinternen Bereich angewandt werden. Diese Einschätzung wird durch die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 16. Mai 1994 (an das Verwaltungsgericht Bremen) bestätigt. Danach hat sich nach dem Wahlsieg Benazir Bhuttos durch die Pakistan People's Party die "rechtspraktische Anwendung der Art. 295 C, 298 B und 298 C" PPC auf die Religionsausübung der Ahmadis nicht verändert. Allerdings habe die Regierung Bhutto betont, sie wolle in Zukunft den Mißbrauch des Art. 295 C PPC nicht mehr hinnehmen, hat aber bisher diese Absicht nicht in der Form eines Gesetzes verwirklicht. An dieser Stelle bekräftigt das Auswärtige Amt nochmals, daß es häufig vorgekommen sei, daß aufgrund der einfachen Behauptung, ein Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft habe gegen Art. 295 C PPC verstoßen, gegen diesen Angehörigen der Gemeinschaft Strafverfahren eingeleitet wurden mit der Folge, daß er - jedenfalls - einige Tage inhaftiert worden ist (Auswärtiges Amt, aaO). In Ergänzung zu dem Lagebericht Pakistan (Stand: 15. April 1994) gelangt das Auswärtige Amt zu dem Ergebnis, eine Veränderung der Verhältnisse in Pakistan sei in bezug auf die gegen die Angehörigen der Ahmadiyya gerichteten Strafgesetze gegenwärtig nicht zu erwarten. Keine Regierung in Pakistan wolle nämlich ganz auf die Unterstützung der religiösen Parteien verzichten oder sich durch eine Rücknahme dieser Gesetze diesen Parteien entfremden, zumal das Machtverhältnis zwischen den beiden großen Parteien in Pakistan "labil" sei. So habe - allerdings noch vor dem Regierungswechsel - auf Betreiben der Pakistanischen Regierung der Generalstaatsanwalt in dem Verfahren vor dem Supreme Court, das mit dem Urteil vom 30. Juli 1993 endete, die Verfassungsmäßigkeit dieser Strafgesetze nachdrücklich verteidigt. Die Schwäche der "Zentralregierung" wird auch dadurch deutlich, daß sie die Einführung der Shariah in einer Stammesregion der Nordwestprovinz Pakistans hinnehmen mußte (SZ v. 17. Mai 1994). Auch die außenpolitische Situation zwingt die pakistanische Regierung dazu, auf orthodox-islamische Kräfte in Pakistan Rücksicht zu nehmen (vgl. Die Zeit v. 28. April 1994).

52

Auch läßt sich nicht feststellen, daß der in Art. 3 Abs. 2 Shariah Gesetz enthaltene Vorbehalt der Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte der Nichtmuslime, die Rechtstellung der Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft sichere, obwohl diese als "Apostaten" nach fundamentalistischer Auffassung kein Existenzrecht hätten (vgl. BVerwG, aaO, Urteilsumdruck S. 24). Hervorzuheben ist vielmehr, daß die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft ihre Religion nach eigenem Verständnis als Islam auffassen und leben, daß aber dieses Verständnis ihrer Religion ihnen untersagt wird. Es geht also nicht darum, die verfassungsmäßigen Rechte der Nichtmuslime zu untersuchen, sondern darum, daß nach der Rechtsordnung des Staates Pakistan einer Gruppe von Menschen (Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft), die sich selbst als Muslime verstehen, das Recht genommen wird, sich als Muslime zu bezeichnen und zu bekennen, womit ihnen ein tragender Grundsatz ihrer religiösen Auffassung und ihres religiösen Lebens entzogen wird. Insoweit kommt es nicht auf die weitere Entwicklung und die Prognose an, inwieweit aufgrund der Shariah weitere Gesetze "mit fundamentalistischem Inhalt" erlassen werden und die Art. 298 B, 298 C und 295 C PPC aufgrund von "Lehrsätzen des orthodoxen Islam" ausgelegt und auf deren Grundlage überprüft werden (das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen - Urteil vom 23. 11. 1992 - 19 A 10125/90 - hat dem Gutachten Conrad sogar entnommen, die Shariah ermögliche es den Gerichten nur, das geltende Recht insoweit auf die Vereinbarkeit mit der Shariah zu überprüfen, als es das Prozeßrecht und das "Muslim Personal Law" betreffe und Letzteres gelte für die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft nicht, weil sie nach der pakistanischen Verfassung Nichtmuslime seien und einem eigenen "Personal Law" unterlägen).

53

Hier ist also eine unmittelbare Betroffenheit von Angehörigen der Gruppe von Bedeutung, obwohl die Referenzfälle politischer Verfolgung es möglicherweise noch nicht rechtfertigen mögen, vom Typus einer gruppengerichteten Verfolgung auszugehen. Die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft leben aber als Minderheit in einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser und gesellschaftlicher Verachtung. Deshalb sind Verfolgungsmaßnahmen in den Augen von orthodoxen Muslims gerechtfertigt und werden tatsächlich so begünstigt, daß die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft im allgemeinen Unterdrückungen und Nachstellungen ausgesetzt sind, die jede für sich genommen noch nicht von einer Schwere sein mögen, die die Annahme politischer Verfolgung begründet.

54

Angesichts dieser Verhältnisse in Pakistan ist es einem Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft nicht zuzumuten, in seinem Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Diese Unzumutbarkeit ergibt sich aus den genannten Referenzfällen stattgefundener und stattfindender politischer Verfolgung sowie aus einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser und gesellschaftlicher Verachtung. Diese gesellschaftliche und religiöse Verachtung hat auch in den - bekannten - Pogromen des Jahres 1974 gegipfelt. Noch im Jahre 1989 fanden öffentliche Ausschreitungen gegen Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft statt, die Sicherheitskräfte schritten zum Schutz der Ahmadis nur zögerlich oder gar nicht ein (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. September 1993, S. 8) Auch in der Zeit nach 1974 ist es zu Ausschreitungen gegen Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft gekommen: So wurde am 26. Oktober 1984 das Ahmadiyya-Zentrum in Sahiwal überfallen (Auswärtiges Amt, Auskunft v. 20. August 1986 an Bayer. Verwaltungsgerichtshof), am 9. Mai 1986 versuchten etwa 1.000 orthodoxe Muslime die Gebetsstätte der Ahmadiyya-Gemeinschaft in Quetta zu stürmen (Auswärtiges Amt, aaO), der Polizei gelang es nicht, den Demonstrationszug aufzuhalten, die Polizei beschlagnahmte die Gebetsstätte vorübergehend und verhaftete ihre Verteidiger, schließlich ist in Mardan am 16. August 1986 die Moschee der Ahmadiyya-Gemeinschaft von einer aufgebrachten Menschenmenge gestürmt worden, die Polizei verhaftete etwa 90 Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft, die sich in der Moschee aufhielten, die Verhafteten wurden bis auf vier am nächsten Tag freigelassen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 10. Februar 1987 an das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen). Diese Ausschreitungen rechtfertigen nicht schon ihretwegen die Annahme einer gegenwärtigen politischen Verfolgung, prägen aber das Klima allgemeiner moralischer und gesellschaftlicher Verachtung.

55

Damit sind die für eine Verfolgung sprechenden Umstände nach ihrer Intensität und Häufigkeit von einem solchen Gewicht, daß sich daraus bei objektiver Betrachtung für jeden (gläubigen) Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft die begründete Furcht ableiten läßt, selbst ein Opfer von Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Ein Angehöriger der Ahmadiyya-Gemeinschaft, der von seiner Religion geprägt ist, befindet sich nämlich in einer einen religiösen Verzicht abnötigenden Zwangslage, weil ihm eine Religionsausübung im privaten Bereich oder in der Gemeinschaft mit anderen Gläubigen in den Gebetsstätten nicht mehr zuzumuten ist. Es besteht nach dem Gesagten aufgrund der Rechtspraxis in Pakistan eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft wegen religiöser Verhaltensweisen belangt werden, die außerhalb der Öffentlichkeit im asylrechtlich geschützten Bereich zutage treten. Bei der erforderlichen qualifizierenden Betrachtungsweise ergibt sich nach dem Gesagten, daß die für eine solche Rechtsanwendung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen, als die dagegen sprechenden Tatsachen und deshalb bei zusammenfassender Bewertung des zur Prüfung gestellten Sachverhaltes diesen gegenüber überwiegen und das auch angesichts der Tatsache, daß die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinschaft in dem Klima allgemeiner Verachtung, in dem sie leben müssen, bereits früher - am verfolgungsintensivsten im Jahre 1974 - Pogromen ausgesetzt waren, in der eine Vielzahl von Angehörigen der Gemeinschaft getötet worden ist.

56

Aufgrund der dem Senat vorliegenden Erkenntnisse droht den Klägern zu 1) bis 3) damit bei einer Rückkehr nach Pakistan heute und in absehbarer Zukunft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Der Senat ist aufgrund der Bescheinigung der Ahmadiyya-Muslim-Jamaat vom 28. Januar 1994 sowie der Anhörung der Kläger zu 1) bis 3) vor dem Berichterstatter am 4. Mai 1994 davon überzeugt, daß die Kläger zu 1) bis 3) seit ihrer Geburt Angehörige dieser Gemeinschaft sind, bereits vor ihrer Ausreise aus Pakistan überzeugte Anhänger des Glaubens dieser Gemeinschaft waren - so die Kläger zu 1) und 2) - und es gegenwärtig noch sind, zumal sie am Leben der Gemeinde teilnehmen und - so die Kläger zu 1) und 2) - in ihrer örtlichen Gemeinschaft Ehrenämter übernommen hatten bzw. noch innehaben. Weiter haben die Kläger zu 1) bis 3) in den Anhörungen vor dem Bundesamt, dem Verwaltungsgericht - so die Kläger zu 1) bis 2) - und dem Berichterstatter des Senates unter Beweis gestellt, daß sie mit der Lehre ihrer Gemeinschaft wohl vertraut sind. Dies gilt auch und im besonderen Maße für die Klägerin zu 3), die trotz ihres jugendlichen Alters über beachtliche Kenntnisse der Glaubensinhalte ihrer Gemeinschaft verfügt. Es ist daher ohne Frage, daß auch die Klägerin zu 3) von der Lehre ihrer Gemeinschaft als gläubiges Mitglied der Ahmadiyya-Muslim-Jamaat geprägt ist und nicht etwa nur über eine lediglich kindliche Frömmigkeit verfügt.

57

Daß die Kläger zu 1) und 2) schließlich mit Pässen eingereist sind, in denen sich für ihre Religionszugehörigkeit die Eintragung "Muslim" (und nicht "Ahmadi") findet, spricht auch nicht dagegen, daß es sich bei ihnen um ihren Glauben lebende Angehörige der Ahmadiyya-Muslim-Jamaat handelt, wie dies das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil vom 20. August 1990 bereits zutreffend dargelegt hat. Die Kläger zu 1) und 2) haben nämlich glaubhaft machen können, daß sie diese Eintragung, die nach ihrem Verständnis korrekt ist, weil sich die Ahmadis selbst als Muslime verstehen, nicht selbst durch eine ihren Religionsstifter beleidigende Erklärung veranlaßt haben, vielmehr haben sie - dies ist in Pakistan möglich - die Pässe durch einen Reiseagenten ausstellen lassen.

58

Die Kläger zu 1) bis 3) sind deshalb von der asylrechtlich relevanten Einschränkung der Glaubensfreiheit als religiös geprägte Ahmadis auch persönlich betroffen. Werden bestimmte Verhaltensweisen, Äußerungen und Bekenntnisse untersagt, so sind noch nicht ohne weiteres auch alle einzelnen Mitglieder der Gruppe asylberechtigt, sondern nur diejenigen Mitglieder der Gruppe, die durch das Verbot auch selbst betroffen sind. Lebt aber ein Asylsuchender - wie hier die Kläger zu 1) bis 3) - in seinem Glauben und ist er der Glaubenslehre, der er anhängt, verbunden, so muß er aufgrund der Strafbestimmungen einen Eingriff in seine religiöse Identität befürchten.

59

Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise stand für die Kläger zu 1) bis 3) eine inländische Fluchtalternative nicht offen. Für einen an seiner Gemeinschaft gebundenen Ahmadi besteht eine solche Alternative nicht, da die pakistanischen Strafgesetze landesweit gelten, wenn auch nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 30. November 1992 (S. 7) und 20. September 1993 (S. 15) überwiegend im Punjab Strafverfahren gegen Ahmadis anhängig gemacht werden.

60

Da die Strafvorschriften in ganz Pakistan gelten, läßt sich ihre Anwendung im Einzelfall auf den häuslich-privaten oder nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich landesweit nicht (mit dem für die inländische Fluchtalternative geltenden Maßstab der hinreichenden Sicherheit) ausschließen. Auch wenn das Auswärtige Amt in dem Lagebericht vom 20. September 1993 (S. 10) berichtet, in großen Städten könnten Ahmadis "unbehelligt leben", ändert dies nichts daran, daß jedem Ahmadi eine asylrechtlich relevante Bestrafung nach den genannten Vorschriften in dem ganzen Land droht, weil der Geltungsbereich dieser Strafvorschriften alle Gebiete Pakistans erfaßt und sich eine "rechtlich ausgeformte" Praxis im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (aaO) auch für diese Gebiete nicht feststellen läßt (vgl. BVerwG, Urt. v. 26. 10. 1993, aaO), das für jeden vorverfolgten Angehörigen der Gemeinschaft annimt, es bestehe für ihn in Pakistan nicht hinreichende Sicherheit vor Verfolgung.

61

Die Drittstaatenregelung des Asylverfahrensgesetzes 1993 (§§ 26 a, 27) ist nicht anzuwenden (BVerfG, Beschl. v. 17. 1. 1994, aaO).

62

Nach der Rechtsprechung des Senats (siehe z.B. das Urteil vom 26. Mai 1994 - 12 L 6219/91 -) hindert die Ausstellung von Nationalpässen durch die pakistanische Botschaft in Bonn die Anerkennung der Kläger zu 1) und 2) nicht, zumal sie deutlich gemacht haben, daß sie die Pässe nur für den Besuch der Jahresversammlung ihrer Gemeinschaft in England nutzen wollten und daß ihnen für diesen Besuch von dem Beklagten zu 2) des ersten Rechtszuges Fremdenpässe nicht ausgestellt worden sind.

63

Als Vorverfolgte sind die Kläger zu 1) bis 3) aufgrund ihres persönlichen Schicksales nicht anzusehen. Soweit der Kläger zu 1) davon berichtet hat, er habe Ende 1987 seine Arbeitsstelle bei der Firma B + S Motors in Karachi seiner Religionszugehörigkeit wegen verloren - die Entlassung im Jahre 1974 kommt schon wegen des fehlenden zeitnahen Zusammenhanges zu der Ausreise im August 1988 für eine etwaige Vorverfolgung nicht in Betracht -, ist nicht als - mittelbare - staatliche Verfolgung einzuordnen, weil die staatlichen Behörden - eines jeden Landes - nicht in der Lage sind, zu verhindern, daß ein Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis beendet. Zudem hat der Kläger zu 1) nicht glaubhaft machen können, daß es ihm bis zu seiner Ausreise, also während der ganzen Dauer des ersten Halbjahres 1988 unmöglich gewesen ist, in Pakistan, und zwar in einer der zahlreichen Städte Pakistans - mag seine Entlassung als Ahmadi im Kfz-Gewerbe in Karachi auch publik geworden sein - anders als im Jahre 1977 eine neue Anstellung als Automechaniker zu finden oder sich mit dem Erlös aus dem Verkauf seiner Wohnung in Karachi selbst oder an einem anderen Ort selbständig zu machen und so seine bisherige Nebentätigkeit (Ankauf, Reparatur und Verkauf von Gebrauchtwagen) zu seinem Hauptberuf und damit zu seiner Existenzgrundlage zu machen. Die von der Klägerin zu 2) berichteten Behelligungen durch Nachbarn sind schon von ihrem Gewicht her asylrechtlich nicht bedeutsam. Dies gilt auch für die Belästigungen und Behelligungen, denen die Klägerin zu 3) in der Schule ausgesetzt gewesen ist.

64

Die Kläger zu 1) bis 3) haben gegen die Beklagte zu 1) des ersten Rechtszuges auch den Anspruch auf Feststellung, daß sie die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG erfüllen.

65

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 2, 167 VwGO, 708 Nr. 11 ZPO.

66

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 132 Abs. 2 VwGO), bestehen nicht. Der Senat ist nicht von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26. Oktober 1993 (aaO) abgewichen, vielmehr hat er sich dieser Entscheidung ausdrücklich angeschlossen. Eine Abweichung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist nur gegeben, wenn das Berufungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschriften mit einem seine Entscheidung tragenden - abstrakten - Rechtssatz von einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abweicht. Soweit der Senat den Sachverhalt würdigt, rechtfertigt dieses nicht die Zulassung der Revision, da der Senat nicht von der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichtes abweicht, mag auch nicht auszuschließen sein, daß das Bundesverwaltungsgericht, hätte es als Tatsacheninstanz den Sachverhalt zu würdigen - zu einem von dem Senat abweichenden Ergebnis gelangt wäre.

67

Vorsitzender Richter am Oberverwaltungsgericht Atzler, der an der Entscheidungsfindung mitgewirkt hat, hat Urlaub und kann daher nicht unterschreiben. Dr. Petersen

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Dr. Petersen

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Schmidt