Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 24.06.1994, Az.: 6 L 5528/92

Behindertenaufzug; Mehrfamilienhaus; Bauaufsicht; Baugenehmigung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
24.06.1994
Aktenzeichen
6 L 5528/92
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1994, 14019
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1994:0624.6L5528.92.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg 10.09.1992 - 4 A 995/92
VG Oldenburg (Oldenburg) 10.09.1992 - 4 A 995/92
nachfolgend
BVerwG - 19.10.1994 - AZ: BVerwG 4 B 208/94

Fundstellen

  • ND MBl 1995, 871
  • OVGE MüLü 45, 330
  • ZMR 1994, 492

Amtlicher Leitsatz

1. Ein Behindertenaufzug, der nur von dem Eigentümer eines Mehrfamilienhauses genutzt wird, das er selbst bewohnt und im übrigen vermietet, dient nicht wirtschaftlichen Zwecken und unterliegt daher nicht der Gewerbe-, sondern der Bauaufsicht.

2. Für Treppen in einem Mehrfamilienhaus mit 7 Wohnungen können keine geringeren Laufbreiten als 1 m zugelassen werden.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer - vom 10. September 1992 geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Die gehbehinderte Klägerin begehrt eine nachträgliche Baugenehmigung für zwei in ihrem dreigeschossigen Mehrfamilienhaus ... 82 ... eingebaute Treppenschrägaufzüge, die sie allein für ihre eigene Wohnung im ausgebauten Dachgeschoß benutzt.

2

Die übrigen sechs Wohnungen ihres Hauses hat die Klägerin vermietet. Die geraden Geschoßtreppen sind ca. 1,05 m breit. Durch die beiden Schrägaufzüge wird die Laufbreite der Treppen bis auf insgesamt 65 cm eingeengt.

3

Mit Bescheid vom 11. Juli 1991 versagte die Beklagte die am 1. März 1991 beantragte Baugenehmigung für diese Aufzugsanlagen, weil die nutzbare Laufbreite notwendiger Treppen mindestens 1 m betragen müßten und der erforderliche Rettungsweg für die Bewohner und Besucher des Hauses nicht mehr gewährleistet sei; auch handele es sich nicht um Treppen mit geringer Benutzung, für die geringere Laufbreiten zugelassen werden könnten. Den dagegen erhobenen Widerspruch der Klägerin wies die Bezirksregierung Weser-Ems mit Bescheid vom 20. Februar 1992 als unbegründet zurück.

4

Mit ihrer fristgemäß erhobenen Klage hat die Klägerin vorgetragen: Nicht die Beklagte, sondern das Gewerbeaufsichtsamt sei für die vorgeschriebene Erlaubnis zuständig, weil die streitigen Aufzugsanlagen in einem Miethaus wirtschaftlichen Zwecken dienten. Im übrigen würden die Treppen selten benutzt, so daß geringere Laufbreiten als 1 m zugelassen werden könnten. Schließlich sei auch eine Befreiung gerechtfertigt.

5

Die Klägerin hat beantragt,

6

den Bescheid der Beklagten vom 11. Juli 1991 und den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Weser-Ems vom 20. Februar 1992 aufzuheben,

7

hilfsweise,

8

die Beklagte zu verpflichten, die beantragte Baugenehmigung zu erteilen.

9

Die Beklagte hat beantragt,

10

die Klage abzuweisen.

11

Sie hat vorgetragen: Für ihre Zuständigkeit sei maßgeblich, daß die Aufzugsanlagen allein der Klägerin zum Erreichen ihrer eigenen Wohnung und damit nicht wirtschaftlichen Zwecken des Miethauses dienten. Für die Intensität der Benutzung der Treppen sei nicht auf die derzeitigen Bewohner abzustellen, sondern auf die mögliche Ausnutzung der Wohnungen. Auch in eingeklapptem Zustand verringerten die Treppenlifte die Fluchtwege erheblich.

12

Das Verwaltungsgericht hat der Klage durch Gerichtsbescheid vom 10. September 1992, auf dessen Gründe Bezug genommen wird, stattgegeben, weil nicht die Beklagte, sondern das Gewerbeaufsichtsamt zuständig sei, da Behindertenaufzüge in Miethäusern wirtschaftlichen Zwecken dienten.

13

Gegen diesen ihr am 18. September 1992 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 14. Oktober 1992 eingegangene Berufung der Beklagten, mit der sie geltend macht: Ein ständiger Wechsel der behördlichen Zuständigkeiten je nach Belegung der Wohnungen in Mehrfamilienhäusern mit Eigentümern oder Mietern entspreche nicht dem Sinn der gesetzlichen Regelung. Maßgeblich sei, daß in dem streitigen Gebäude keine Arbeitnehmer beschäftigt würden. Außerdem dienten die beiden Aufzüge nur der Klägerin selbst und nicht der Wirtschaftseinheit des gesamten Hauses.

14

Die Beklagte beantragt,

15

unter Änderung des angefochtenen Gerichtsbescheides die Klage abzuweisen.

16

Die Klägerin beantragt,

17

die Berufung zurückzuweisen.

18

Sie erwidert: Mit dem Gerätesicherheitsgesetz in seiner ab 1993 geltenden Fassung habe die Aufzugsverordnung eine neue Rechtsgrundlage erhalten. Danach komme es auf die Gefährdung von Beschäftigten nicht an. Vielmehr genügten wirtschaftliche Zwecke, die bei Miethäusern anzunehmen seien. Die Zuständigkeit könne nicht davon abhängen, ob die Aufzugsanlage ausschließlich von dem Hauseigentümer genutzt werde oder auch von seinen Mietern.

19

Wegen des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten im einzelnen wird auf deren Schriftsätze in beiden Rechtszügen sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen, die mit ihrem wesentlichen Inhalt Gegenstand der Berufungsverhandlung waren.

20

II.

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Erteilung der beantragten Baugenehmigung, weil der Einbau der Treppenaufzüge im Hinblick auf § 34 Abs. 1 NBauO und § 14 Abs. 4 DVNBauO nicht dem öffentlichen Bauordnungsrecht entspricht.

21

1. Die vom Verwaltungsgericht verneinte Zuständigkeit der Beklagten als Baugenehmigungsbehörde ergibt sich aus den §§ 63 Abs. 1, 68 Abs. 1 NBauO. Zwar schließen nach § 68 Abs. 2 NBauO Erlaubnisse, die in Verordnungen nach § 24 Gewerbeordnung vorgesehen sind, eine Baugenehmigung ein, wenn die Erlaubnis davon abhängt, daß die Baumaßnahme dem öffentlichen Baurecht entspricht. Danach entfällt ein gesondertes Baugenehmigungsverfahren für Aufzugsanlagen, die einer Erlaubnis nach § 8 der Aufzugsverordnung - AufzV - vom 27. Februar 1980 (BGBl I S. 205) in der jetzt geltenden Fassung bedürfen. Das ist jedoch bei den Treppenschrägaufzügen für den persönlichen Gebrauch der Klägerin in ihrem eigenen Haus nicht der Fall. Denn die AufzV gilt nach ihrem § 1 Abs. 2 nicht für Aufzugsanlagen, die weder gewerblichen noch wirtschaftlichen Zwecken dienen und in deren Gefahrenbereich auch keine Arbeitnehmer beschäftigt werden. Die Behindertenaufzüge der Klägerin dienen insbesondere nicht etwa deshalb wirtschaftlichen Zwecken, weil sie innerhalb eines Mehrfamilienhauses mit sechs vermieteten Wohnungen installiert sind, solange sie nur zum persönlichen Gebrauch der gehbehinderten Klägerin zum Erreichen ihrer eigenen Dachgeschoßwohnung benutzt werden sollen. Dem steht die bisherige Rechtsprechung nicht entgegen, wonach Mietwohnhäuser als wirtschaftliche Unternehmen in diesem Sinne anzusehen sein sollen (BVerwG, GewArch 1973, 265 [BVerwG 12.07.1973 - BVerwG I C 23.72]; VGH München, GewArch 1974, 271; OVG Münster, ZMR 1973, 58). Denn dabei ging es um Fahrkorbtüren für Personenaufzüge oder um Heizkesselanlagen für alle Mieter solcher Mehrfamilienhäuser, nicht aber um eine private Aufzugsanlage für den ausschließlichen Gebrauch eines Hauseigentümers, der Teile seinens Gebäudes an andere Familien vermietet. So ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß Aufzugsanlagen in einem Wohnhaus mit Eigentumswohnungen nicht im Rahmen einer wirtschaftlichen Unternehmung genutzt werden, so daß für sie nicht die Gewerbeaufsichtsämter, sondern die Baubehörden zuständig sind (OVG Münster, OVGE 27, 231; VGH Mannheim, GewArch 1974, 55). Anders als in Mietwohnhäusern, in denen die Aufzugsanlage den Mietern zur Verfügung steht und in denen die Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr durch das Vermieten erfolgt, unterhalten Wohnungseigentümer ihre Aufzugsanlage für eigene private Zwecke, indem sie sie selbst benutzen oder ihren Besuchern zur Verfügung stellen. Daran soll sich selbst dann nichts ändern, wenn einzelne Eigentumswohnungen wiederum vermietet werden (OVG Münster, OVGE 27, 234). Die Klägerin bewohnt nicht nur eine Eigentumswohnung, sondern ihr eigenes Mehrfamilienhaus und benutzt die streitigen Treppenschrägaufzüge ausschließlich als Gehbehinderte selbst. Sie dienen daher trotz ihrer Lage in einem überwiegend vermieteten Mehrfamilienhaus nicht wirtschaftlichen Zwecken. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, zu wessen Gebrauch die Aufzugsanlage zur Verfügung steht (§ 1 Abs. 2 AufzV) und nicht, ob das Gebäude überwiegend vermietet oder selbst bewohnt wird. Zwar gelten mehrere Vorschriften der AufzV nach § 18 Abs. 7 DVNBauO auch für Aufzugsanlagen, die weder gewerblichen noch wirtschaftlichen Zwecken dienen. Dafür bleibt jedoch die Bauaufsichtsbehörde zuständig (§ 18 Abs. 7 Satz 3 DVNBauO). Die Erlaubnispflicht des § 8 AufzV für Behindertenaufzüge gehört nicht zu den entsprechend anzuwendenden Vorschriften (§ 18 Abs. 7 Satz 1 DVNBauO).

22

2. Die Aufzugsanlagen der Klägerin sind jedoch nicht genehmigungsfähig, weil sie die notwendigen Treppen in ihrer Laufbreite zu stark einengen. Diese beträgt ohne die Aufzüge 1,05 m und muß nach § 14 Abs. 4 Satz 1 DVNBauO mindestens 1 m betragen. Nur bei geringer Benutzung notwendiger Treppen können geringere Laufbreiten zugelassen werden (Satz 3). Eine deutliche Unterschreitung der vorgeschriebenen Mindestbreite durch die Schrägaufzüge liegt auf der Hand und läßt sich nicht bestreiten. Bei einem Treppenhaus für insgesamt 7 Wohnungen kann aber auch nicht von einer geringen Benutzung ausgegangen werden. Dabei ist nicht auf die derzeitigen Bewohner, sondern auf die maximal zulässige Bewohnbarkeit des Hauses abzustellen, die mit der Baugenehmigung gestattet ist. Notwendige Treppen müssen für den größten zu erwartenden Verkehr ausreichen (§ 34 Abs. 2 Satz 2 NBauO). Außerdem müssen sie gut begehbar und verkehrssicher sein (§ 34 Abs. 1 NBauO). Deshalb müssen Treppen in Wohngebäuden mit mehr als zwei Wohnungen auch in anderen Bundesländern mindestens eine nutzbare Breite von 1 m haben (vgl. § 9 Abs. 1 Nr. 2 DVBayBauO). Nur in Wohngebäuden mit bis zu zwei Wohnungen sowie innerhalb von Wohnungen genügt eine Laufbreite von 80 cm. Als Treppen mit geringerer Benutzung gelten etwa solche, die nicht zu Aufenthaltsräumen führen. Deshalb hat die Beklagte von dieser Ausnahmemöglichkeit zu Recht abgesehen.

23

3. Für eine Befreiung nach § 86 NBauO fehlt es bereits an den gesetzlichen Voraussetzungen. Insbesondere würde die Einhaltung der vorgeschriebenen Mindestbreite der Treppen hier nicht zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen. Zwar kann die Klägerin nicht auf einen Wohnungstausch innerhalb ihres Hauses verwiesen werden, weil es dazu einer schwer durchsetzbaren Kündigung der Mieter einer Erdgeschoßwohnung bedürfte. Da das Bauordnungsrecht aber nur Anforderungen an bauliche Anlagen stellt, kann eine offenbar nicht beabsichtigte Härte sich nur aus den Besonderheiten des Grundstücks und seiner Bebauung, nicht aber aus den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Eigentümers ergeben. Die Gehbehinderung der Klägerin besteht unabhängig von der baulichen Situation ihres Wohnhauses. Auch sonst ist keine für eine Befreiung erforderliche Atypik des Sachverhalts erkennbar. Mit einer großzügigen Anwendung der Befreiungsvorschriften auf Fälle dieser Art würde im übrigen aufgegeben werden, was an Berechenbarkeit und Klarheit mit der Vorgabe bestimmter Mindestmaße im Interesse der Verkehrssicherheit baulicher Anlagen zu gewinnen ist. Auf diese Weise würde auch das Problem nur verschoben werden, weil bei einer Auflockerung zugunsten geringfügiger Abweichungen lediglich eine gewisse Verlagerung der Grenze erreicht wird und damit gerechnet werden muß, daß entsprechende Auflockerungen dann mit einem gewissen Recht auch von denen begehrt werden, die von den geringfügigen Abweichungen wiederum ihrerseits nur geringfügig abweichen (BVerwG, BRS 27 Nr. 151). Die Einhaltung des öffentlichen Baurechts rechtfertigt grundsätzlich auch erhebliche Nachteile für die Verantwortlichen, weil nur so erreicht werden kann, daß niemand gefährdet wird und unzumutbare Verkehrsbehinderungen nicht entstehen (§ 1 Abs. 1 Satz 3 NBauO). Eine Befreiung muß nach dem Gesetz auch mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein. Dazu gehört der Schutz der Hausbewohner und -besucher vor einer Gefährdung durch die Verengung der Treppenlaufbreite. Dieses schutzwürdige Interesse stünde daher einer Befreiung zusätzlich entgegen.

24

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

25

Gründe für die Zulassung der Revision (§§ 132, 137 VwGO) sind nicht gegeben.

26

Beschluß

27

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Berufungsverfahren auf 6.000,-- DM (in Worten: sechstausend Deutsche Mark) festgesetzt.

28

Taegen

29

Dr. Sarnighausen

30

Behrens