Sozialgericht Aurich
Urt. v. 25.08.2015, Az.: S 55 AS 100/14
Gewährung von Mehrbedarfsleistungen für kostenaufwändige Ernährung i.R.v. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende
Bibliographie
- Gericht
- SG Aurich
- Datum
- 25.08.2015
- Aktenzeichen
- S 55 AS 100/14
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2015, 37990
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGAURIC:2015:0825.S55AS100.14.0A
Rechtsgrundlage
- § 21 Abs. 5 SGB II
Tenor:
Der Bescheid vom 17.09.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.01.2014 wird insoweit abgeändert als dass der Beklagte dem Kläger für Oktober 2013 bis März 2014 weitere 229,20 EUR an Leistungen nach dem SGB II wegen Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung zu zahlen hat. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Berechtigung des Klägers, vom Beklagten im Rahmen von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) sog. "Mehrbedarfsleistungen für kostenaufwändige Ernährung" zu erhalten.
Der Kläger ist am 7. Oktober 1989 geboren und lebte zumindest in der Zeit von Mitte 2013 bis Mitte 2014 im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten in der Stadt A-Stadt. Er bezog jedenfalls seit 2013 durchgängig laufende Leistungen der Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II vom Beklagten.
Mit einem streitigen Bescheid vom 17. September 2013 bewilligte der Beklagte laufende Leistungen nach dem SGB II für die Monate Oktober 2013 bis März 2014 in Höhe von monatlich insgesamt 761,- EUR. Diese Leistungen setzten sich zusammen aus monatlichen Leistungen für den Regelbedarf inklusive Mehrbedarf in Höhe von 382,- EUR und Leistungen für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe 379,- EUR. Mehrbedarfsleistungen waren hierin nicht bewilligt. Außerdem bestätigte der Beklagte mit weiterem Bescheid vom 17. September 2013 nochmals, dass ein Antrag des Klägers auf Gewährung eines Mehrbedarfes für kostenaufwändige Ernährung wegen seiner Erkrankung abgelehnt werde. Hierin wurde ergänzend ausgeführt, dass bei der Krankheit (chronische Fibromatose) ein krankheitsbedingter Mehrbedarf zu verneinen sei, da Vollkost angezeigt sei und davon ausgegangen werden könne, dass der im Regelbedarf enthaltene Anteil für Ernährung den notwendigen Aufwand für Vollkost decke. Unter dem 23. September 2013 legte der Kläger Widerspruch gegen "Ihr Schreiben vom 17.09.2013" ein. Er bezog sich darauf, dass krankhaftes Untergewicht zu Mehrbedarfsleistungen führen könne. Nach Änderung der Unterkunftskosten des Klägers erließ der Beklagte am 21. November 2013 einen Änderungsbescheid für die Zeit vom 01. Dezember 2013 bis 31. März 2014 alleine bezüglich der Bedarfe für Unterkunft und Heizung, die nunmehr in Höhe von 400,40 EUR bewilligt wurden.
Unter dem 10. Januar 2014 erstellte Dr. K., Arzt im Gesundheitsamt, ein mit "Amtsärztliches Gutachten zur Notwendigkeit eines Mehrbedarfs für Ernährung nach den Bestimmungen des SGB XII" überschriebenes einseitig bedrucktes Blatt.
Hierin war formularmäßig angekreuzt, dass nach Überprüfung der Unterlagen keine Erkrankung vorliege, die eine Kostform erforderlich mache, die gegenüber der Normalernährung Mehrkosten verursache. Eine Untersuchung des Klägers oder eine Beiziehung von Befundunterlagen ist aus den Akten nicht zu entnehmen. In den Akten ist alleine eine kurze formularmäßige Erklärung des Hausarztes vorhanden. Nach Erhalt der ärztlichen Stellungnahme wies der Beklagte mit streitigem Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2014 den Widerspruch des Klägers gegen die Nichtgewährung des Mehrbedarfs zurück.
Der Kläger leidet seit dem Jahr 2010 unter starken chronischen Bauchschmerzen. Bei ihm ist nach zahlreichen Untersuchungen in Fachkliniken eine "Fibromatose retroperitoneal" als eventuell diese Schmerzen verursachende Erkrankung festgestellt. Des Weiteren besteht beim Kläger zumindest seit dem Jahre 2013 ein reduzierter Allgemeinzustand mit einem Body-Mass-Index (BMI) von ca. 16 (der Kläger ist 1,78 cm groß und wiegt zwischen 50 und 53 kg).
Der Kläger ist der Auffassung, dass bei einem BMI unter 18,5 regelmäßig eine verzehrende Krankheit vorliege, die einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Mehrernährung bedinge.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 17.09.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.01.2014 aufzuheben und dem Kläger einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, dass die amtsärztliche Stellungnahme vom 10. Januar 2014 der Bewilligung eines Mehrbedarfes entgegenstehe.
Im gerichtlichen Verfahren hat die Kammer einen Befundbericht des den Kläger behandelnden Hausarztes Dr. D. vom 17.06.2012 beigezogen, dem umfangreiche Arztbriefe betreffend der fachärztlichen Behandlungen des Klägers bzw. der Behandlungen des Klägers in Fachkliniken beigefügt waren. Aus diesen Unterlagen ist das durchgängige Bestehen eines BMI von ca. 16 beim Kläger zumindest in der Zeit ab 2013 erkennbar. Zum weiteren Inhalt der Befundunterlagen wird auf die zu den Akten genommenen Kopien der Arztbriefe Bezug genommen. Das Gericht hat am 25. August 2015 eine mündliche Verhandlung in der Angelegenheit durchgeführt, bezüglich deren Inhalt auf das Protokoll Bezug genommen wird.
Weiterer Gegenstand der Entscheidungsfindung neben dem Inhalt der mündlichen Verhandlung sind die Gerichtsakten sowie die vom Beklagten überreichten Verwaltungsvorgänge.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid vom 17. September 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2014 ist bezüglich der Nichtbewilligung von Mehrbedarfsleistungen gemäß § 21 SGB II rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Streitgegenstand dieses Verfahrens ist der Bewilligungsbescheid bezüglich der laufenden Leistungen nach dem SGB II des Klägers vom 17. September 2013. Im Rahmen der Beurteilung eines Anspruchs auf die Gewährung von Mehrbedarfen nach dem SGB II besteht kein isoliert abtrennbarer Teil der Regelungen über die Gewährung von laufenden Leistungen nach dem SGB II. Vielmehr kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der Mehrbedarf nicht isoliert Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein (BSG, Urteil vom 10. Mai 2011 - B 4 AS 100/10 R - ; Urteil vom 24. Februar 2011 - B 14 AS 49/10 R - jeweils zitiert nach ). Dementsprechend enthält der gesonderte Ablehnungsbescheid bezüglich der Gewährung des Mehrbedarfes vom 17. September 2013 durch den Beklagten keine über die Regelungen des Bescheides der laufenden Leistungsbewilligung hinausgehende eigene Regelung, sondern wiederholt die Nichtgewährung des begehrten Mehrbedarfs. Da dieser Bescheid damit eine wiederholende Verfügung darstellt, hat er keinen eigenen Regelungsgegenstand. Streitiger Leistungszeitraum ist folglich der Zeitraum von Oktober 2013 bis März 2014.
Der Änderungsbescheid vom 21. November 2013 ist nicht Gegenstand dieses gerichtlichen Verfahrens, da er bezüglich der hier streitigen Mehrbedarfsleistungen keine Regelungen trifft, sondern alleine eine Erhöhung der dem Kläger bewilligten Leistungen für die Bedarfe der Unterkunft und Heizung regelt. Diese Regelung der Unterkunftskosten ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG abtrennbar. In Bezug auf die Regelbedarfsleistungen handelt es sich in diesem Bescheid um eine wiederholende Verfügung.
Der streitige Bescheid vom 17. September 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2014 ist in Bezug auf die Nichtgewährung von Mehrbedarfsleistungen für kostenaufwändige Ernährung rechtswidrig und verletzt den Kläger insoweit in seinen Rechten. Der Kläger hat im streitigen Zeitraum einen Anspruch gegen den Beklagten auf Bewilligung von Leistungen aufgrund eines Mehrbedarfes für kostenaufwändige Ernährung gemäß § 21 Abs. 5 SGB II.
Die diesbezügliche maßgebliche Regelung des § 21 Abs. 5 SGB II lautet: "Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, erhalten einen Mehrbedarf in angemessener Höhe". Voraussetzung für einen Anspruch gemäß § 21 Abs. 5 SGB II ist damit eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die eine Ernährung erforderlich macht, deren Kosten höher sind, als dies für Personen ohne eine solche Einschränkung der Fall wäre. Es muss nach der gesetzlichen Regelung ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Notwendigkeit der kostenaufwändigen Ernährung bestehen (Behrend in jurisPK - SGB II, 4. Auflage 2015, § 21 Rn. 56 m.w.N.). Für das Bestehen einer entsprechenden Erkrankung geben die "Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe" Indizien, wobei aber im Einzelfall Ermittlungen des Gerichtes erforderlich sind (vgl. BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 - B 14 AS 49/10 R - zitiert nach ). Der Deutsche Verein hat am 10. Dezember 2014 die vierte neu erarbeite Auflage der Empfehlungen vorgelegt. Die Empfehlungen - wie bereits die 3. Auflage der Empfehlungen aus dem Jahre 2008 - führen aus, dass bei verzehrenden Erkrankungen und gestörter Nährstoffaufnahme bzw. Nährstoffverwertung im Einzelfall ein erhöhter Ernährungsbedarf vorliegen kann. Bei solchen Erkrankungen wäre jedoch im Regelfall "Vollkost" die allgemein empfohlene Ernährungsform, deren Kosten im Regelsatz nach dem SGB II enthalten sind. Ein krankheitsbedingter Mehrbedarf wird vom Deutschen Verein daher nur dann empfohlen, wenn schwere Verläufe oder besondere Umstände einer Erkrankung vorliegen. Regelbeispielhaft führt der Deutsche Verein dazu aus, dass von einem erhöhten Ernährungsbedarf ausgegangen werden kann, wenn der BMI unter 18,5 liegt und das Untergewicht Folge der Erkrankung ist.
Diese indiziellen Voraussetzungen nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins sind beim Kläger im streitigen Zeitraum erfüllt. Sein BMI liegt nachgewiesenermaßen durchgängig unter 18,5. Ebenso gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass dieses Untergewicht nicht durch die beim Kläger bestehende Fibromatose-Erkrankung verursacht wäre. Aus sämtlichen dem Gericht vorgelegten medizinischen Unterlagen sind keinerlei andere Ursachen für ein eventuelles Untergewicht erkennbar. Das Gericht erkennt daher, dass zwingend der niedrige BMI-Wert des Klägers durch seine Erkrankung bzw. Erkrankungen verursacht sein muss. Sein diesbezügliches Vorbringen ist überzeugend und schlüssig.
Der Beklagte hat weder im Verwaltungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren davon abweichende Nachweise bzw. auch nur substantiierte Einwendungen vorgelegt. Die Bezugnahme auf die formularmäßige einseitige Erklärung des Amtsarztes kann den dem Gericht vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht mit Erfolg entgegen gehalten werden. Bei dem zwar als Gutachten bezeichneten ärztlichen Schreiben vom 10. Januar 2014 handelt es sich nach Auffassung der Kammer gerade nicht um ein Gutachten. Vielmehr handelt es sich um eine unbegründete Meinungsäußerung eines Mediziners. Diese vermag nicht entkräftend den umfangreichen medizinischen Unterlagen des Arztes des Klägers und der behandelnden Fachkliniken entgegen gehalten zu werden. Es ist für die Kammer, um es noch einmal zu betonen, das Faktum des niedrigen BMI des Klägers nachgewiesen sowie ebenso, dass dieser niedrige BMI krankheitsbedingt ist. Selbst bei Annahme einer nicht zwingenden Kausalität der Fibromatose-Erkrankung für das Untergewicht gibt es keine Ansatzpunkte dafür, dass andere Ursachen des Untergewichts wie eine willentlich reduzierte Nahrungsaufnahme vorliegen. Ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass ausweislich Seite 10 der Empfehlungen des Deutschen Vereins ausdrücklich nicht nur bei den in diesen Empfehlungen genannten Erkrankungen eine verzehrende Erkrankung im Sinne der Empfehlung vorliegt. Es handelt sich vielmehr um eine offene Aufzählung.
Die Argumentation wird ebenfalls gestützt durch die Tatsache, dass der Kläger zumindest im streitigen Zeitraum unter Kostenträgerschaft seiner Krankenkasse besonders energetische Nahrung erhalten hat, um seinen Gewichtsverlust zu minimieren. Für eine solche Verordnung von besonders energetischer Nahrung unter Kostenträgerschaft der Krankenkasse gäbe es keinerlei Veranlassung wenn keine medizinischen Ursachen vorlägen. Zuguterletzt stellt die Kammer fest, dass zumindest nach Aktenlage die Äußerung des Mediziners vom 10. Januar 2014 nicht nach Untersuchung des Kläger erfolgt ist und nicht nach Einsichtnahme in den Kläger betreffende medizinische Unterlagen. Diese Einsichtnahme wäre aber als absolutes Minimum erforderlich, um den Gesundheitszustand des Klägers zu beurteilen. Ohne dass dies entscheidungserheblich ist, vermutet die Kammer nach Akteneinsicht auch, dass keine weiteren Akten existieren, in die der Mediziner Einsicht genommen haben könnte. Diesen Rückschluss zieht die Kammer daraus, dass jedenfalls in den ihr vorliegenden Akten keine Schweigepflichtentbindungserklärung des Klägers aufgenommen ist. Diese wäre zwingend erforderlich, um medizinische Unterlagen beizuziehen.
Bezüglich der durch den Beklagten zu bewilligen Höhe der Mehrbedarfszuschläge in Form der Krankenkostzulage orientiert sich die Kammer an den Empfehlungen des Deutschen Vereins. Nach diesen (Seite 12) ist bei konsumierenden Erkrankungen mit gestörter Nährstoffaufnahme bzw. Nährstoffverwertung ein Mehrbedarf in Höhe von 10 % der Regelbedarfsstufe I empfohlen. Im streitigen Zeitraum ist also ein Mehrbedarf von 38,20 EUR pro Monat zuzuerkennen. Abweichungen von dieser das Gericht nicht bindenden Empfehlung des Deutschen Vereins sind nach Akteninhalt und Vortrag der Beteiligten nicht gerechtfertigt. Insbesondere hat der Kläger keine Nachweise erbracht, dass ihm aufgrund seiner besonders energiereichen und umfänglichen Ernährung noch höhere Kosten entständen. Gleichermaßen hat der Beklagte nicht vorgetragen, geschweige denn nachgewiesen, dass geringere Kosten durch die kostenaufwändigere Ernährung entständen. Von daher war der im Tenor ausgewiesene Betrag von 6 x 38,20 EUR = 229,20 EUR zuzuerkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Kläger ist mit seinem Begehren in vollem Umfange durchgedrungen. Diese Einschätzung gewinnt das Gericht aus dem vom Kläger formulierten Antrag und der Begründung seines Begehrens. Ein höherer Mehrbedarf als 10 % der maßgeblichen Regelbedarfsstufe I ist vom Kläger nicht begehrt worden.